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Ein Tropfen Zeit

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Dieser Text wurde bereits 2019 verfasst. In Zeiten, in denen das Heizen aber geradezu eine hochpolitische Frage geworden ist, mag er vielleicht doch mal wieder eine kuriose Momentaufnahme bieten.   Die Heizung tropft. Es ist kalt draußen, sie läuft auf Hochtouren. Besonders in meiner Wohnung, die von einer bekennenden Frostbeule bewohnt wird. Und wie das so ist in Altbauten, mit diesen alten Rohren an diesen hohen Decken, ist der Heizvorgang mitunter ein recht lauter. Es tropft und tropft, gut hörbar. Oh, tagsüber bemerkt man es kaum: Da sind die Vorhänge offen, man sieht die Straße mit Menschen und Autos vor sich, hört Geräusche von draußen, und auch drinnen herrscht zuweilen Betriebsamkeit; oft läuft auch Musik. Aber wenn es dann so dunkel wird, wenn es schließlich Nacht wird, die Vorhänge geschlossen sind, es draußen und drinnen ruhig ist, und man selbst so dasitzt oder daliegt, dann nehmen die Tropfen plötzlich eine sehr dominante Rolle ein in der Kulisse des Wohnens. Andernorts s

Entdifferenzierung V: Kritische Stimmen – und eine höhere Messlatte

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In seinem Aufsatz „Funktionale Differenzierung der Gesellschaft und Prozesse der Entdifferenzierung“ hat Jürgen Gerhards (1993) den – überwiegend – plausiblen Versuch gemacht, zahlreiche bis dato getätigte und teils oben dargelegte Diagnosen von vermeintlich „moderner“ Entdifferenzierung zu widerlegen. Seine Argumentation in diesem Kontext ist auch für uns dementsprechend von Wert, da sie darauf hinausläuft, die Messlatte für derlei Diagnosen hoch anzulegen und eine gewisse Vorsicht beim soziologischen Beobachter zu erzeugen, der sich davor hüten muss, allzu schnell Entdifferenzierung auszumachen, wo eigentlich womöglich andere, von der klassischen Differenzierungstheorie gut fass- und beschreibbare Phänomene vorliegen. Gerhards weist mit Recht die Feststellung eines Zurückfahrens der Arbeitsteilung in der Industrie (vgl. Kern / Schumann 1984: 79ff.) als unzureichende Grundlage für die Diagnose einer Entdifferenzierung zurück, da dieses lediglich auf organisationssystemische Veränderun

Die neue Ausgabe der "Wir selbst"

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Die neue Ausgabe der Zeitschrift Wir selbst ist erschienen! Die zweite Druckausgabe in diesem Jahr widmet sich primär der Wiederkehr der Geopolitik anlässlich des Ukraine-Krieges und kann mit einer Vielzahl erhellender Beleuchtungen des Themas aufwarten, in vielen Artikeln auf einem hohen, wissenschaftlichen Niveau, mit dem nicht mehr viele heutige politische Zeitschriften in Deutschland "glänzen" können. Zum neuen Heft beigetragen haben kluge Köpfe wie u. a. Herbert Ammon, Felix Dirsch, Gerd Schultze-Rhonhof, Winfried Knörzer, Jens Woitas, Klaus Kunze und andere. Ich selbst habe den erstmals 2021 erschienenen Artikel "Menschenwürde und der Atomisierungstotalitarismus der Mitte" zum Heft beigesteuert - ein Text, der sich dem Leitthema des Heftes entzieht und keinen unmittelbaren geopolitischen Zusammenhang hat, der aber mittels rechtssoziologischer Argumentation die Doppelmoral der vermeintlichen "westlichen Wertegemeinschaft" plastisch vor Augen führt. N

Entdifferenzierung IV: Sozialevolutionäre Einordnung

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Über die Feststellung, dass es das Phänomen der Entdifferenzierung in der modernen Gesellschaft grundsätzlich gibt , ist man sich auch unter den Vertretern der Theorie funktionaler Differenzierung im Großen und Ganzen einig. Meinungsverschiedenheiten verlaufen insbesondere entlang der Frage, ob jenes Phänomen bzw. dadurch eben auch das der Differenzierung und der Systemautonomie konzeptionell gradualisierbar ist oder letztlich eine „Entweder-oder“-Unterscheidung. Auch erwachsen aus der Beobachtung von Entdifferenzierung verschiedene Bewertungen des analytischen Wertes der soziologischen Systemtheorie. Doch noch eine andere, auch für unser Thema hochrelevante Folgefrage tritt in Erscheinung: Wie sind Erscheinungen von Entdifferenzierung – zumal mitunter solche auf funktionssystemischer Ebene, wie wir sie hier thematisieren – eigentlich sozialevolutionär einzuordnen? Anders gefragt: Wie ist Entdifferenzierung zu verstehen im Rahmen einer soziologischen Theorie, die klar von einer gesells

Sozialer Wandel – Schicksal, Evolution oder beides?

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Vortrag bei der Herbsttagung des Bundes Deutscher Unitarier am 8. Oktober 2022 Wenn man einen Soziologen fragt, was es mit „Schicksal“ auf sich hat, so müsste dieser meines Erachtens zunächst einmal erwidern: Wessen? Um wessen Schicksal geht es? Reden wir über Personen (Mikro-Ebene)? Reden wir über Gruppen und Organisationen (Meso-Ebene)? Oder reden wir über ganze Gesellschaften und ihre Teilbereiche, wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst usw. (Makro-Ebene)? Denn all diese sozialen Systeme sind letztlich in der Lage, Entwicklung und sozialen Wandel zu erfahren, welcher dann letztlich – von ihnen oder ihrer sozialen Umwelt – als Schicksal rezipiert werden kann. Oder eben nicht. Und hier setzt die nächste Frage an, die ein Soziologe stellen muss, um „Schicksal“ zu charakterisieren: Was ist der Gegenbegriff? Ich kann nur wissen, was eine Sache genau ist, wenn ich weiß, was sie nicht ist. Wenn man von Schicksal redet, meint man zumeist so etwas wie (göttliche, gewissermaß

Entdifferenzierung III: Drei Ebenen der Entgrenzung

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Am Beispiel des Journalismus bzw. des Massenmediensystems hat Wiebke Loosen (2007) ein instruktives Modell entworfen, das – wiederum inspiriert durch andere (systemtheoretische) Beiträge zur Entdifferenzierung, auf die wir uns auch im Folgenden nochmal beziehen werden – drei verschiedene Ebenen der „Entgrenzung“, wie sie es formuliert, unterscheidet und darlegt. Ihr Fokus liegt dabei besonders auf der Frage, wie sehr und wodurch die gesellschaftliche Funktion des Journalismus durch funktionale Entdifferenzierung gefährdet wird (vgl. ebd.: 64). Dies wird uns im Folgenden nicht weiter beschäftigen. Instruktiv ist der Beitrag aber dennoch, da er das Phänomen der Entdifferenzierung auf eine Weise aufschlüsselt, die auch für die hiesige Fragestellung und insbesondere in Verbindung mit den von Schimank (2006) dargelegten Abstufungen fruchtbar gemacht werden kann. Die Begriffe „Entdifferenzierung“ und „Entgrenzung“, welche von Loosen in ihrem Beitrag beide verwendet werden, sind dabei nicht a