Ein Tropfen Zeit

Dieser Text wurde bereits 2019 verfasst. In Zeiten, in denen das Heizen aber geradezu eine hochpolitische Frage geworden ist, mag er vielleicht doch mal wieder eine kuriose Momentaufnahme bieten.
 
Die Heizung tropft. Es ist kalt draußen, sie läuft auf Hochtouren. Besonders in meiner Wohnung, die von einer bekennenden Frostbeule bewohnt wird. Und wie das so ist in Altbauten, mit diesen alten Rohren an diesen hohen Decken, ist der Heizvorgang mitunter ein recht lauter. Es tropft und tropft, gut hörbar. Oh, tagsüber bemerkt man es kaum: Da sind die Vorhänge offen, man sieht die Straße mit Menschen und Autos vor sich, hört Geräusche von draußen, und auch drinnen herrscht zuweilen Betriebsamkeit; oft läuft auch Musik. Aber wenn es dann so dunkel wird, wenn es schließlich Nacht wird, die Vorhänge geschlossen sind, es draußen und drinnen ruhig ist, und man selbst so dasitzt oder daliegt, dann nehmen die Tropfen plötzlich eine sehr dominante Rolle ein in der Kulisse des Wohnens.

Andernorts schrieb ich einmal über die Grille, die draußen in den Sommernächten von ruhigem Leben kündet. Auch das Tropfen der Heizung kündet in gewisser Weise von Leben. In erster Linie aber von den Notwendigkeiten des Lebens, und zwar des eigenen Lebens. Und es erinnert verdächtig an das Ticken einer Uhr, ist manchmal gar genauso regelmäßig. Ohne dass man dafür eine Uhr bräuchte, bedeutet das stetige Tropfen verstreichende Zeit. Tropf. Tropf. Wieder einige Sekunden dahin.

Unaufhaltsam geht es so. Das tropfende Wasser setzt eine Markierung der Vergänglichkeit. Jedes Mal, in dem ich den Tropfen fallen höre, vergehe ich ein bisschen mehr. In jeder dieser Sekunden, in denen das Wasser auf eine feste Oberfläche trifft und dabei Schallwellen produziert, erfahren meine Zellen eine Veränderung. Nichts steht still. Das fallende Wasser steht symbolhaft für die schneidende, erbarmungslos vergehende, ja erbarmungslos verschwindende Zeit. Jeder Tropfen, der fällt, bedeutet eine Sekunde weniger, die mir bleibt. Jeder fallende Tropfen macht die Zeit, die noch kommt, weniger selbstverständlich und damit kostbarer.

Und doch, trotz dieser wichtigen Erkenntnis, die dieser eigentlich so banale Vorgang vermittelt, ist er eben so quälend. Nein, nicht weil mir das stetige Geräusch auf die Nerven ginge – ich hatte als Kind eine sehr penetrante Kuckucksuhr, die alle anderen als nervig empfanden, die ich selbst aber geliebt habe. Das ist es also nicht – das halte ich aus. Nein, quälend daran ist die Bewusstwerdung des Vergänglichen. Quälend ist das Bewusstsein dafür, dass jeder gefallene Tropfen eine Sekunde ist, die man unwiderruflich verloren hat… die nicht zurückkehren wird. Niemals. Und man realisiert, dass dies eben nicht nur auf Sekunden zutrifft, sondern demnach genauso auf Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate… und Jahre.

Die fallenden Tropfen sind vorsichtige Ermahnungen, kleine Symbole für scheinbar banale Vorgänge, die in der Gesamtsicht nicht weniger bedeuten als Verlust, Vergangenheit, Unveränderbarkeit eines großen Teils des Lebens. Der stete Tropfen höhlt den Stein des Lebens, er ist die akustische Version des Zeigers der Uhr, der mir zeigt, was alles vorbei ist, was alles nicht mehr geht, was nie wieder sein wird. Mit der kalten Brutalität eines unaufhaltsamen Uhrwerks führt er mir vor Augen, was ich verloren habe und in diesem Moment weiter verliere. Unaufhörlich. Unaufhörlich werde ich mitgerissen im Strom der Zeit, der aus Millionen Tropfen besteht, der mich langsam, aber sicher an einen Endpunkt führt, an dem wir alle irgendwann ankommen werden. 
 
Plötzlich hört das Tropfen auf. Ich höre, hinter meinem Fenster, ein Auto über die einsame nächtliche Straße rauschen. Der akustische Sieg eines Menschen über den Tropfen Zeit – zumindest gerade, in diesem Moment, ohne dass dieser Mensch, der jetzt schon weit entfernt ist, von diesem Sieg weiß. Aber das spielt keine Rolle. Ich weiß davon. Das reicht mir. Und ich spüre: Er hat sie unterbrochen, diese quälende Routine, diese tropfende Regie meiner Gedankenwelt. Mein Kopf ist wieder frei. Ich vergehe nicht mehr. Ich lebe wieder.

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