Entdifferenzierung V: Kritische Stimmen – und eine höhere Messlatte

In seinem Aufsatz „Funktionale Differenzierung der Gesellschaft und Prozesse der Entdifferenzierung“ hat Jürgen Gerhards (1993) den – überwiegend – plausiblen Versuch gemacht, zahlreiche bis dato getätigte und teils oben dargelegte Diagnosen von vermeintlich „moderner“ Entdifferenzierung zu widerlegen. Seine Argumentation in diesem Kontext ist auch für uns dementsprechend von Wert, da sie darauf hinausläuft, die Messlatte für derlei Diagnosen hoch anzulegen und eine gewisse Vorsicht beim soziologischen Beobachter zu erzeugen, der sich davor hüten muss, allzu schnell Entdifferenzierung auszumachen, wo eigentlich womöglich andere, von der klassischen Differenzierungstheorie gut fass- und beschreibbare Phänomene vorliegen.

Gerhards weist mit Recht die Feststellung eines Zurückfahrens der Arbeitsteilung in der Industrie (vgl. Kern / Schumann 1984: 79ff.) als unzureichende Grundlage für die Diagnose einer Entdifferenzierung zurück, da dieses lediglich auf organisationssystemische Veränderungen hinweist, aber nicht die ökonomische Handlungslogik außer Kraft setzt – im Gegenteil markiert sie wohl eher gerade deren fortwährende Geltung, da Gewinnorientierung auch zu Veränderungen im Produktionsprozess führt (vgl. Gerhards 1993: 272f.). In ähnlicher Weise argumentiert er gegen Edward A. Tiryakian (1985), der funktionale Differenzierung „im Anschluß an Durkheim und Parsons (…) in erster Linie als Rollendifferenzierung [interpretiert], als ein Gefüge von Spezialisierungen von Personen auf bestimmte Tätigkeiten“ (Gerhards 1993: 273). Aus einer solchen Sichtweise heraus ist es dann logischerweise folgerichtig, auch im modernen gesellschaftlichen Normalzustand entdifferenzierte Sphären auszumachen, in denen – etwa bei religiösen Ritualen oder nationalen Feierlichkeiten mit entsprechender Symbolik – Berufsrollen diffus werden und damit (in Tiryakians Sinne) Entdifferenzierung vorherrscht (vgl. Gerhards 1993: 273). Eine solche Einschätzung ist jedoch nur mit einer – aus dem systemtheoretischen Verständnis heraus – sehr verengten Perspektive auf Differenzierung haltbar, die mit Luhmanns Theorie wenig zu tun hat.

Interessanter wird es, wo Gerhards sich einem Beitrag von Peter Weingart (1983) zuwendet, welcher nicht nur eine „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“, sondern zugleich gar eine „Politisierung der Wissenschaft“ ausmacht – in der modernen Gesellschaft: „Mit der Infragestellung der Legitimität des Wahrheitsanspruchs der Wissenschaft unterliegt der Diskurs den Gesetzen der Politik“ (Weingart 1983: 238). Dieser Vorgang zeige sich in einem Verlust professioneller Selbstregulierung der Wissenschaft und in einer Zunahme von Fremdregulierung, was zu einer Ausdehnung von politischen und wertebasierten Diskursen in die Wissenschaft hinein führe (vgl. Weingart 1983: 227, 238; Gerhards 1993: 274). Gerhards bewertet derlei Entwicklungen jedoch nicht als Entdifferenzierung, sondern stellt stattdessen Umstrukturierungen von Leistungsbeziehungen zwischen Systemen fest (vgl. Gerhards 1993: 274). Zur Unterfütterung führt er – aus unserer Sicht abermals nicht unberechtigt – weitere Beispiele für derartige Veränderungen an: „Das Recht limitiert durch ein neues Emissionswertegesetz die Möglichkeiten ökonomischer Produktion, die Politik begrenzt mit einer Gesundheitsreform den Ausbau des Krankenhauswesens, die ökonomische und medizinische Handlungsrationalität bleibt aber davon jeweils unberührt. Erst wenn die Selbstreferentialität der Teilsysteme durch andere Handlungsorientierungen durchzogen würde, könnte man sinnvoll von Entdifferenzierung sprechen“ (Gerhards 1993: 275). Zwar birgt der (zu enge) Begriff der „Handlungsorientierung“ neue theoriebezogene Problemstellungen an sich, jedoch können wir uns dem inhaltlichen Sinn dieser Schlussfolgerung grundsätzlich anschließen.

Dies gilt umso mehr, als dass Gerhards im weiteren Verlauf seines Beitrags durchaus auch tatsächliche Bestrebungen zur Entdifferenzierung ausmacht – und zwar bei den neuen sozialen Bewegungen, welche etwa über das Ziel direkt-demokratischer Partizipation die strikte Differenz zwischen Leistungs- und Publikumsrollen im politischen System aufheben wollen und damit eine Art systeminterne Binnenentdifferenzierung anstreben (vgl. ebd.: 275). Im Falle von vielerlei sozialen bzw. Protestbewegungen lassen sich derartige Formen von, mit Loosen (2007: 69) gesprochen, struktureller Entdifferenzierung ausmachen – aber auch durchaus der Anspruch weitergehender, funktionaler, also zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen stattfindender Entdifferenzierung, ja sogar Politisierung (man denke hier vor allem an den Slogan „Auch das Private ist politisch“ der 68er-Studentenbewegung). Der Nationalsozialismus, der – zumindest in Zeiten der Weimarer Republik – auch als eine Protestbewegung gewertet werden kann, bildet jedenfalls in diesem letztgenannten Fall keine Ausnahme, auch wenn hier gewiss nicht von struktureller Entdifferenzierung im Sinne einer Forderung nach Aufhebung von Leistungs- und Publikumsrolle im politischen System die Rede sein kann, sondern ihm eher die Forderung nach einer (antidemokratisch ausgerichteten) Verschärfung dieser Differenz zugeschrieben werden muss (im Sinne eines „Einfrierens“ dieser Unterscheidung, ohne die Möglichkeit zur politischen Fluktuation). Im Falle der neuen sozialen Bewegungen allerdings wirft Gerhards – abermals zu Recht – die Frage auf, ob deren Anspruch sich nicht irgendwann den code-bedingten Rationalitäten des politischen Systems unterordnen muss (vgl. ebd.: 277), wie ja auch die Entwicklung etwa der Partei Bündnis 90 / Die Grünen und die anderer politischer Akteure seitdem gezeigt hat.

Auch Buß‘ und Schöps‘ (1979) im letzten Teil dieser Reihe vorgestellten Aufsatz greift Gerhards auf und kommt dabei zu einer Bewertung, die im Wesentlichen der von uns oben getätigten entspricht: Auch im Falle von darin genannten, vermeintlichen Beispielen für Entdifferenzierung müsse letztlich eher von veränderten Leistungsbeziehungen zwischen Teilsystemen die Rede sein (vgl. Gerhards 1993: 275; Fn. 12).

Insgesamt nimmt Gerhards Beitrag innerhalb der systemtheoretischen Debatte über das Konzept der Entdifferenzierung insoweit eine wichtige Rolle ein, als dass er die Messlatte für die Frage, ab wann de facto von (funktionaler) Entdifferenzierung die Rede sein kann, deutlich höher ansetzt als die Autoren anderer, voriger Beiträge zu dem Thema. Er trägt damit dazu bei, gewissermaßen einer (tendenziell eher schädlichen, weil „analytisch wertmindernden“) Inflation von – möglicherweise sehr reißerisch auftretenden – Diagnosen vorzubeugen, im Zuge derer jeder punktuelle „Defekt“ im Verhältnis zwischen oder in sozialen Systemen oder gar Phänomene, die systemtheoretisch auch weiterhin gut mit dem Konzept der strukturellen Kopplung zu fassen sind, zur „Entdifferenzierung“ mutiert, was zugleich eine Art Relativierung dieses Phänomens bedeuten würde. Zugleich verwirft Gerhards den Begriff jedoch nicht vollends, sondern betont ausdrücklich die grundsätzliche Möglichkeit von Entdifferenzierung – auch wenn sie für ihn eine unwahrscheinlichere Entwicklung darstellt: Sie meint für ihn „den Einbau systemischer Fremdrationalitäten in die vormals selbstreferenziell geschlossene Operationsweise ausdifferenzierter Kommunikationssysteme. Erst wenn sich auf der Ebene der systemischen Sinnrationalitäten eine Vermischung von Orientierungsmustern ereignet, kann man von Entdifferenzierung sprechen“ (ebd.: 277). Dieser Definition können wir uns weitestgehend anschließen – unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass im Falle einer graduellen Vorstellung von Selbstreferenz, wie wir sie hier vertreten, streng genommen bei Entdifferenzierung nicht zwingend von einer „vormaligen“ selbstreferenziell geschlossenen Operationsweise ausdifferenzierter Kommunikationssysteme die Rede sein kann (s. o.), sondern eher von einer Art „Primat der Selbstreferenz“, also einer zumindest grundsätzlichen Vorrangstellung. Grundsätzlich aber gibt der Gerhards‘ Aufsatz dieser Arbeit und den folgenden analytischen Schritten aber eine wichtige Kriterien-Anforderung mit auf den Weg, die zur Verhinderung von zu viel „Leichtfertigkeit“ in ihren Feststellungen beiträgt.



Literatur

Buß, Eugen / Schöps, Martina (1979). Die gesellschaftliche Entdifferenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie, 8. Jg., S. 315-329.

Gerhards, Jürgen (1993). Funktionale Differenzierung der Gesellschaft und Prozesse der Entdifferenzierung. In: Hans Rudi Fischer (Hrsg.), Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik (2., korr. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer-Verlag. S. 263-280.

Kern, Horst / Schumann, Michael (1984). Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion. München: Verlag C. H. Beck. 
 
Loosen, Wiebke (2007). Entgrenzung des Journalismus: empirische Evidenzen ohne theoretische Basis? In: Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Heft 1 / März 2007, 52. Jg., S. 63-79.
 
Tiryakian, Edward A. (1985). On the significance of de-differentiation. In: S. N. Eisenstadt / Horst Jurgen Helle (Hrsg.), Macro-sociological Theory. Perspectives on Sociological Theory, Vol. 1. London: Sage.

Weingart, Peter (1983). Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft. In: Zeitschrift für Soziologie, 12. Jg., Heft 3. S. 225-241.

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