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1945: Schnelljustiz, Standgerichte und Entkernung des Rechts

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Das Systemverhältnis von Politik und Recht im Dritten Reich und die Frage nach gesellschaftsstrukturellen Veränderungsprozessen und funktionaler Entdifferenzierung im Deutschland jener Zeit ist nicht umfassend zu beantworten, wenn nicht die besondere Situation des Jahres 1945 und insbesondere der letzten Kriegsmonate und -wochen entsprechend gesondert analysiert und beurteilt wird. Für jene Zeit nämlich können die zuvor getätigten Erörterungen kaum in der Form Geltung beanspruchen – weder jene für die Jahre vor Kriegsbeginn, noch jene für die deutsche Zivilbevölkerung insgesamt immer noch weniger einschneidenden Kriegsjahre ab 1939 bis 1944. Im Zuge des stetigen Voranschreitens der Alliierten und des ebenso stetigen Wegbrechens des von Nationalsozialisten beherrschten Territoriums, im Zuge der sich dann in der Zivilbevölkerung trotz anderslautender NS-Propaganda immer weiter verbreitenden Erkenntnis, dass der Krieg für Deutschland verloren sein würde und eine Niederlage unausweichlich

Neues "Wir selbst"-Heft erschienen!

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Im Lindenbaum-Verlag ist jüngst ein neues Heft der Zeitschrift Wir selbst erschienen, zu dem auch ich wieder meinen Beitrag habe leisten dürfen. Unter der Überschrift "Globales Denken als lokaler Ruin - Selbstbehauptung erfordert Selbstbegrenzung" widmen sich verschiedene Autoren verschiedenen Themen: Dem Titelthema widmet sich Prof. Dr. Heinz Theisen; Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof geht in spannender Form der Frage nach, wie eine deutsche Friedensinitiative für die Ukraine ausgestaltet sein könnte. Priv.-Doz. Dr. Ulrich Vosgerau - Teilnehmer des berühmt gewordenen Treffens von Potsdam - zeigt anhand seines Beispiels auf, dass das Grundrechtssystem der BRD nicht mehr funktioniert. Dr. Christian Böttger widmet sich dem historischen Thema der Christianisierung Europas. Wir-selbst -Koryphäe Herbert Ammon hat ein Porträt Dietrich Bonhoeffers zum Magazin beigetragen. Dr. Jens Woitas charakterisiert das "deutsche Wesen". Ich selbst habe angesichts des Nahost-Kr

Rechtsprechung im Nationalsozialismus (III)

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Auch „in der Terminologie der Verfassungsrechtler als ‚diktaturfest‘ bezeichnet[e]“ (Fraenkel 1984: 40) Grundrechte wurden bereits frühzeitig außer Kraft gesetzt – und dies nicht durch Gesetzgebung, sondern durch Gerichtsurteile. Die Urteilsbegründungen, mittels derer die betreffenden Gerichte derlei tiefe – und durch und durch politische! – Einschnitte kollektiv verbindlich machten, sind dabei bemerkenswert. Fraenkel führt dabei einen Präzedenzfall an, der zugleich ein nicht minder interessantes sozialstrukturelles Dreiecksverhältnis zwischen dem politischen System, dem Rechtssystem und dem Religionssystem beinhaltet und mit dem nicht weniger als das Grundrecht auf Religionsfreiheit außer Kraft gesetzt wurde: So hatten die Zeugen Jehovas, zur damaligen Zeit auch oftmals noch als Ernste Bibelforscher bezeichnet, zwar vor dem Sondergericht Darmstadt 1934 einen Erfolg errungen, als dieses unter Verweis auf die Religionsfreiheit gemäß Weimarer Verfassung das Verbot, das sich auf die Reic

Der Gipfel der Unprofessionalität

Schreiben an den AfD-Bundesvorstand vom 23.05.2024  Sehr geehrte Mitglieder des Bundesvorstandes, man kann kritisieren, dass der Spitzenkandidat einer deutschen rechten Partei sich inmitten der heißen Wahlkampfphase zum Tretminen-Thema äußert - zumal man damit auch anders umgehen kann, also etwa in der Reaktion auf die Meta-Ebene gehen kann und seinem journalistischen Gegenüber vorhalten kann, wieso es dieses Thema jetzt überhaupt anspricht (der Grund liegt ja auf der Hand). Habe ich selbst schon in Interviews so gemacht und hinterher gab es keine skandalisierbaren Äußerungen. Man kann über das Thema reden und schreiben, ohne Skandale zu erzeugen (in meinem Fall: Mit "cum laude" bewertete Doktorarbeit in Buchlänge) und muss es nicht scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Aber man sollte wissen, wann, wo und in welchem Rahmen man das tut und wann es (auch strategisch) falsch ist, das zu tun. Dieser strategische Fehler ist aber nicht ansatzweise (!) so gravierend,

Rechtsprechung im Nationalsozialismus (II)

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Einen beeindruckenden Nachweis für die These der verstärkten (politisierenden) Entdifferenzierung durch kriegsgesellschaftliche Dynamiken liefern die beträchtliche Fülle von strafrechtlichen Neuregelungen und Verschärfungen ab 1939 (welche teilweise aber schon im Jahr zuvor vorbereitet worden waren) und die Konsequenzen, die dies auch für die Gerichtsverfassung der Folgejahre bis 1945 hatte. Mit der Schaffung eines Kriegssonderstrafrechts durch KSSVO und KStVO, mit der VVO und zusätzlichen Verschärfungen wie beispielsweise der nicht minder berüchtigten „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ vom 1. September 1939, welche das Hören von „Feindsendern“ unter Strafe stellte, ergab sich quasi automatisch ein Bedarf nach einer organisationalen Anpassung und Erweiterung, um die neue, höhere Anzahl an (Sonder-)Strafverfahren bewältigen zu können, was etwa in der „Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege“ vom 1. September 1939 resultierte