Entdifferenzierung IV: Sozialevolutionäre Einordnung

Über die Feststellung, dass es das Phänomen der Entdifferenzierung in der modernen Gesellschaft grundsätzlich gibt, ist man sich auch unter den Vertretern der Theorie funktionaler Differenzierung im Großen und Ganzen einig. Meinungsverschiedenheiten verlaufen insbesondere entlang der Frage, ob jenes Phänomen bzw. dadurch eben auch das der Differenzierung und der Systemautonomie konzeptionell gradualisierbar ist oder letztlich eine „Entweder-oder“-Unterscheidung. Auch erwachsen aus der Beobachtung von Entdifferenzierung verschiedene Bewertungen des analytischen Wertes der soziologischen Systemtheorie. Doch noch eine andere, auch für unser Thema hochrelevante Folgefrage tritt in Erscheinung: Wie sind Erscheinungen von Entdifferenzierung – zumal mitunter solche auf funktionssystemischer Ebene, wie wir sie hier thematisieren – eigentlich sozialevolutionär einzuordnen? Anders gefragt: Wie ist Entdifferenzierung zu verstehen im Rahmen einer soziologischen Theorie, die klar von einer gesellschaftlichen Evolution von segmentär über stratifikatorisch bis hin zu funktional differenzierter Gesellschaft ausgeht? Ist (funktionale) Entdifferenzierung in diesem Rahmen ein Rückschritt, eine temporäre Krise? Oder kann sie auch als schlicht andere evolutionäre Ausprägung gesehen werden, als quasi fast unvermeidliche Parallelerscheinung zur Differenzierung? Auch die Tatsache, dass angesichts des Fehlens demokratisch-rechtsstaatlicher Strukturen in weiten Teilen unseres Planeten durchaus begründet bezweifelt werden kann, dass sich funktionale Differenzierung bereits vollends global verbreitet hat (bzw. verbreiten wird), führt unweigerlich zu der Frage, wie das hier thematisierte Spannungsfeld aus einer soziologisch-evolutionstheoretischen Sicht heraus eigentlich zu bewerten ist. Mehrere Autoren, die Beiträge zum Komplex Entdifferenzierung erbracht haben, machen hierzu Vorschläge, welche wir im Folgenden anreißen wollen.

Einen der interessantesten und zugleich kritischsten Beiträge hierzu lieferten Eugen Buß und Martina Schöps (1979), welche in ihrem Aufsatz in der Systemtheorie davor, danach und in weiten Teilen bis heute gängige Gleichsetzung funktionaler Ausdifferenzierungsprozesse mit der gesellschaftlichen Evolution kritisierten: „Es entsteht der Eindruck, als entspreche jede weitere soziale Evolutionsstufe einem höheren Ausdifferenzierungsstatus der Gesellschaft. Dieses ist jedoch nicht der Fall. Die Annahme, die Ausdifferenzierung verlaufe quasi irreversibel oder evolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft seien zumeist differenzierende Prozesse, ist sicherlich falsch“ (Buß / Schöps 1979: 316). Daraus ließe sich zwar die Kritik folgern, dass Theorien der modernen Gesellschaft auch devolutionäre Prozesse abbilden, beschreiben und erklären müsse (gewissermaßen unter der Prämisse, dass Entdifferenzierung eine eben solche Devolution, also Rückentwicklung darstellt), was die Systemtheorie aber nicht zur Genüge leiste. Buß und Schöps gehen jedoch einen anderen Weg und postulieren die These, dass Entdifferenzierung auch ausdrücklich ein evolutiver Prozess sein kann, was allerdings durch die Differenzierungstheorie ebenfalls nicht zur Genüge erklärt und beschrieben werden könne (vgl. ebd.: 317).

Dass die von Luhmann geprägte Differenzierungstheorie dies im Sinne von Buß und Schöps nicht tut, verwundert nicht, da die beiden Autoren eine gänzlich andere Stoßrichtung aufmachen, die nicht zwingend eine „Diffusionstheorie“ (wie beispielsweise der soziologische Neo-Institutionalismus) darstellt, durchaus aber Entdifferenzierung als evolutionär gleichrangig mit Differenzierung begreift. Demnach übernehmen „gesellschaftliche Teilbereiche (…) ursächliche Fremdfunktionen, um dadurch Unvereinbarkeiten zwischen kontrastierenden Zielen einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme zu reduzieren und die Koordinationsanstrengungen der Gesellschaft zu entlasten“ (ebd.: 317). Damit verneinen die Autoren nicht nur die These, dass Entdifferenzierung auf Devolution hindeute, sondern auch jene, diese als einen „revolutiven Sprung [ansieht], mit dem die Komplexität moderner Gesellschaften überwunden wird. (…) Die Entdifferenzierung bildet eine evolutive Phase, in der bestimmte Ausdifferenzierungsprozesse einen qualitativen Umschlag erleben in der Weise, daß über die Koordination von Funktionen hinaus neue systemfremde Funktionen in das eigene systemspezifische Bezugsfeld eines gesellschaftlichen Teilbereiches eingebunden werden" (ebd.: 317). Die Autoren diagnostizieren daher evolutions- und strukturtheoretisch eine Art Dreiklang bestehend aus undifferenzierten, ausdifferenzierten und eben entdifferenzierten Gesellschaften bzw. Gesellschaftsbereichen (vgl. ebd.: 317). Ohne es bereits im spezifisch systemtheorieeigenen Vokabular zu formulieren, definieren die Autoren den Begriff der Entdifferenzierung letztlich als eine klare Aufweichung bzw. Durchbrechung der Grenzen von Funktionssystemen: Er beschreibt demnach „die Wirkungsweise von Prinzipien, die von einem Teilsystem direkt in die Binnensphäre eines anderen gesellschaftlichen Teilbereiches eingreifen und dort normative Geltung erhalten“ (ebd.: 318). Damit ist letztlich auch jene systemautonomieeinschränkende „Übernahme“, jener „Code-Imperialismus“ bezeichnet, von dem etwa auch Uwe Schimank (2006: 79) spricht.

Was Buß und Schöps unter „undifferenzierte“ Gesellschaftsformen fassen, ist in der klassischen Systemtheorie als segmentär differenzierte Gesellschaft bezeichnet (vgl. Buß / Schöps 1979: 320f.). Mit ihrer Perspektive auf „ausdifferenzierte“ Gesellschaftsformen folgen die beiden Autoren im Wesentlichen der Theorie der funktionalen Differenzierung der komplexitätsgesteigerten modernen Gesellschaft, wobei sie auch die Binnendifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme in den Blick nehmen (vgl. ebd.: 321f.). Der Ansatz von Buß und Schöps ist im Rahmen der hier präsentierten Konzepte zur Entdifferenzierung insofern der weitreichendste, als dass er den Boden der Systemtheorie teilweise spürbar verlässt, denn: Es „stellt letztlich den expliziten Systemcharakter gesellschaftlicher Teilbereiche insoweit in Frage, als die sozialen Einheiten nicht mehr nur nach Maßgabe der regulativen Autonomie, Kompatibilität und funktionellen Interdependenz zu untersuchen sind, sondern auch nach Gesichtspunkten funktionellen Verflechtung und strukturellen Assimilation“ (ebd.: 323). Bewusst ist im Rahmen des Konzeptes also von „Teilbereichen“ anstatt von „Teilsystemen“ der Gesellschaft die Rede.

Analog zur Trilogie gesellschaftlicher Evolution bei Luhmann ist das von Buß und Schöps vorgeschlagene Konzept ein Dreiphasenmodell, in dem die Entdifferenzierung gewissermaßen den „jüngsten Schritt“ darstellt, der sich an die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche anschließt und nach deren expliziter Abgrenzung voneinander nun wieder deren zunehmende Verflechtung miteinander einleitet, dabei auch eine Art funktionale Diffusion bewirkt: Von den gesellschaftlichen Teilsphären werden aus den Außenbereichen zunehmend Funktionen, Normen, Rollenerwartungen und Themen übernommen (vgl. ebd.: 323f.). Hier tritt aus der Sicht der Autoren also zwar das ein, was bei Schimank (2006) unter „Übernahmen“ lief, jedoch unter Verzicht auf eine negative Beurteilung dessen als „feindlich“ – vielmehr gilt den Autoren der Vorgang als Ausdruck eines normalen, im Grunde zu erwartenden sozialevolutionären Prozesses, der sich auch in der heutigen, modernen Gesellschaft – inmitten westlicher liberal-demokratischer Staaten – niederschlägt.

Beispielhaft und zur Unterfütterung ihrer Thesen machen Buß und Schöps u. a. eine „Entbürokratisierung der Bürokratie, eine Entökonomisierung der Wirtschaft usw.“ (ebd.: 325) aus, was an der Tatsache festgemacht wird, dass Bürokratien zunehmend auch Interessen beispielsweise der Familie in ihre Planungsmaßnahmen mit einbezögen und Unternehmen in „Sozialbilanzen“ ihre Wirkung und ihre Funktionen mit Blick auf soziale Erfordernisse reflektierten (manche würden letzteres Beispiel womöglich auch durch eine Heranziehung der Institution der „Corporate Social Responsibility“ erweitern) (vgl. ebd.: 323ff.).

Aus heutiger Perspektive, über vier Jahrzehnte nach Publikation des Beitrages, vor allem aber vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung der Systemtheorie durch Luhmann selbst in den Jahren danach, wirkt diese Argumentation eher dürftig. Demnach würde es durchaus nicht der klassischen Theorie funktionaler Differenzierung widersprechen zu erkennen, dass Verwaltungsbürokratien externe Erwägungen mit in ihre Planungen aufnehmen und Wirtschaftsunternehmen innere Reflexionsinstrumente in ihre Abläufe einbauen, um ihre Außenwirkung in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Letztlich sind beide Phänomene durch das jüngere systemtheoretische Teilkonzept der strukturellen Kopplung sowie im Falle der Verwaltungsbürokratie zusätzlich auch durch das des informellen Machtkreislaufs fassbar: Im Rahmen des letzteren übt das Publikum über die Verwaltung informelle Macht aus, indem es sich im „Amtszimmer“, aber eben etwa auch über Bürgerinitiativen, Proteste etc. bei dieser Gehör verschaffen kann, was letztere zunehmend dazu veranlasst, Erwägungen „des Bürgers“ in ihre Handlungen und Planungen miteinzubeziehen. Zugleich beobachtet das politische System die Familie, ebenso wie das Wirtschaftssystem die Politik und die Massenmedien beobachtet, anhand dessen Imagepflege gestaltet und somit Gewinnchancen tendenziell verbessert. Letztlich handelt es sich aber bei all diesen Vorgängen um Beobachtungs- und Irritationsleistungen, die sich im Zustand hundertprozentiger Systemautonomie vollziehen können. Hinzu kommt – dies allerdings war zum Zeitpunkt der Publikation des Buß/Schöps-Aufsatzes (1979) schon Teil von Luhmanns Systemtheorie (vgl. Luhmann 2005) – die Unterscheidung verschiedener System-Ebenen, die es im Falle beider Beispiele ermöglicht, die „Entdifferenzierungen“, die darin vermeintlich zu Tage treten, durch Vorgänge auf der Meso-Ebene der Organisationssysteme zu erklären, die noch längst nicht auf Entdifferenzierung auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene hindeuten müssen. Gleiches gilt auch für den Fehler, aus einer Entdifferenzierung auf der Mikro-Ebene (!) individueller Rollenerwartungen (die sich innerhalb der Systemtheorie schließlich auf der Ebene der Interaktionssysteme und gegebenenfalls der Gruppensysteme, nicht aber auf der der Gesellschaft abspielen) sogleich ein Indiz für eine gesamtgesellschaftliche Entdifferenzierung abzuleiten. Gerade an diesem Punkt zeigt sich erneut der Wert einer inter- und innerdisziplinären Mehrebenen-Unterscheidung, die einen multiperspektivischen Blick ermöglicht und zur Vermeidung von Fehlschlüssen beiträgt (vgl. Sander 2017). Die Problematik zeigt – im Zuge einer Art Meta-Betrachtung – auf, welche „Versuchungen“ und daraus generierte Fallstrickte das Ansinnen, Entdifferenzierung fass- und sichtbar zu machen, mit sich bringt. Es gilt, sich vor dem für die Soziologie und verwandte Disziplinen nicht untypischen Phänomen des Tunnelblicks zu hüten, im Zuge dessen der wissenschaftliche Beobachter schließlich überall, wo er hinsieht, nur noch das von ihm theoretisch postulierte Phänomen sieht. Wir halten daher für unsere weitere Arbeit fest: Nicht überall dort, wo man Entdifferenzierung ausmachen könnte, ist auch im makrosoziologischen, also gesellschaftstheoretischen Sinne tatsächlich Entdifferenzierung.

Auch in einem anderen Punkt machen die Autoren jedoch Entdifferenzierung aus. An der Entstehung und der immer höheren gesellschaftlichen Relevanz von Öffentlichkeit machen Buß und Schöps (1979: 325ff.) fest, dass Funktionssysteme gewissermaßen immer mehr „unter Kontrolle“ stünden und dadurch langfristig von rein selbstreferenziellen Erwägungen gelöst würden. Stattdessen würde zunehmend die soziale Umwelt auf die (potenzielle) Öffentlichkeit hin beobachtet, wodurch Fremdreferenz entstünde, etwa im Falle von sozialen oder ökologischen Image-Erwägungen in der Wirtschaft, in die plötzlich „öffentliches Interesse“ mit hineinspiele (vgl. ebd.: 326). Derlei Beispiele demonstrieren aus Sicht der Autoren, dass „sich die ausdifferenzierungstypische Konzentrierung der Teilsysteme auf spezifische Interaktionsstile und Funktionsarten allmählich in ihr Gegenteil wendet und sich gegenüber externen sozialen Kontrollmechanismen öffnet. Dadurch erweitern sich die Chancen, auf die Steuerung der Binnenprozesse von außen einzuwirken und zu einem unspezifischen Interaktionsstil beizutragen“ (ebd.: 326).

Auch in dieser Frage ist ein kritischer Blick auf die theoretische Fundierung der beschriebenen Diagnosen besonders notwendig. Denn auch hier fällt die fehlende Unterscheidung zwischen Systemebenen auf: Gesellschafts-, Organisations- und Interaktionsebene werden vermischt. Auch im klassisch-system- und differenzierungstheoretischen Sinne würde eigentlich schwerlich bestritten werden können, dass ein Interaktionsstil vollkommen unspezifisch, also losgelöst von jeder gesellschaftlichen Funktionslogik sein kann – eben, weil Interaktionssysteme nicht zwingend klar einem einzigen Funktionssystem zuzuordnen sind (man stelle sich bloß einmal exemplarisch eine politische Diskussion im Wartezimmer eines Arztes vor). Diese Erkenntnis gewinnt jedoch nur, wer strikt zwischen Makro-, Meso- und Mikro-Ebene unterscheidet. Dass dies hier nicht erfolgt ist, macht den Ansatz in Hinblick auf Anschlussfähigkeit an systemtheoretische Diskurse defizitär. Diese Feststellung kann zugleich allerdings nicht bedeuten, dass Thesen über Entdifferenzierungen, die speziell an das Massenmediensystem und dessen Auswirkungen auf die moderne Gesellschaft gekoppelt sind, aus dem systemtheoretischen Blick genommen werden. So ließe sich bei allzu starken politisch-medialen oder auch wirtschaftlich-medialen Verquickungen durchaus noch stellenweise vorhandenen Entdifferenzierungen fragen, ebenso wie die teils meinungsprägende Rolle von Massenmedien die Forschungsfrage anregen könnte, ob man es hier nicht stückweise mit einem „Primat der Massenmedien“ zu tun hat. Diese Frage wird in dieser Arbeit nicht geklärt werden können.

Grundsätzlich ließe sich aber eben auch die zweifellos wichtige Rolle der Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Meinung in der modernen Gesellschaft mit der bestehenden Systemtheorie erklären, die diese als Form der strukturellen Kopplung, vor allem zwischen Massenmedien und Politik behandelt. Hier raus jedoch sogleich eine Entdifferenzierung im Sinne einer Einschränkung oder gar Aufgabe der Selbstreferenz von Funktionssystemen zu folgern, scheint überzogen. Bleiben wir bei dem von Buß und Schöps u. a. gewählten Beispiel, der Wirtschaft: Auch Image-Erwägungen und das Einkalkulieren der öffentlichen Meinung bei Unternehmensentscheidungen – also nicht nur auf funktions-, sondern sogar auch auf organisationssystemischer Ebene – entspringen den Motiven der Profitmehrung und damit der Unterscheidung von Gewinn und Verlust, also dem wirtschaftlichen Code. Es ist insofern zu bezweifeln, ob angesichts dessen bereits eine Entdifferenzierung diagnostiziert werden kann.

Die Ursachen für Prozesse der Entdifferenzierung – und an diesem Punkt gelangen wir wieder zu den plausibleren Grundgedanken des Ansatzes, welche für unser Thema von größerem Interesse sind und aufgrund derer wir selbigen hier darstellen – machen die Autoren fest an den Folgen gestiegener gesellschaftlicher Komplexität und Kontingenz: „Aus der organisatorischen Überlastung, Funktionsketten in die Gesamtgesellschaft zu integrieren, aus Entfremdungserscheinungen, die von hochbürokratisierten Teilbereichen herrühren, aus einer Art partieller Massenfrustration, angesichts der individuellen Ohnmacht vor den unüberschaubaren Strukturen (…), und letztlich aus dem gesellschaftlichen Sinnentzug, der mit dem Maße der Ausdifferenzierung und Komplexität zu korrespondieren scheint, resultiert der prinzipiell neuartige Plausibilitätsverlust traditionell gewachsener Gesellschaftsformen. Es ist naheliegend, daß eine solche Entwicklung veränderte Motivationskonstellationen schafft, die auf eine Rückkehr zu überschaubaren und organisatorischen Handlungsweisen zielt“ (ebd.: 327). Mit diesem konkludierenden Zitat ist – vermutlich, ohne speziell darauf abzuzielen – im Wesentlichen der Zustand der deutschen Gesellschaft zu Zeiten der Weimarer Republik, aber auch schon in den Jahrzehnten zuvor, beschrieben, in denen angesichts von Industrialisierung, Technisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung, Liberalisierung, Urbanisierung und eben später des Hinzukommens einer globalen Wirtschaftskrise inklusive ihrer sozioökonomischen Folgen für den Einzelnen sowie der politischen Situation speziell in Deutschland infolge des Ersten Weltkrieges die allgemeine Verunsicherung (und eben auch, mit Buß und Schöps gesprochen: Massenfrustration) einen Höhepunkt erreichte. Die noch junge funktional differenzierte Gesellschaft trat vielen als hochkomplexes und ungewisses Gebilde entgegen, in dem auch die Wirtschaft gewissermaßen losgelöst von ihrer eigentlichen gesellschaftlichen Funktion operierte, was im nächsten Schritt politische Programme attraktiv machte, die auf eben jene „Überschaubarkeit schaffende“ Entdifferenzierung abzielte.

Wie ist in diesem Zusammenhang nun die ursprüngliche Frage nach der evolutionären Rolle von Entdifferenzierung zu beurteilen? Handelt es sich um einen weiteren evolutionären Schritt, wie ihn Buß und Schöps dargestellt haben (s. o.)? Oder hat man es bei Phänomenen der Entdifferenzierung vielmehr mit Krisen der funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur zu tun, gewissermaßen um „Übergangsstress“ im Rahmen der Transformation von der vormodernen zur modernen Gesellschaft, wie Parsons es sah (vgl. Feldmann 2000: 320f.)? Unzweifelhaft kann die Entwicklung von der stratifizierten hin zur funktional differenzierten Gesellschaft als Modernisierungsprozess gesehen werden, der eine beträchtliche Kontingenz- und Komplexitätssteigerung der (Welt-)Gesellschaft herbeigeführt hat, die ihrerseits in einer Wechselwirkung mit den gesteigerten Anforderungen an gesellschaftlichen Strukturen stand – vor allem in Folge von Industrialisierung, Technisierung, Rationalisierung und, vor allem ab dem 20. Jahrhundert, auch Demokratisierung, Liberalisierung, Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung. Die funktionale Ausdifferenzierung kann also – soweit stimmen ja auch Buß und Schöps (1979) noch zu – als sozialer Evolutionsschritt angesehen werden.

Es würde jedoch zu weit führen, Entdifferenzierung pauschal im Falle ihres Auftretens als „gesellschaftliches Stresssymptom“ oder grundsätzlich als krisenhafte Erscheinung abzutun. Diese Ansicht ist durchaus auch dann vertretbar, wenn man sich den übrigen, oben aufgeführten Prämissen der beiden Autoren ansonsten nicht anschließt. Denn zweifellos würde eine (nationale bzw. regionale) Gesellschaft ihr eigenes Überleben gefährden, würde sie nicht – wenigstens in Teilen – entdifferenzierende Maßnahmen vornehmen können, wenn z. B. gesellschaftsweite Notstände es gebieten: Man denke hier beispielsweise an Epidemien oder Pandemien, infolge derer die Politik Teile der Industrie zur Umstellung der Produktion auf medizinisch benötigte Produkte zwingen können muss – oder eben an jene kriegsgesellschaftlichen Dynamiken (vgl. Kruse 2015), die Staaten in großen Kriegen zur Priorisierung militärischer Erfordernisse bewegen. In derlei Fällen vermag die sozialevolutionäre Anpassungsfähigkeit in genau eben jenen entdifferenzierenden Schritten zu bestehen, die es gewährleisten oder jedenfalls wahrscheinlicher machen, dass ein Überleben gewährleistet ist, während ein klares Beibehalten funktional differenzierter Gesellschaftsstruktur – etwa mit einer vollkommen autonom operierenden Wirtschaft – in derlei Fällen durchaus evolutionär nachteilhaft sein kann.

Deutlich wird allerdings auch, dass eine solche Betrachtungsweise nur dann funktioniert, wenn man Differenzierung und Entdifferenzierung, anders als Luhmann in vielen seiner Schriften, als gradualisierbares Konzept ansieht und nicht als eine „Entweder-oder“- bzw. „Ja-oder-nein“-Frage. Im letzteren Falle gäbe es keine Abstufungen, was konkret bedeuten würde, dass eine Gesellschaft nur komplett ausdifferenziert oder komplett entdifferenziert sein kann. Dass letzterer Fall – welcher zugleich das Ende von Spezialisierung und Arbeitsteilung bedeuten würde – keine evolutionären Vorteile brächte, dürfte auf der Hand liegen. Evolutionär vorteilhaft könnte also – je nach situativem Kontext – höchstens eine solche Form der funktionalen Entdifferenzierung sein, die teilweise vorhanden ist, unter Beibehaltung wesentlicher differenzierter Strukturen. Zugleich würde man aber auch falsch liegen, würde man den krisenhaften Charakter von funktionaler Entdifferenzierung gänzlich bestreiten. Wie bereits oben dargelegt wurde, war u. a. die Weimarer Republik wesentlich geprägt durch eben solchen „Übergangsstress“, so dass ihr Ende und dessen Folgen durchaus auf diese Weise erklärt werden können. Zusammenfassend gesehen macht es also auch wenig Sinn, bei der Beantwortung der Frage nach der gesellschaftsevolutionären Einordnung von Entdifferenzierung eine strenge Dichotomie aufzumachen, bei der sich der soziologische Beobachter strikt zwischen den Antworten „Krise / Übergangsstress“ einerseits und „Evolutionärer Schritt“ andererseits entscheiden muss. Wir sehen: Entdifferenzierung kann tatsächlich beides sein – je nachdem.



Literatur

Buß, Eugen / Schöps, Martina (1979). Die gesellschaftliche Entdifferenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie, 8. Jg., S. 315-329.

Feldmann, Klaus (2000). Soziologie kompakt. Eine Einführung Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Kruse, Volker (2015). Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. München / Konstanz: UVK.

Luhmann, Niklas (2005). Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie. In: Ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft (5. Aufl.). Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 9-24.

Sander, Florian (2017). Soziale System-Grenzen und System-Ebenen als Tellerränder? Beobachtung zweiter Ordnung und Interdisziplinarität als (post-)moderne Theorie-Standards. BGHS Working Paper Series No.1. Bielefeld: Bielefeld Graduate School in History and Sociology. 

Schimank, Uwe (2006). „Feindliche Übernahmen“: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft. In: Ders., Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung: Beiträge zur akteurszentrierten Differenzierungstheorie 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 71-83.

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