Entdifferenzierung III: Drei Ebenen der Entgrenzung

Am Beispiel des Journalismus bzw. des Massenmediensystems hat Wiebke Loosen (2007) ein instruktives Modell entworfen, das – wiederum inspiriert durch andere (systemtheoretische) Beiträge zur Entdifferenzierung, auf die wir uns auch im Folgenden nochmal beziehen werden – drei verschiedene Ebenen der „Entgrenzung“, wie sie es formuliert, unterscheidet und darlegt. Ihr Fokus liegt dabei besonders auf der Frage, wie sehr und wodurch die gesellschaftliche Funktion des Journalismus durch funktionale Entdifferenzierung gefährdet wird (vgl. ebd.: 64). Dies wird uns im Folgenden nicht weiter beschäftigen. Instruktiv ist der Beitrag aber dennoch, da er das Phänomen der Entdifferenzierung auf eine Weise aufschlüsselt, die auch für die hiesige Fragestellung und insbesondere in Verbindung mit den von Schimank (2006) dargelegten Abstufungen fruchtbar gemacht werden kann. Die Begriffe „Entdifferenzierung“ und „Entgrenzung“, welche von Loosen in ihrem Beitrag beide verwendet werden, sind dabei nicht als Synonyme füreinander zu verstehen, auch wenn sie gewissermaßen eng miteinander verwandt sind. Demnach „lässt sich beobachten, dass mit „Entgrenzung“ eher empirisch beobachtete Phänomene bezeichnet werden und von „Entdifferenzierung“ eher im Zusammenhang mit theoretischen Fragen – und besonders in Hinblick auf Kritik an der Theorie der funktionalen Differenzierung – die Rede ist“ (Loosen 2007: 64f.). Es lässt sich freilich darüber streiten, ob und inwieweit eine solche, doch recht feinsinnige Unterscheidung zwischen Empirie und Theorie, die letztlich impliziert, die Theorie sei gewissermaßen eine von der „Realität“ losgelöste, eigene Welt, sinnvoll ist. Diese Diskussion hier zu führen, würde jedoch den Rahmen sprengen. Wir belassen es stattdessen bei dem – jedoch ausdrücklichen – Hinweis, dass der Begriff der Entdifferenzierung gerade vor dem Hintergrund seiner Konzeptualisierung anhand eines empirischen Falles (wie auch der Begriff der Differenzierung) für uns durchaus nicht nur einen theoretischen, sondern auch einen klaren empirischen Wert hat und auch dezidiert empirisch sichtbare Phänomene zu erklären vermag.

Infolge ihrer eigenen Literatursichtung zum Thema macht Loosen schließlich drei verschiedene Ebenen von Entdifferenzierung aus, die im systemtheoretischen Kontext analysiert und diskutiert werden: Erstens die Funktionsebene (bei der die Grenzen zweier Funktionssysteme zur Disposition stehen), zweitens die Ebene der Strukturen eines Funktionssystems, die Rollen, Programme und Organisationen umfassen, und drittens die Ebene der basalen Struktur der Gesellschaft, bei der es um die grundsätzliche Infragestellung des Konzeptes funktionaler Differenzierung als Gesellschaftsbeschreibung geht (vgl. Loosen 2007: 69). Jene Unterscheidung greifen wir in dieser Arbeit bewusst auf: Logischerweise geht es hier ganz primär um die erstgenannte Funktionsebene und die Grenzen der Funktionssysteme Politik und Recht. Aber auch die zweitgenannte strukturelle Ebene steht im Fokus unserer Aufmerksamkeit, da sich innerhalb des politischen Systems und des Rechtssystems im Dritten Reich bzw. auf der Ebene von deren Strukturen (Programme, Rollen, Organisationen) vielfältige Dynamiken entfaltet haben, die in der Wechsel- und Folgewirkung auch für die erstgenannte Ebene bedeutsam sind. Die letztgenannte, dritte Ebene der basalen Gesellschaftsstruktur allerdings blenden wir hier letztendlich aus – nicht so sehr deswegen, weil sich die Frage für die Zeit des Nationalsozialismus nicht stellen würde (es lässt sich schließlich durchaus begründet postulieren, dass auch ganz andere gesellschaftliche Teilsysteme derart politisiert waren, dass man das Vorhandensein einer funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur für jene Zeit zumindest kritisch hinterfragen kann), sondern eher, weil eine derartig makrosoziologisch ausgedehnte Fragestellung in einer einzelnen Arbeit schwerlich qualitativ hochwertig zu beantworten wäre. Was wir jedoch mit Blick auf die ersten beiden Ebenen unzweifelhaft sehen können, sind die Parallelen zum Konzept „feindlicher Übernahmen“ bzw. intersystemischer Autonomiebedrohungen nach Schimank (2006), der hier, freilich ohne dies so zu bezeichnen, ganz ähnlich mehrere verschiedene Ebenen der Intensität und Ausbreitung von Entdifferenzierung ausmacht, nämlich von Ressourcen über Programme bis hin zum Code. Wir werden im Folgenden daher beide Modelle in konzeptionell zusammengeführter Form aufgreifen und analytisch entsprechend nutzen.

In diesem Zusammenhang verweist Loosen auf mehrere andere Beiträge sozialwissenschaftlicher Autoren zum Komplex der Entdifferenzierung, wie u. a. auf Stefan Weber, der basierend darauf eine Kritik an der Theorie funktionaler Differenzierung fußen lässt und behauptet, funktionale Differenzierung schließe Entdifferenzierung a priori von der Beobachtung aus (vgl. Weber 2000: 38ff.; Loosen 2007: 72), ähnlich wie Karin Knorr-Cetina, welche der Differenzierungstheorie gar „Unterkomplexität“ vorwarf (vgl. Knorr-Cetina 1992). Auf diese Ansätze werden wir im Folgenden nicht nochmals vertieft eingehen, da sie letztendlich wenig neue, konzeptionell weiterführende Argumente, aber zugleich theoretisch sehr problematische Prämissen beinhalten (gerade der Annahme, die Beobachtung von Entdifferenzierung sei mit der „Brille“ einer Theorie funktionaler Differenzierung unmöglich, wollen wir hier ja ganz ausdrücklich widersprechen!). Vielversprechender, zumindest aber interessanter sind hier die Ansätze von Buß / Schöps (1979) und Gerhards (1993), auf welche Loosen ebenfalls verweist und auf die wir im Folgenden noch in Form genauer eingehen werden.

Loosens besonderer Verdienst liegt im kritischen Hinterfragen dessen, ob das, was dem Beobachter als Entgrenzung oder Entdifferenzierung erscheint, denn systemtheoretisch „wirklich“ eben dieses ist oder nicht vielmehr mit bestehenden systemtheoretischen Konzepten – wie eben etwa Veränderungen von Strukturen, von Leistungsbeziehungen zu anderen Systemen und von strukturellen Kopplungen und Interdependenzen zwischen Systemen sowie mit neuen Formen von Differenzierung bzw. Redifferenzierung – erklärt werden kann (vgl. Loosen 2007: 73f.), wobei als Beispiel für das letztere Phänomen der etwa in den Massenmedien bzw. deren Organisationen teilweise zu beobachtende Vorgang einer Auflösung von Ressorts gerechnet werden kann, wodurch sich dann aber eben womöglich wiederum neue Ressortzuschnitte ergeben können – was eben jene, oben genannte Redifferenzierung aufzeigen würde (vgl. ebd.: 76). Mit diesen zunächst rein hypothetischen soziologischen „Differentialdiagnosen“ generiert Loosen eine Art „Prüfstein“ auch für die hier zu tätigende Analyse, die an sich den Anspruch haben muss, zunächst eben jene Vorschläge zu prüfen und zu fragen, inwieweit sie womöglich auch auf das Verhältnis von Politik und Recht im Nationalsozialismus zutreffend sein könnten, ohne dass deswegen gleich eine Entdifferenzierung auf funktionssystemischer bzw. auf der Code-Ebene diagnostiziert werden muss.

Loosen erwägt in diesem Zusammenhang auch, Differenzierung und Entdifferenzierung nicht so sehr als empirische Gegensätze zu behandeln, sondern als Prozesse, die sich gegenseitig bedingen (vgl. ebd.: 74f.). Aus unserer Sicht wäre es zwar zu weitgehend, hier – zumal derart pauschal – gar von „Bedingungen füreinander“ zu sprechen; in jedem Fall aber lässt sich festhalten, dass Differenzierung und Entdifferenzierung in vielerlei Fällen parallel und zeitgleich in Erscheinung tretende soziale Entwicklungen darstellen, die sich nicht zwingend widersprechen müssen. Dies gilt nicht nur vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es Entdifferenzierung eben nur dort geben kann, wo es zuvor schon Differenzierung gegeben hat (vgl. Lechner 1990: 104; Buß / Schöps 1979: 328): „Entdifferenzierung kann aber nicht heißen, daß man Differenzierungen vergessen könnte, denn dann hätte auch das „Ent-“ keinen Sinn“ (Luhmann 2018: 1145). Es gilt auch angesichts jener Phänomene von Entdifferenzierung, die uns – inmitten der zweifellos funktional differenzierten modernen Gesellschaft – als Zurückdrängung von Überdifferenzierung entgegentreten, etwa im Rahmen psychosozialer Dienstleistungen (vgl. Halfmann / Japp 1981). Entdifferenzierung, wenn man sie derart und auf organisationssystemischer Ebene betrachtet, ist also unzweifelhaft eine Parallelerscheinung zur Differenzierung, die dieser nicht zwingend entgegenstehen muss. Dies gilt es festzuhalten, ehe man den Blickpunkt auf jene Fälle verlagert, die dagegen ein Spannungsfeld zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung aufzumachen scheinen, wie es sich im hier und im Folgenden thematisierten Fall des Dritten Reiches darstellt. 



Literatur

Buß, Eugen / Schöps, Martina (1979). Die gesellschaftliche Entdifferenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie, 8. Jg., S. 315-329.

Gerhards, Jürgen (1993). Funktionale Differenzierung der Gesellschaft und Prozesse der Entdifferenzierung. In: Hans Rudi Fischer (Hrsg.), Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik (2., korr. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer-Verlag. S. 263-280.

Halfmann, Jost / Japp, Klaus P. (1981). Grenzen sozialer Differenzierung – Grenzen des Wachstums öffentlicher Sozialdienste. In: Zeitschrift für Soziologie, Heft 3 / Juli 1981, 10. Jg, S. 244-255.

Knorr-Cetina, Karin (1992). Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Empirische Anfragen an die Systemtheorie. In: Zeitschrift für Soziologie, 21. Jg., S. 406-419.

Lechner, Frank J. (1990). Fundamentalism and Sociocultural Revitalization: On the Logic of Dedifferentiation. In: Jeffrey C. Alexander / Paul Colomy (Hrsg.), Differentiation Theory and Social Change. Comparative and Historical Perspectives. New York: Columbia University Press. S. 88-118.

Loosen, Wiebke (2007). Entgrenzung des Journalismus: empirische Evidenzen ohne theoretische Basis? In: Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Heft 1 / März 2007, 52. Jg., S. 63-79.

Luhmann, Niklas (2018). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. I & II) (10. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Schimank, Uwe (2006). „Feindliche Übernahmen“: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft. In: Ders., Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung: Beiträge zur akteurszentrierten Differenzierungstheorie 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 71-83. 

Weber, Stefan (2000). Was steuert Journalismus? Ein System zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung. Konstanz: UVK.

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