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Der Tellerrand der Organisationssoziologie? – Einige sozialpsychologische Anmerkungen zu Stefan Kühls IS-Analyse

Der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl bringt in einem Essay über die Entwicklung des „Islamischen Staates“ (IS) die durchaus plausible These ins Spiel, dieser durchlaufe einen Prozess der „Verorganisierung“, im Zuge dessen er sich von einer sozialen Bewegung hin zu einer (staatlichen) Organisation entwickle oder bereits entwickelt habe. Dies allein wäre nicht weiter problematisch, wenn der Autor damit nicht eine gewagte Prognose verbinden würde: Nämlich jene, dass der IS damit nicht nur leichter zu bekämpfen ist, weil er nun eine „Adresse“ hat, sondern dass er dadurch auch für seine Mitglieder weniger attraktiv werden würde. Der sozialpsychologisch reflektierte Leser fragt sich: Woher weiß der Autor das? Zunächst ein durch und durch organisationssoziologischer Einwand, welcher für seinen Adressaten aber auch nicht neu sein dürfte: Im Sinne einer Beobachtung der Beobachter ist es für die oben aufgeworfene Frage nicht wichtig, ob Soziologen den IS noch als soziale Beweg

Können sich Menschen ändern?

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Die Frage, ob der Mensch imstande ist, sich zu ändern, ist eine, die oftmals mit der Dichotomie von Optimismus und Pessimismus konnotiert wird: Wer glaubt, dass sich Menschen ändern können, gilt als Optimist, wer dies nicht so sieht als Pessimist (berühmtester Vertreter der letzteren Gattung ist gemeinhin die US-Serienfigur Dr. House mit seinem gleichlautenden Motto „Menschen ändern sich nicht!“). Doch was ist realistisch ? Tatsächlich geht es hier weniger um eine Frage von Optimismus vs. Pessimismus, sondern um die Frage von Komplexität vs. Unterkomplexität. Denn vom sozialpsychologischen Standpunkt aus gesehen ist der Gedanke, sich hier nur zwischen „ja“ oder „nein“ entscheiden zu können, eine denkbar unterkomplexe Einschätzung. Der Wissenschaftler wird zunächst zurückfragen: Welches Teilsystem des „Menschen“ meinen Sie überhaupt? Die Formulierung „Mensch“ ist zunächst einmal eine Formel der Zurechnung: Wir verwenden sie, um jemanden, den wir als anderes und (meistens) denkende

Der Lindenstraßen-Effekt – Über das Dauerbedürfnis nach Liebessystemen

Jeder kennt sie: Die Seifenopern und Vorabendserien, die nicht unbedingt durch Oscar-reife Schauspieler oder Handlungen glänzen, die ebenso wenig qualitativ hochwertig sind wie eine Packung Chips gesund ist. Doch gleich einer Packung Chips kann man oftmals, wenn man einmal angefangen hat, sie zu konsumieren, nicht so einfach wieder damit aufhören. Es mag keine Sucht im Sinne einer Nikotin- oder gar Alkoholsucht sein, aber man ertappt sich dabei, wie man sein Handeln – sprich: seinen Chips- oder eben Vorabendserien-Konsum – selbst für völlig unsinnig und reine Zeitverschwendung hält, man aber dennoch damit weiter macht. Hierin liegt denn auch das Merkmal, das Chips- und Vorabendserien-Konsum mit der Liebe gemeinsam haben: Die Tatsache, dass es zuweilen ungeheuer schwer fallen kann, einfach nur mal solo zu bleiben – und man sich, selbst nachdem ein Liebessystem (so wollen wir hier um der theoretischen Konsistenz wegen Paarbeziehungen bezeichnen) möglicherweise fatal geendet ist, gleich

Funktion und Probleme von Flirt-Kommunikation

Wenn im Alltag vom „Flirten“ die Rede ist, so schwingen dabei für gewöhnlich recht unterschiedliche Assoziationen mit: Verstehen die einen darunter eine relativ direkte Anbahnung von Intimkontakten, so kann für andere schon ein lockerer, charmanter Wortwechsel mit einem / einer Vertreter/in des präferierten Geschlechts, der beim Bäcker stattfindet, darunter fallen, nach welchem man wieder auseinandergeht und während dem man nie anderes vor hatte, als sich während des Brötchenkaufs mal schnell ganz nett zu unterhalten. Was jedoch beide Auslegungen gemeinsam haben, ist, dass Flirts nicht mit Vertretern eines Geschlechts geführt werden, welches grundsätzlich nicht für weitere intim- oder gar liebesbasierte Kontakte in Frage kommt. Selbst wenn diese also während des Flirts nicht direkt intendiert werden, so schwingt ihre grundsätzliche Möglichkeit, ihr Potenzial immer gleichsam mit. Das „theoretisch könnten wir ja…“ ist dabei Dauerbegleiter. Wo dies nicht der Fall ist, liegt kein Flirt

Suizidale Systeme – Wenn die Leitdifferenz zur Leiddifferenz wird

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Der Tod eines psychischen Systems. Die völlige und endgültige Auflösung einer System-Umwelt-Differenz – die vollständige Entdifferenzierung. Bei biologischen Systemen ist es die Regel: Jeden Tag werden welche – auch verursacht durch innere Vorgänge wie etwa Tumore – krank und sterben. Auch bei sozialen Systemen ist dies nichts Ungewöhnliches: Interaktionssysteme lösen sich jeden Tag auf, häufig auch Organisationssysteme. Selbst für Funktionssysteme der Gesellschaft – wie z. B. die Religion, das Recht oder die Politik – besteht nicht per se eine Ewigkeitsgarantie. Der Tod psychischer Systeme ist häufig die Folge des Sterbens biologischer Systeme und manchmal auch eine Folge der Auflösung sozialer Systeme (man denke etwa an Bürgerkriege in sog. „failed states“). Manchmal jedoch setzt sich ein psychisches System auch selbst ein Ende – wir nennen es dann „Selbstmord“. Doch wieso tut es das? Es folgt der Versuch einer systemtheoretisch inspirierten Erklärung. Identitätsbildend für ei

Individualitätszurechnung durch Körpermodifikation

Für Susana! In ihrem Aufsatz „Tell me what you don’t like about yourself“: Personale Identitätskonstruktion in der US-amerikanischen makeover culture im 21. Jahrhundert am Beispiel der Serie Nip/Tuck beleuchten Susana Rocha Teixeira und Anita Galuschek (2015) am Beispiel einer US-Fernsehserie, wie sich die Effekte dessen, was gemeinhin immer häufiger als Postmoderne identifiziert wird, auf Körpervorstellungen und – genauer – Körpermodifikation auswirken. Der damit einhergehende Vorgang der „beautification“ wird dabei nach Nina Degele als Kommunikationsmedium zum Zwecke der Identitätssicherung dargestellt (vgl. Teixeira / Galuschek 2015: 80). Grund genug, dieser Diagnose auch nochmal aus einer systemtheoretischen Sicht nachzugehen. Gibt es eine (psycho-)soziale Funktion der Körpermodifikation, die mit der Postmoderne in Zusammenhang steht? Das, was man makrosoziologisch gesehen unter „Postmoderne“ subsumieren kann, setzt den Menschen einem nicht geringen Druck aus. Die funkti

Was er sagen musste – Zum Tode von Günter Grass

Mit Günter Grass verstarb am 13. April nicht einfach „nur“ ein großer Schriftsteller, sondern zugleich auch einer der bekanntesten, politischsten und streitbarsten Intellektuellen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Mann, der sich stets einmischte, der dabei – besonders in den letzten Jahren – nicht unumstritten war, der aber keine Angst hatte, gegen teils mächtige, gar internationale Widerstände zu seinen Überzeugungen zu stehen, so unbequem sie auch waren. Sein literarisches Werk kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden – hierfür fühlt sich der Autor dieser Zeilen nicht kompetent genug. Was aber diskutiert werden soll, ist die alles andere als irrelevante politische Rolle, die er für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingenommen hat. Schon allein diese ist einen sorgfältigen Blick und – zudem – auch eine Würdigung wert. Günter Grass war kein Mann der leisen Töne. Seine Positionierungen waren stets klar, laut und bisweilen leidenschaftlich und emotional. Der

Das Turla-Phänomen – Wenn Paare zu einem Wesen verschmelzen

Kennen Sie sie auch? Diese ganz besonderen Paare, die sich gesucht und gefunden haben? Und danach den Versuch starten, zu einem Wesen zu verschmelzen – nicht nur körperlich beim Geschlechtsakt, sondern (zumindest in der Außendarstellung) auch in der Interaktion anderen gegenüber? In der Comedy-Serie „Scrubs“ wurde dies mehr oder weniger surreal in Form des Wesens „Turla“ thematisiert, einer Verschmelzung des Arztes Dr. Turk und seiner Frau Carla, die sich irgendwann so nahe waren, dass sie in einer speziellen Märchen-Story der Serie plötzlich verschmolzen. Etwas weniger grotesk und etwas lebensnäher, dafür aber nicht weniger amüsant, wurde die Thematik von Loriot in dessen Kinofilm „Papa Ante Portas“ aufgegriffen. In einer Szene sitzen Loriot und Evelyn Hamann während einer Zugfahrt der Schwester der letzteren und deren Mann gegenüber und müssen sich dabei gemeinsam mit ihrem Film-Sohn und auch noch später von dem unangenehmen Paar hypermoralisiert vorgetragene Belehrungen gefal

Die Umwertung aller inneren Werte (Teil 1)

Die Welt, in der Konstanze lebte, stand Kopf. Nicht, dass das für die Welt etwas Besonderes gewesen wäre: Es war normal, dass sie Kopf stand. Allerdings: Kann man eine Welt, die auf dem Kopf steht, noch als „normal“ bezeichnen, wo sie das doch eigentlich gerade nicht ist? Wenn das Auf-dem-Kopf stehen aber nichts ungewöhnliches mehr ist, ist es dann nicht eben doch „normal“? Und steht die Welt damit nicht eigentlich doch wieder auf ihren Füßen? Paradox! Tja, irgendwie war eben alles beobachterabhängig. Obwohl. In dem Fall hätte ja gar nichts mehr einen objektiven Wert… Stopp. Konstanze unterbrach diesen nicht eben zielführenden Gedankengang und rief sich zur Ordnung. Noch ein Knoten im Gehirn musste nicht sein. Sie brauchte es schließlich noch. Gerade jetzt. Bis vor ein paar Tagen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Ihr Psychologie-Studium lief gut: Die Noten könnten teilweise besser sein, aber wer ist schon in allem gut? Sie macht noch Soziologie im Nebenfach, das war schon arg the