Syrien: Der Sturz von Assad und die Folgen

Auszug aus einem Kommentar im August 2011: Wissen, was danach kommt

Im Anschluss an einen gewonnenen Krieg geht es erst richtig los: Verhandeln, Nation Building, Terrorismusbekämpfung, zerstrittene Rebellen wieder zusammenbringen. Was in Afghanistan und im Irak letztlich die wirkliche Herausforderung für die westlichen Kriegsparteien bildet, wird auch im Libyen der Post-Gaddafi-Ära noch einen gewaltigen Kraftakt erfordern. Gerade jedoch, weil die allgemeine Ratlosigkeit, das Chaos und die richtigen Konflikte zumeist erst dann einsetzen, wenn das betreffende Regime verschwunden ist, sollte man sich auch im Falle Syriens bereits jetzt genau überlegen, was denn an Alternativen zur Verfügung steht, bevor man alles tut, um ein Regime loszuwerden.

Im Falle Syriens ist die nicht erfolgende militärische Intervention des Westens wohl nicht einfach nur ein Resultat mangelnder Ressourcen aufgrund der Inanspruchnahme durch Afghanistan und Libyen sowie dem fehlenden Öl. Der Westen weiß sehr genau, was er bisher am Assad-Regime hatte. Es ist kein Geheimnis, dass etwa die christliche Minderheit in Syrien, die 10 % der syrischen Bevölkerung ausmacht, sich mit der alawitischen Minderheit, aus der auch das Assad-Regime hervorgegangen ist, verbunden fühlt. So hat die Assad-Regierung über Jahre hinweg die islamistische Muslim-Bruderschaft bekämpft und die christliche Minderheit vor islamischen Extremisten geschützt. Mit einem Sturz des Regimes, der zur Folge haben könnte, dass die sunnitische Mehrheit die Macht erlangt, könnte eine Entwicklung eintreten, die nicht nur für syrische Christen zutiefst gefährlich werden könnte.

Nicht anders sieht es nämlich für die Alawiten selbst aus, die sich nach einem Machtverlust Assads in einem religiösen Konflikt mit den Sunniten wiederfinden könnten. Würde sich ein solcher Konflikt vertiefen, so hätte er das Potenzial, die gesamte Region zu destabilisieren und sich auszuweiten. Auch wenn Israel hierbei kurzfristig der lachende Dritte sein könnte, so kann dem Westen nicht daran gelegen sein, zusätzlich mit den anstehenden Problemen in Nordafrika auch noch mit einer solchen Unberechenbarkeit umgehen zu müssen. Es wäre gewiss nicht von Nachteil, dies einzukalkulieren, bevor man weiterhin von Konzeptlosigkeit bestimmte Forderungen in die Welt setzt, ohne sich im Geringsten Gedanken darüber zu machen, worin denn die Alternative zum – berechenbaren – Baschar al-Assad besteht.

Einige Ergänzungen im März 2025: Remigration und Asyl für Alawiten

Nun, ca. 13 ½ Jahre später, ist es also so weit gekommen: Das Assad-Regime der Baath-Partei – ein säkulares, sozialistisches und im direkten regionalen Vergleich zum sunnitischen Steinzeit-Islamismus gesellschaftspolitisch progressives Regime – ist gestürzt. Die neuen Realitäten sind für alle, die schon damals genau hingeschaut haben, wenig überraschend; für die westlich-liberalen Naivlinge jedoch ernüchternd: Die alawitische Minderheit wird verfolgt, die neuen sunnitisch-islamistischen Machthaber tun wenig, um den Exzessen Einhalt zu gebieten bzw. treiben sie noch an. Ganze Familien, Männer, Frauen und Kinder, werden regelrecht abgeschlachtet; Assad kann sie nicht mehr beschützen und musste mit seiner Familie nach Russland fliehen.

Die Entwicklung unterscheidet sich kaum von anderen Dystopien des sogenannten „Arabischen Frühlings“: Autokratische, aber säkulare Regimes werden hinweggefegt, der naiv-liberale Westen feiert die vermeintlichen „Befreiungen“ und freut sich auf „Demokratisierung“, diese kommt jedoch nie. Stattdessen halten Islamisten Einzug, die nur im Falle Ägyptens und der dortigen Muslim-Brüder durch einen Militärputsch daran gehindert werden können, das Land in ein theokratisches Mittelalter zurück zu befördern. Ägypten ist dabei trotz Mubaraks Abtritt noch verhältnismäßig gut weggekommen; Syriens Assad hat sich immerhin noch über 13 Jahre halten können, fiel dann aber maßgeblich der Tatsache zum Opfer, dass die Beschützer nun woanders beschäftigt waren: Russland in der Ukraine, Iran im Konflikt mit Israel.

Die Folge ist ein neues Islamisten-Regime direkt vor der Nase Europas, dem es trotz gegenteiliger Bekundungen herzlich egal sein dürfte, was seine Fanatiker bei Christen und Alawiten anrichten. Neue Flüchtlingsströme sind vorprogrammiert. In der Rückschau betrachtet: In der Verkettung der letzten zwei Jahrzehnte eine Folge der westlichen, speziell US-amerikanischen und von den Israelis gewollten Destabilisierung der Region, eine Folge neokonservativer und naiv-liberaler Außen- und Kriegspolitik im Nahen Osten und, wie so häufig, unverantwortlicher Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete durch westliche Staaten, deren Rüstungsindustrien weiter Gewinne machen.

Und zugleich: Ein neuer Auftrag für die Gesellschaften Europas. Eines ist nun umso klarer geworden: Der Remigration syrischer Sunniten kann nun nichts mehr entgegenstehen, denn die neue Macht der entsprechenden gesellschaftlichen Mehrheit sitzt dort nun fest im Sattel. Für sunnitische Muslime ist Syrien nun ohne Zweifel „sicherer Drittstaat“; der Asylgrund ist damit erloschen. Im Gegenzug wäre es eine gerechte Lösung, den nun Schutz suchenden syrischen Alawiten im Rahmen einer auf den Schultern aller EU-Staaten ruhenden Asylpolitik Aufnahme zu gewähren. Denn: Diese sind nun in Syrien tatsächlich verfolgt; ein legitimer Asylgrund ist in ihrem Falle gegeben. 

Was 2015 noch eine linksliberale Lebenslüge war („syrische Ärzte“ und ähnlich qualifizierte Fachkräfte-Zuwanderung), dürfte jetzt eher Realität werden können, denn die vor den Islamisten flüchtenden, eher progressiv gesinnten Alawiten, die über Jahrzehnte hinweg die gesellschaftliche Elite Syriens gestellt haben, setzen sich wohl tatsächlich mit höherer Wahrscheinlichkeit aus potenziell qualifizierten Migranten zusammen. Es wäre daher durchaus auch innerhalb der politischen Rechten zu diskutieren, ob ein solcher Remigrations-Migrations-Kompromiss nicht eine trag- und anschlussfähige Lösung wäre, die den eigentlichen Verfolgten helfen, mit der aber auch Deutschland, mit der Europa ein „gutes Geschäft“ machen würde – gesellschaftlich, außen- und innenpolitisch sowie wirtschaftlich.

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