Systemtheorie VI: Das politische System

Ein Kernmerkmal des politischen Systems innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft ist die Herausbildung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Macht. Was ist hiermit gemeint?

Um das Konzept der symbolischen generalisierten Kommunikationsmedien nachzuvollziehen, bedarf es eines kurzen Blickes auf den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff. Wenn eine Kommunikation verstanden worden und damit zustande gekommen ist, kann sie angenommen oder abgelehnt werden (vgl. Luhmann 2000: 36): „Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstehen zur Behandlung dieses Bifurkationsproblems, und zwar immer dann, wenn die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung von Kommunikationen zunimmt in Situationen, in denen die Annahme der Kommunikation positive Funktionen hätte, also wichtige gesellschaftliche Probleme lösen könnte“ (Luhmann 2000: 37). Das politische Kommunikationsmedium Macht hat also, ähnlich dem wirtschaftlichen Kommunikationsmedium Geld, die Funktion, die Annahme von Kommunikationen wahrscheinlicher zu machen. Dies wiederum dient der klassischen Funktion von Politik, nämlich der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen (vgl. ebd.: 245). Geschichtlich gesehen ist, so Luhmann, die Ablehnung entsprechender Kommunikationen über die Herausbildung von schriftbasierten Kulturen wahrscheinlicher geworden, „weil die Ablehnung in bezug auf schriftlich vorliegende Texte ohne soziale Kontrolle durch anwesende Teilnehmer der Interaktion erfolgen kann“ (ebd.: 37). Mit zunehmender Modernisierung und technischem Fortschritt der funktional differenzierten Weltgesellschaft dürfte diese Entwicklung sogar noch vorangeschritten sein: Durch zunehmende digitale politische Kommunikation (im Internet oftmals ohne Klarnamen und anonym) wird die soziale Kontrolle noch weiter gemindert und die Annahmewahrscheinlichkeit grundsätzlich weiter verringert, was ein Erklärungsansatz sein könnte für jene Entwicklungen des 21. Jahrhunderts, die in den letzten Jahren nicht selten als „postfaktisches Zeitalter“ etikettiert wurden. Man darf durchaus gespannt sein, ob die Weltgesellschaft Instrumente (bzw.: neue symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien?) herausbilden wird, die sich dieses Problems annehmen werden, und wenn ja, welche dies sein werden.

Luhmanns Machtbegriff ist eng an den der Sanktionen gekoppelt: „Über Inaussichtstellen von Sanktionen kann man erreichen, daß andere etwas tun, was sie andernfalls nicht tun würden“ (ebd.: 39). Hinsichtlich der Sanktionen wird in der Regel zwischen der positiven und der negativen Variante eben solcher unterschieden, woran sich für Luhmann die „unerläßliche Voraussetzung für die Differenzierung von Wirtschaft und Politik [festmachen lässt], auch wenn in den so gebildeten Systemen dann wieder alle Einflußformen eingesetzt werden können“ (ebd.: 46). Macht ist ein typisch politisches und Geld ein typisch wirtschaftliches Medium – und dennoch würde wohl niemand bestreiten, dass Macht auch in der Wirtschaft zum Tragen kommt und Geld auch als politisches Steuerungsinstrument verwendet wird, sowohl negativ (etwa in Form von Steuern) als auch positiv (etwa in Form von Steuererleichterungen oder als Zuschussleistungen etwa in der Familienpolitik). Die negativen Sanktionen des Kommunikationsmediums Macht haben jedoch eine Besonderheit an sich, die sie von den positiven Sanktionen grundlegend unterscheiden, nämlich jene, „daß sie nicht ausgeführt werden müssen; ja daß ihre faktische Ausführung dem Sinn des Mediums widerspricht und das Ende seiner Wirksamkeit im jeweiligen Fall manifest werden läßt. Wer einen Bürger einsperrt oder einen Angestellten entlassen muß, erreicht gerade nicht das, was er mit der Androhung dieser Maßnahme erreichen wollte. Negative Sanktionen sind also auch negativ insofern, als das Medium, das auf ihnen aufbaut, auf ihre Nichtbenutzung angewiesen ist“ (ebd.: 46). Macht im Sinne Luhmanns ist insofern eine Art Damokles-Schwert, das über demjenigen, über den die Macht ausgeübt wird, schwebt, das aber in der Regel nicht zustößt – und wenn es zustößt, wäre dies eher zumindest ein Indiz für fehlende Macht oder (schleichend eintretenden) Machtverlust. Macht muss sich „laufend auf etwas beziehen, was sie nicht tun, nicht erreichen will. (…) Und ebenso muß Macht ihre Mittel zeigen, aber zugleich vermeiden, daß sie sie anzuwenden hat“ (ebd.: 46). Demnach müssen beide Seiten, der Machthaber wie auch der Machtunterworfene, diese Mittel kennen, also wissen, was passiert, wenn der Machtunterworfene gegen die Regeln und Direktiven des Machthabers verstößt – und beide Seiten müssen das Eintreten dieser Ultima Ratio „vermeiden wollen. Es funktioniert also nur auf der Basis einer Fiktion, einer nicht realisierten zweiten Realität“ (ebd.: 47). Diese Konsensfiktion begründet Macht als Kommunikationsmedium genauso wie auch den Bedarf, eben diese Macht und ihre politische Anwendung mit Legitimität auszustatten, da derlei Verhältnisse der Ungleichheit in der modernen, vom Gleichheitsprinzip geprägten Gesellschaft rechtfertigungsbedürftig sind.

An diesem Punkt kommt auch die symbolische Dimension ins Spiel. Legt man die oben beschriebenen Kriterien für Machtkommunikation zugrunde, so bedarf es einer stetigen Symbolik, um die besagte Fiktion, die aber tunlichst nicht anzuwendende negative Sanktionsoption (öffentlich) zu demonstrieren: „Die Polizei darf erscheinen, aber sie sollte nicht genötigt sein zuzupacken“ (ebd.: 48). Die Staatsmacht – die wohl typischste Form politischer Macht – wird allgemein über verschiedenste Symbole kommuniziert, von denen die Polizeipräsenz – begleitet durch andere Symboliken, wie Uniformen, Dienstausweise, besonders gekennzeichnete Autos usw. usf. – nur eine der eindrücklichsten und weniger subtilen ist. Man denke alternativ an Flaggen, Hymnen und ähnliches Zeremoniell, ebenso wie an behördentypische hochformelle Kommunikationsformen oder andere Details staatlicher Kommunikation sowie an (zuweilen auch bewusst auf Respekterzeugung angelegte) Amtstitel. Gerade Ämter haben in diesem Zusammenhang eine besonders relevante Funktion, denn an ihnen „wird politische Macht sichtbar, ohne daß sie ihre Machtmittel fortlaufend riskieren muß. Ämter sind eine friedliche Form der Präsentation und Ausübung von Macht“ (ebd.: 91).

All dies sind – das sei an dieser Stelle besonders betont – nicht irgendwelche nebensächlichen Details oberflächlicher Kommunikation. Stattdessen muss die symbolische Dimension der Macht als sogar unerlässliches Mittel staatlicher (oder auch anderer politischer) Autorität gesehen werden, was u. a. dann erkennbar wird, wenn (staatliche oder andere) Machthaber auf starke, womöglich revolutionäre Gegenbewegungen reagieren müssen und gerade dann auf eben jene Symbolik setzen, weil sie ahnen, dass das tatsächliche Eintreten der ungewünschten, eben nur als tunlichst nicht anzuwendende Negativsanktion mitschwingenden Alternative (frei nach Luhmann: Polizisten, die eben doch zupacken) ihnen am Ende eine (dauerhafte) Niederlage und damit (endgültigen) Machtverlust bescheren könnte – oder eben revolutionäre Gegenbewegungen, deren Aktivisten sich genau durch derartiges ermutigt fühlen und dann gerade deswegen aktiv werden. Die Rolle der Symbolik zur Begründung politischer Machtverhältnisse ist hier also nicht zu unterschätzen (vgl. ebd.: 48).

Neben diesem Symbolerfordernis ist Macht auch nicht denkbar ohne hinreichende Generalisierung der Sanktionsmittel. Ist die Sanktionsandrohung zu konkret, zu spezifisch, erreicht sie keine kollektive Dimension: „Es genügt typisch nicht, den Abhängigen darüber zu belehren, was ihm als unmittelbare Folge des Unterlassens geschehen wird – etwa: wie schwierig und zeitaufwendig seine Arbeit wird, wenn er sich bestimmten Weisungen nicht fügt“ (ebd.: 48). Stattdessen braucht es eine generelle Verwendbarkeit von Sanktionsformen, also eine Verwendbarkeit für verschiedene Zwecke, was zu der Konklusion führt, dass überlegene physische Gewalt – bzw. eigentlich: die konstant mitschwingende Androhung dieser, nicht ihre tatsächliche Anwendung – das ideale (politische) Machtinstrument ist (vgl. ebd.: 48f.). Macht ist damit „die Quintessenz von Politik schlechthin“ (ebd.: 75).

Die vorangegangene Beleuchtung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Macht leitet über zum politischen Code (für grundsätzliche Ausführungen zur Rolle von Codes in der soziologischen Systemtheorie siehe hier). Der Code des politischen Systems besteht aus der Unterscheidung von Machtüberlegenheit (Macht), welche die Positivseite und damit die Präferenz des Systems darstellt, und Machtunterlegenheit (Ohnmacht; Nicht-Macht), welche die Negativseite bildet (vgl. ebd.: 88; 98). Wie in jedem Funktionssystem der Fall, ist eben dieser Code für das politische System konstitutiv insoweit, als dass er die Grenze des Systems setzt; determiniert, was bzw. welche Kommunikation zu ihm gehört und welche nicht, welche politisch ist und welche nicht. Das bedeutet freilich nicht, dass keine anderen – eben unpolitischen – Beobachtungen politischer Vorgänge möglich sind (vgl. ebd.: 90) – dies erfolgt dann typischerweise über strukturelle Kopplungen, die Umweltbeobachtung und Irritation ermöglichen.

Wo genau verläuft nun die Grenze bzw. welche Kommunikationen sind nun überhaupt politisch und welche nicht? Luhmann betont, dass mit dem Aufkommen von Machtkommunikation und damit auch von Machtdifferenzen auch Anschlusskommunikationen eintreten, welche „nicht direkt in die Autopoiesis des Systems involviert sind“ (ebd.: 90). Hierunter ist sozusagen jene Kommunikation zu fassen, die Vorbereitungsdienste für machtrelevante Systemoperationen liefert. Schmeicheleien oder Konspirationen sind eher ebenso drunter zu fassen (vgl. ebd.: 90) wie etwa Wahlkampfplanungen, Absprachen oder rhetorische Schulungen für Politiker. Es sind insofern auch politische Kommunikationen denkbar, die nicht unmittelbar machtbasiert sind, die aber mittelbar dem Verfolgen der Präferenzseite der politischen Leitdifferenz dienen. Die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie des politischen Systems sowie das Konzept des Machtkreislaufs – auf beides werden wir in einem weiteren Artikel nochmal vertieft zu sprechen kommen – verdeutlichen diese Zusammenhänge. In jedem Fall zeigt dieser Punkt bereits an dieser Stelle auf, dass der Begriff der politischen Kommunikation auch in der Systemtheorie durchaus weiter ausgelegt werden kann, ohne dass er deswegen verwässert würde. Wie politisch auch derlei mittelbar machtorientierte Operationen des Systems sind, lässt sich anhand eines Umkehrschlusses demonstrieren, denn: „Wenn politische Macht annihiliert würde (…), würden auch sie verschwinden“ (ebd.: 91).

Der Code Machtüberlegenheit / Machtunterlegenheit bildet nicht die einzige Leitdifferenz des modernen politischen Systems. Mit der Transformation hin zur Demokratie, die, in das systemtheoretische Modell übersetzt, nichts anderes bedeutet als die Inklusion der Gesamtbevölkerung in eben jenes System (vgl. ebd.: 97), welche in diesem zu einem deutlichen Anstieg der Kontingenz führt (vgl. ebd.: 98), gilt zudem: Wo das Volk zum „demokratischen Souverän“ wird, tritt eine stärkere Fluktuation zwischen den beiden Seiten des oben genannten Codes ein, da über die demokratische Wahl ein Machtloser zum Machthaber und ein Machthaber zum Machtlosen werden kann – und dies alles auf legale und legitimierte Weise. In der Folge tritt eine Recodierung der politischen Macht ein, welche von Luhmann auch als Überformung und Technisierung des basalen Codes Machtüberlegenheit / Machtunterlegenheit beschrieben wird (vgl. ebd.: 99), nämlich die Unterscheidung von Regierung und Opposition, anhand derer sich das System selbst beobachtet und durch die der Wechsel in der Amtsführung ohne Kämpfe auskommt und durch Verfahren reguliert – und letztlich legitimiert – wird (vgl. ebd.: 97f.). All dies schließt nicht aus, dass noch weitere binäre Unterscheidungen in der politischen Kommunikation eine Rolle spielen: Beispiele hierfür wären etwa die Unterscheidungen von Links versus Rechts (vgl. ebd.: 95) oder von Progressiv versus Konservativ (vgl. Luhmann 2011: 35); auch die im US-amerikanischen politischen Spektrum dominierende Unterscheidung von liberal versus conservative sowie die – soziologischere, weil sich gesellschaftlich deutlicher manifestierende – Unterscheidung von Individualismus versus Kollektivismus wären hier denkbar. Letztlich bleiben dies jedoch vor allem politische Schemata, die der innersystemischen Zuordnung von Themen und Positionen dienen, während sich gewissermaßen die letztendliche, im Kern politische Kommunikation auf der Ebene der zuvor genannten Codes abspielt. Politisch ist demnach, was dem Machtgewinn dient bzw. vor Machtverlust schützt, nicht aber etwa die Suche nach Wahrheit oder das Streben nach Profit, selbst wenn eine der letzteren beiden Varianten zusätzlich mit einer bestimmten politischen Entscheidung einherginge.

Mindestens in seinen Spätwerken geht Luhmann von einer funktional differenzierten Weltgesellschaft aus, welche auch ein globalisiertes, weltpolitisches System beinhaltet. Dieses ist segmentär in Nationalstaaten differenziert. Diese Differenzierung führt „die Politik an die Besonderheiten sehr verschiedener Territorien [heran]“ (Luhmann 2000: 244).

Es gibt jedoch noch eine weitere, makrosoziologisch noch entscheidendere Binnendifferenzierung des politischen Systems, welche von Luhmann diagnostiziert wird: Die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie. Diese weitere, letztlich nicht nur in Demokratien essenzielle interne Differenzierung des politischen Systems wird vorgenommen auf der Ebene der Organisationssysteme, welche sich – grob betrachtet – entweder der einen oder der anderen Seite der Unterscheidung zuordnen lassen; wenn auch nicht immer und in jedem Fall ganz eindeutig. Berücksichtigt man die grundlegende Funktion der Politik, nämlich die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen, so steht logischerweise der Staat im Zentrum (vgl. Luhmann 2000: 245), denn dieser gewährleistet diese Funktion in formalisiert-verbindlicher Weise, inklusive auch des Vollzugs eben dieser Entscheidungen. Luhmann ersetzt mit dieser Differenzierung bewusst die Alltagsunterscheidung von Innenpolitik und Außenpolitik, da diese beiden Felder in der Praxis, vor allem aber auch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung häufig ineinander fließen, da es einerseits keine Außenpolitik gibt, die nicht innenpolitisch auch bedeutsam wäre, und andererseits vielerlei Maßnahmen der nationalen Innenpolitik auch mitunter gravierende außenpolitische Bedeutung haben, wenn man etwa an Menschenrechtsverletzungen oder finanz- und wirtschaftspolitische Schritte denkt, die zu allerlei internationalen (Ketten-)Reaktionen führen (vgl. ebd.: 244f.).

Die Differenzierung in Zentrum und Peripherie steigert die Komplexität des politischen Systems, ohne seine Entscheidungsfähigkeit zu beeinträchtigen (vgl. ebd.: 245). Man kann die Binnendifferenzierung des politischen Systems also ebenfalls als eine Reaktion dessen auf gestiegene gesellschaftliche Komplexität betrachten, der man sich anpassen muss, um weiterhin adäquate Regulierungsleistungen erbringen zu können – und vor allem solche, die vom Wähler als solche rezipiert werden. Die Peripherie nämlich hat die Funktion, über die ihr zugehörigen politischen Organisationen für das Zentrum bzw. den Staat „Zulieferungsdienste [zu] erbringen“ (ebd.: 245). Mit anderen Worten: Es geht in ihr nicht, wie im Zentrum, um das konkrete kollektiv bindende Entscheiden selbst, sondern um die oftmals diskursive Vorbereitung der Entscheidungen. Das Vorhandensein einer politischen Peripherie ist die mehr oder weniger direkte Folge von Demokratisierung und damit gestiegener Komplexität des politischen Systems: Dieses ist nicht mehr identisch mit dem Staat – letzterer ist nur noch ein Teil dessen. Wäre es anders, wäre jede politische Kommunikation bereits eine kollektiv bindende Entscheidung (vgl. Luhmann 1995: 336), was sich jedoch nicht mit dem Grundsatz demokratischer Meinungsbildung über Debatte und Diskurs vertrüge. Es braucht also eine Art massentaugliche Inklusionsinstanz des politischen Systems – und diese stellt seine Peripherie dar. Zugleich gilt: Eben jene „muß, um ihre Zulieferungsfunktion erfüllen zu können, freier gestellt sein als der Staat selbst“ (Luhmann 1995: 336).

Wo das Zentrum bereits verbindlich und formalisiert ist und daher auch hierarchisch aufgebaut sein muss, wie es für dessen Kernorganisation, den Staat, üblich ist, ist die Peripherie noch unverbindlich und segmentär differenziert (vgl. Luhmann 2000: 250f.). In ihr wird lose kommuniziert, oftmals verbal und wenn schriftlich, dann mit wenig formaler Rahmung. Man denke hier exemplarisch an politische Reden, Anträge auf Parteitagen oder auch an politische Talkshow-Diskussionen, mittlerweile auch an Postings in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter. In der Peripherie können politische Positionierungen, von denen man noch nicht sicher ist, ob sie „zentrumstauglich“ (mehrheits- und anschlussfähig) sind, unverbindlich erprobt und „in die Debatte geworfen“ werden, um „Konsenschancen abzutasten“ (Luhmann 2000: 246). In der Peripherie ist der Raum für politische Profilierung, Wahlkampf, Kampagnen, PR, Debatten sowie inner- und zwischenparteiliche Einigungsvorgänge, für die üblichen Kämpfe zwischen Regierung und Opposition im Vorfeld einer verbindlichen Entscheidung. Die Peripherie hat gerade damit eine Inklusionsfunktion für das politische System, da die ihr maßgeblich angehörenden politischen Organisationen, die politischen Parteien, die Bevölkerung demokratisch in die politische Willensbildung inkludieren bzw. jedenfalls den Auftrag haben, dies zu tun. Mit Brunsson (1989) gesprochen, dominiert in der Peripherie das talk-Element, während es im Zentrum um die action geht. Das bedeutet zugleich, dass die Peripherie Möglichkeiten für „klientelorientierte Dramatisierungen“ (Luhmann 2000: 246) bietet und dadurch politische Anschlussfähigkeit bei der Wählerschaft – etwa im Zuge eines Wahlkampfes – herzustellen vermag.

Der Übergang von der Peripherie ins Zentrum ließe sich demnach dort ausmachen, wo beispielsweise eine parlamentarische Debatte endet und das Prozedere in eine offizielle Abstimmung über die zuvor diskutierte Frage – und danach womöglich in den Vollzug der Entscheidung – übergeht. Organisational manifestiert sich dieser Übergang in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen etwa der Bundestagsfraktionen, welche die peripheren politischen Organisationen, die Parteien, mit der staatlichen Legislative und, über Umwege und mittelbar, auch mit der Exekutive verknüpfen. In parlamentarischen wie aber auch sonstigen parteipolitischen oder massenmedialen politischen Debatten zeigen sich stets die Widersprüchlichkeit und die Inkonsistenz von Erwartungen, mit denen das politische Zentrum konfrontiert wird, und die somit ebenso regelmäßig enttäuscht oder durch simple Heuchelei – also Entkopplung von talk und action – beantwortet werden müssen, da das Zentrum eben aufgrund jener pluralistischen Inkonsistenzen niemals alle Erwartungen zugleich aufgreifen und befriedigen kann (vgl. Luhmann 2000: 247). Hiermit und mit eben jener zuvor beschriebenen Binnendifferenzierung reagiert das moderne, ausdifferenzierte politische System auch auf die (eigene) Unfähigkeit zur Steuerung anderer Funktionssysteme: Es werden in ihm selbst politische Organisationen, die sich jeweils nach politischem Zentrum (Staat) und politischer Peripherie (Parteien, Verbände / Gewerkschaften, Lobbyorganisationen etc.) differenzieren, gebildet, um den daraus resultierenden Zuwachs von spezifischen Problemen erkennen, thematisieren und ihm begegnen zu können, indem man sie im System zu kommunizieren und auf die Agenda zu setzen versucht (vgl. ebd.: 248). Dies führt auch zu der Feststellung, dass das bei der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie nicht von einem Rangverhältnis ausgegangen werden kann bzw. das eine nicht relevanter ist als das andere, sondern sich beide einander bedingen (vgl. ebd.: 251).


Literatur

Brunsson, Nils (1989). The Organization of Hypocrisy. Chichester: Wiley.

Luhmann, Niklas (1995). Das Recht der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2000). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2011). Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München: Olzog.

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