Systemtheorie II: Operative Geschlossenheit, Autopoiesis, Selbstreferenz, Codierung

Die entscheidende Unterscheidung der Systemtheorie hinsichtlich der Beobachtung der sozialen Welt ist die Unterscheidung von System und Umwelt. „Umwelt“ – als in diesem Falle soziologischer, also nicht auf Ökologie abstellender Terminus – bezeichnet dabei letztlich alles Soziale, das nicht das System ist. Erst durch diese Differenz wird das System sichtbar: „Diese Unterscheidung ist die Differenz, die ein System konstituiert. (…) Der für uns (…) wichtige Punkt besteht darin, dass das System sich mit eigenen Operationen Grenzen zieht, sich von der Umwelt unterscheidet und nur dann und nur so als System beobachtet werden kann“ (Luhmann 2004: 92). Diese letztlich nicht nur soziologische, sondern philosophische Prämisse konstruktivistischen Denkens gilt es stets mit zu bedenken, wenn der Systembegriff Luhmanns im Mittelpunkt steht: Die Beobachtung des Systems durch den Wissenschaftler oder sonstigen Außenstehenden ebenso wie die Beobachtung durch das System selbst sind stets als Vorgänge sozialer Konstruktion zu denken, im Rahmen derer Wirklichkeiten und Realitäten konstruiert werden, indem eine Unterscheidung sie erst herbeiführt bzw. sichtbar macht (bereits in der Frage, welche der beiden letzteren Formulierungen die treffendere ist, drückt sich bei genauerer terminologischer Betrachtung ein philosophischer Grundsatzstreit aus, den wir an dieser Stelle aber nicht vertiefen wollen). Da soziale Systeme nicht durch Menschen oder psychische Systeme begründet (vgl. Luhmann 1995: 48f.), sondern in der Systemtheorie als durch Kommunikation konstituiert angesehen werden, ist es auch die Kommunikation, die in diesem Fall – ganz egal, um welchen sozialen Systemtyp es sich handelt – die Abgrenzung des Systems von der Umwelt herstellt: „Ein soziales System erzeugt die Differenz zwischen System und Umwelt dadurch, dass kommuniziert wird, dass Beziehungen zwischen unabhängigen Lebewesen hergestellt werden und indem diese Kommunikation mit einer eigenen Logik der Anschlussfähigkeit, des Weiterkommunizierens, einem eigenen Gedächtnis und so weiter folgt“ (Luhmann 2004: 92).

Die Operationen eines Systems verlaufen also nur in ihm, aber nicht außerhalb, in der Umwelt (vgl. Luhmann 2004: 92f.). Das Vorhandensein der System-Umwelt-Unterscheidung begründet zugleich die Identität des Systems, weil diese eben nur durch Differenz ermöglicht wird (vgl. Luhmann 2018b: 243). Dies führt zugleich zu der folgenden Prämisse: „Alles, was vorkommt, ist immer zugleich zugehörig zu einem System (oder zu mehreren Systemen) und zugehörig zur Umwelt anderer Systeme. (…) Jede Änderung eines Systems ist Änderung der Umwelt anderer Systeme; jeder Komplexitätszuwachs an einer Stelle vergrößert die Komplexität der Umwelt für alle anderen Systeme“ (Luhmann 2018b: 243). Die Umwelt selbst wiederum ist hierbei ein reiner Abgrenzungsbegriff; sie beinhaltet selbst noch kein eigenes „Wesen“, ist keine eigene Entität, ist unbestimmt und hat auch keine eigene Identität. Sie „ist nur ein Negativkorrelat des Systems. (…) Die Umwelt ist einfach ‚alles andere‘“ (Luhmann 2018b: 249).

In der Folge der Ausgangslage einer klar konturierten System-Umwelt-Grenzziehung stellt Luhmann nun die These der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme – und insbesondere von gesellschaftlichen Funktionssystemen – auf. Hiermit wird ausgesagt, dass Operationen stets nur im System selbst möglich sind, dabei aber nicht in die Umwelt ausgreifen können – das System muss stattdessen innerhalb von sich selbst „Anschlüsse, Folgerungen, nächste Erkenntnisse, Rückgriffe auf das Gedächtnis und so weiter suchen“ (Luhmann 2004: 93). Hieraus ergibt sich schließlich auch die Folgerung, dass es auch für beobachtende soziale Systeme auf der Operationsebene keinen Umweltkontakt gibt, da alle Umweltbeobachtung im System selbst als interne Aktivität und mit Hilfe eigener Unterscheidungen getätigt werden muss (vgl. Luhmann 2018a: 92), und dass diese folglich nicht imstande sind, mit anderen Systemen zu kommunizieren. Eine Ausnahme bilden in diesem Zusammenhang lediglich Organisationssysteme als spezifisch u. a. für diese Herausforderung konstituierter Systemtyp.

Hieraus resultiert auch der Luhmann des Öfteren zum Vorwurf gemachte (vgl. Martens / Ortmann 2006: 460) Steuerungspessimismus der Systemtheorie, wonach soziale Systeme – und damit eben auch gesellschaftliche Funktionssysteme – nicht imstande sind, in jeweils andere bzw. in ihre Umwelt zu intervenieren bzw. in einer solchen Weise steuernd tätig zu werden (vgl. Luhmann 2018a: 753), da ihre Operationen eben immer nur sich selbst gelten können, wenn die System-Umwelt-Differenz nicht aufgelöst werden soll, was dagegen im Falle einer operativen Kopplung zwischen zwei oder mehreren Systemen (scheinbar?) unvermeidlich einträte (was aber – aus der Sicht der Systemtheorie – angesichts des hohen gesellschaftlichen Komplexitätsgrades auch gar nicht praktikabel bzw. schon allein dadurch unmöglich wäre). Insbesondere der moderne Wohlfahrtsstaat steht aus systemtheoretischer Sicht diesem (mitunter gravierenden) Problem gegenüber (vgl. Luhmann 2011; Willke 2006: 240). Jüngere systemtheoretische Ansätze postulieren zwar gewissermaßen mögliche steuerungstheoretische „Umwege“ wie den der Kontextsteuerung (vgl. Willke 2001; Willke 2006: 241ff.); letztendlich bleibt die grundlegende Steuerungsskepsis und die Annahme der „Unwahrscheinlichkeit“ einer gelingenden, erfolgreichen externen Steuerung, die keine Selbststeuerung des Systems ist, aber bestehen. In dieser Auslegung gilt somit auch: „Wenn und soweit funktionale Differenzierung realisiert ist, kann mithin kein Funktionssystem die Funktion eines anderen übernehmen“ (Luhmann 2018a: 753).

An diesem Punkt der Theorie, mit Blick auf die – interne – Selbststeuerungsfähigkeit und Selbstorganisation des Systems (vgl. Luhmann 2018a: 93f.), kommt nun das Konzept der Autopoiesis ins Spiel, das auf den Biologen und Philosophen Humberto R. Maturana zurückgeht und mit dem ausgesagt wird, dass in einem System die Erzeugung der eigenen Operationen nur auf der Basis des Netzwerks der eigenen Operationen funktionieren kann (vgl. Maturana 1981: 21ff.). Bedingt wird dies durch die operative Geschlossenheit des Systems, welche zugleich Folge der Autopoiesis ist: „Das System erzeugt sich selber. Es stellt nicht nur die eigenen Strukturen her (…), sondern es ist auch auf der Ebene der Operationen autonom. Es kann keine Operation aus der Umgebung importieren, kein fremder Gedanke gelangt in meinen Kopf, wenn man ihn als Gedanken ernst nimmt, und kein chemischer Prozess kann kommunikativ werden“ (Luhmann 2004: 110). Auf der Ebene der psychischen Systeme ist das Prinzip der Autopoiesis noch am einfachsten nachzuvollziehen, da diese notgedrungen füreinander intransparent sind. Man kann sich gegenseitig nicht „in den Kopf schauen“, kann allenfalls das Gegenüber über das Instrument der Kommunikation (und damit letztlich nur die Kommunikation selbst!) beobachten – alles Weitere würde telepathische Begabung voraussetzen. Diese Erkenntnis wird hier auf soziale Systeme übertragen: Diese können sich demnach zwar gewissermaßen von außen beobachten, können sich aber gegenseitig nicht „durchdringen“, niemals verstehen, was „wirklich“ im jeweils anderen System vorgeht und sich damit letztlich auch nicht gegenseitig „verstehen“.

Mit dieser Ausgangsthese geht ein umfassender Bruch mit bisherigen erkenntnistheoretischen Annahmen einher, da deren alte Implikation, „dass etwas aus der Umwelt in den Erkennenden eindringt und die Umwelt innerhalb eines erkennenden Systems repräsentiert, gespiegelt, imitiert oder simuliert wird“ (Luhmann 2004: 114), damit verworfen wird, hin zu einem Modell, das eine ausschließlich vom beobachtenden System selbst vorgenommene soziale Konstruktion im Rahmen eigener, durch die Autopoiesis und durch Selbstorganisation (vgl. Luhmann 2004: 100ff.) konstituierter Wahrnehmung und Sinnstiftung vorsieht. Die zugrundeliegende Theorie autopoietischer Systeme sei Luhmann zufolge daher einerseits unterschätzt, aber andererseits auch überschätzt, da der Erklärungswert dessen außerordentlich gering sei (vgl. ebd.: 114). Letzteres, allzu selbstkritisches Urteil darf man übrigens durchaus begründet in Zweifel ziehen: So scheint die besagte Annahme aus der Sicht des in diesen Fragen seit langem hochreflektierten systemtheoretischen Beobachters und Meta-Theoretikers zwar trivial anzumuten; letztlich beinhaltet sie aber wichtige Erkenntnisse für viele Formen praktischer Anwendungen in Bereichen, in denen sie über eine lange Zeit hinweg alles andere als selbstverständlich waren: Man denke hier etwa an das Feld der Systemischen Beratung und (u. a. Familien-)Therapie, im Rahmen derer etwa der tiefenpsychologischen, psychoanalytischen Schule eines Sigmund Freud wichtige grundlegende Argumente entgegengesetzt wurden.

„Funktionale Differenzierung beruht auf einer operativen Schließung der Funktionssysteme unter Einschluß von Selbstreferenz“ (vgl. Luhmann 2018a: 745). Ohne den Begriff der Selbstreferenz ist das Konzept der Autopoiesis nicht denkbar: Er umfasst die Annahme einer „Selbstbezüglichkeit“ (u. a.) sozialer Systeme: Jede Kommunikation ist nur als Anschlusskommunikation an eine vorangegangene Kommunikation innerhalb (!) des Systems denkbar. Systeme halten damit die System-Umwelt-Differenz aufrecht, denn somit sind sie nicht fremdreferenziell, schließen also nicht an Kommunikation in ihrer Umwelt, also außerhalb von sich selbst, an. Dies gewährleistet die Beibehaltung der funktional differenzierten Gesellschaft: Gerichte beziehen sich nur auf Recht, Wirtschaftsunternehmen streben nach Profit, Parteien nach Macht, Wissenschaftler nach Wissen usw. Beobachtete Fremdreferenzen bergen Skandalisierungspotenzial oder werden gar als illegal (z. B. als Korruption) kategorisiert: Man denke beispielhaft an einen Wissenschaftler, dem der Profit wichtiger wird als die Erkenntnis, oder an einen Politiker, der für oder gegen einen Gesetzentwurf stimmt, weil ein Konzern ihn dafür heimlich bezahlt. Die Anforderung der Selbstreferenz der gesellschaftlichen Subsysteme hat tief in deren eigene Selbstbeschreibungen und deren Operationskriterien Einzug gehalten. Gleichwohl gilt es angesichts dieses anschaulichen, aber potenziell missverständlichen, weil eventuell irreführenden Beispiels hinzuzufügen: Menschen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt können selbstverständlich in mehreren Funktionssystemen inkludiert sein und sind hier nicht auf eines festgelegt (vgl. ebd.: 744). Jedoch wird jede entsprechende Zugehörigkeit determiniert durch sich daraus ergebende soziale Rollenerwartungen, im Zuge derer dann Ansprüche und rechtliche und soziale Normen wie die oben genannten erhoben werden. Derartige Erwartungsstrukturen zeigen die alltägliche Präsenz funktionaler Differenzierung auf der Mikro-Ebene auf – jedoch unter Bezugnahme auf Kommunikation und soziale Rollen bzw. an diesen hängende Erwartungen, nicht auf das Individuum als Ganzes: Wenn der Politiker nicht für politische Entscheidungen auf der Lohnliste eines Unternehmens steht, sondern im Zuge einer weiteren sozialen Rolle im Wirtschaftssystem, ist dies auch in einer funktional differenzierten Gesellschaft kein Problem.

Aus den obigen Ausführungen ergibt sich nun eine relevante Folgefrage: Wenn die Differenz von System und Umwelt durch Autopoiesis und Selbstreferenz aufrechterhalten wird, was gewährleistet dann eben Letzteres? Was ist gewissermaßen das Instrument, der Kompass, der „Radar“, der dem System das Erkennen seiner eigenen Grenze sowie eines möglichen Überschreitens ermöglicht? Woher weiß das System, wo es beginnt und wo es aufhört? Was zieht auf sichtbare Weise die Grenze zwischen System und Umwelt, zwischen „selbst“ und „fremd“? An dieser Stelle kommt das Konzept der binären Codierung von Funktionssystemen ins Spiel.

Codes bilden die Leitunterscheidungen der Funktionssysteme, die es diesen über die Bereitstellung einer eigenen Positiv- und einer eigenen Negativseite ermöglichen, ihre Operationen als entsprechende Selektionen auszuführen. Erst die Kontingenz eines explizit binären Codes ermöglicht insofern die Anschlusskommunikation, die für die fortlaufende Autopoiesis des Systems notwendig ist, womit auch sichergestellt wird, dass das System mit dem Erreichen eines Ziels nicht endet, gewissermaßen „einfriert“. Funktionssysteme sind daher nicht teleologischer Natur (vgl. ebd.: 749). Am Beispiel des Rechtssystems lässt es sich wie folgt fassen: „Was als Recht festgestellt ist, kann in der weiteren Kommunikation dazu dienen, die Frage Recht oder Unrecht erneut aufzuwerfen, zum Beispiel eine Rechtsänderung zu verlangen“ (Luhmann 2018a: 749). Erst durch die binäre Natur des Codes ergibt sich für das System die Möglichkeit, aus den eigenen Beobachtungen eine Information zu konstituieren, da diese erst durch eine Abgrenzung, eine Unterscheidung, eine Differenz zustande kommen kann. Mit anderen Worten: Durch „Codierung der Kommunikation über Realität erreicht man, daß alles, was aufgegriffen wird, als kontingent behandelt und an einem Gegenwert reflektiert werden kann“ (Luhmann 1986: 77). Erst dies ermöglicht die Konstituierung, aber auch die Bewertung einer Information, auf deren Basis dann Anschlusskommunikation und Operationen entstehen können und dadurch wiederum Autopoiesis gewährleistet werden kann (vgl. Luhmann 2018a: 752). Einfacher ausgedrückt: Ohne das „Falsche“ kann es nichts „Richtiges“ geben, ohne das „Böse“ nichts „Gutes“ usw. Die Codes der Funktionssysteme müssen hierbei nun als Leitunterscheidungen gedacht werden, die eine Informationskonstruktion im Sinne der Funktion des Systems sicherstellen: Das politische System unterscheidet zwischen Macht und Ohnmacht, das Rechtssystem zwischen Recht und Unrecht, die Wirtschaft zwischen Gewinn und Verlust, die Wissenschaft zwischen Wahrheit und Unwahrheit, die Kunst zwischen schön und hässlich etc. Damit schränken die Funktionscodes die Anschlusskommunikation und damit die folgenden Operationen des Systems hinreichend ein, wodurch die Grenzen des Systems bzw. die System-Umwelt-Differenz mit gewährleistet werden: Das System weiß, was es wie zu beobachten hat und was nicht; es weiß, welche Informationen benötigt werden und welche nicht. Die Operationen des Systems ziehen die Grenzen und „legen (…) fest, was zum System, und (…) was zur Umwelt gehört“ (Luhmann 2018a: 754). Der Code als den Operationen „vorgeschaltete“ Einrichtung setzt Prioritäten, ist eine Art „Filter“, der gewährleistet, dass jede konstruierte Information der Funktion des Systems zweckdienlich ist und andere ausgesiebt werden. Das jeweilige System ist dank seines Codes „blind und taub“ für andere Unterscheidungen und reduziert damit die Umweltkomplexität, verhindert also die eigene informative Überreizung. Wieder beispielhaft mit Blick auf das Rechtssystem formuliert: Alles, was ist, alles, „was der Fall sein kann, ist entweder Recht oder Unrecht“ (Luhmann 1995: 185). Luhmann fügt hier hinzu, dass im Rahmen der Selbstbeschreibung des Systems die Codes dahingehend vereinfacht werden, dass nur jeweils die Positivseite des Codes als der eigentliche Sinn des Systems gedeutet wird, während die Negativseite als die nicht erwünschte gilt, was die Darstellung der operativen Zielrichtung des Systems erleichtert (vgl. Luhmann 2018a: 750). Dritte Möglichkeiten bzw. deren Wahrnehmung und kommunikative Anschlüsse an diese werden durch die binäre Natur des Codes ausgeschlossen (vgl. ebd.: 753).

Codes ziehen weiteren Regelungsbedarf im System nach sich, da es Kriterien braucht, die festlegen, unter welchen Umständen der Wert oder eben der Gegenwart angemessen sind: „Wir nennen solche Regeln Programme“ (Luhmann 2018a: 750). Programme konkretisieren also die lose, funktionsbezogene Rahmensetzung des Codes mit Blick auf die konkreten, jeweils aktuell notwendigen Operationen des Systems. Zugleich sind sie in der Weise, in der Codes letztlich für die operative Schließung und die Funktionslogik eines gesellschaftlichen Teilsystems zuständig sind, für die Umweltoffenheit dessen unerlässlich, da sie in gewisser Weise Strukturelemente anderer Funktionssysteme in eben dieses System installieren (vgl. Schimank 2007: 149), welche dann aber unter die Maßgabe des übergeordneten, speziellen und eigenen Codes gestellt werden. Das begründet eine paradox scheinende, aber hoch effektive Systemeigenschaft, denn durch „die Differenzierung von Codierung und Programmierung gewinnt das System (…) die Möglichkeit, als geschlossenes und als offenes System zugleich zu operieren“ (Luhmann 1986a: 91, Hervorhebungen entfernt; zitiert nach Schimank 2007: 149), in einer Art Spannungsfeld zwischen Autonomie einerseits und Abhängigkeit andererseits (vgl. Schimank 2007: 151). Beispielhaft wären hierfür etwa Rechtsnormen denkbar, die als Programmelemente in Funktionssystemen auch außerhalb des Rechtssystems selbst dienen, beispielsweise in der Wirtschaft. Aus diesem theoretischen Konzept ergibt sich, dass insofern nicht jede Auffälligkeit, im Zuge derer bei Funktionssystemen Elemente aus der Systemumwelt zu Tage treten, automatisch auf Entdifferenzierung hindeutet. Programme mit systemfremden Elementen sind zunächst einmal auch in der funktional differenzierten Gesellschaft Normalität. Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass nicht auch schon bereits auf der Programmebene entdifferenzierende Entwicklungen erfolgen können.

Mit dem theoretischen Grundbaustein der operativen Schließung und der Autopoiesis des Systems wird die konstruktivistische Prämisse sichtbar, die das Modell der Systemtheorie durchzieht. Die zentrale Botschaft, die die oben dargelegten Erörterungen zusammenfasst lautet: „Alles, was als Realität erfahren wird, ergibt sich aus dem Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation, und nicht aus einem Sichaufdrängen der irgendwie geordnet vorhandenen Außenwelt“ (Luhmann 2018a: 95f.). Anders gesagt: Die Realität wird über Kommunikation und die in ihr jeweils (etwa über Codierung konstituierten) herrschenden Unterscheidungen sozial konstruiert und ist demnach nichts, was in einer eben solchen Form bereits „da“ wäre und dann bloß entsprechend rezipiert würde. Jede Beobachtung der Umwelt ist insofern selbst eine soziale Konstruktion und im eigentlichen Sinne Selbstbeobachtung, da sie nach den jeweils eigenen Systemunterscheidungen verläuft und von diesen geprägt wird. Beispielhaft erklärt: Beobachtet das politische System einer funktional differenzierten Gesellschaft etwa das Aufkommen einer Wirtschaftskrise, so wird die codierungsdeterminierte Realitätskonstruktion des Systems prioritär die politischen Folgen dessen in den Mittelpunkt stellen, codierungsbedingt mit Blick auf das Risiko eines möglichen Machtverlusts bzw. eines möglichen Machtgewinns. Geschieht in einem westlichen Land ein Terroranschlag größerer Tragweite, so wird das Finanzsystem diesen nicht mit Blick auf die möglichen Ursachen betrachten oder analysieren, sondern hinsichtlich der Folgen, die dieser möglicherweise für die Börsenkurse haben könnte. Die Leitunterscheidung des Systems konstruiert die eigene jeweilige Realität, die sich in ihrer Konstitution massiv von der eines anderen Systems unterscheiden kann.


Literatur

Luhmann, Niklas (1986). Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Luhmann, Niklas (1995). Das Recht der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2004). Einführung in die Systemtheorie (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

Luhmann, Niklas (2011). Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München: Olzog.

Luhmann, Niklas (2018a). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. I & II) (10. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2018b). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (17. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Martens, Will / Ortmann, Günther (2006). Organisationen in Luhmanns Systemtheorie. In: Alfred Kieser / Mark Ebers (Hrsg.), Organisationstheorien (6. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. S. 427-461.

Maturana, Humberto R. (1981). Autopoiesis. In: Milan Zeleny (Hrsg.), Autpoiesis: A Theory of Living Organizations. New York: North-Holland. S. 21-32.

Schimank, Uwe (2007). Theorien gesellschaftlicher Differenzierung (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Willke, Helmut (2001). Systemtheorie III: Steuerungstheorie (3. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius.
 
Willke, Helmut (2006). Systemtheorie I: Grundlagen (7. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius.

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