Das Ende von Hartz IV – Jedenfalls auf dem Papier

Die Geschichte eines beispiellosen Sozialabbaus – und ein verfehlter Neubeginn?

Die neue Ampelkoalition hat angekündigt, Hartz IV abschaffen und durch ein Bürgergeld ersetzen zu wollen. Damit soll eine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Ära zu Ende gehen, die in den Jahren 2003/2004 von einer beispiellosen Sozialabbau-Reform der damaligen rot-grünen Bundesregierung eingeläutet worden war.

Wer die Hartz-Reform in den Jahren 2003 und 2004 bereits bewusst, als politischer Mensch, miterlebt hat, der erinnert sich an eine Zeit massiver sozialer Verwerfungen: Wöchentliche „Montagsdemos“ in allen bundesdeutschen Großstädten, in besonders großer Zahl in den Städten der neuen Bundesländer. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien SPD und Grüne sowie Massenmedien warnten, bei den Montagsdemos würden die PDS und Neonazis „Seit‘ an Seit‘“ marschieren. Eine Situation, die einem heute auf seltsame Weise bekannt vorkommen mag, die aber auch zeigt, dass die Taktik des politischen Establishments, zu dem die PDS damals noch nicht in dem Maße gehörte wie ihre heutige Nachfolgepartei, schon damals darauf abzielte, Opposition durch die Nazi-Kontaktschuld zu diskreditieren und dadurch zu eliminieren. Es gelang ihnen jedoch damals so wenig wie heute, im Gegenteil: Die Montagsdemos waren die Geburtsstunde von Oskar Lafontaines „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die sich später mit der PDS zur heutigen Partei Die LINKE fusionierte. Krisen sind oftmals die Geburtsstunde neuer politischer Kräfte, wie man auch aus der AfD-Perspektive heraus weiß.

Grund- statt Lebensstandardsicherung

Mit der Hartz-Reform wurde der vormals konservative Sozialstaat der Bundesrepublik in einen (neo-)liberalen transformiert, der sich, ganz passend zum Schröder-Blair-Papier und zur wirtschaftsliberalen Ausrichtung des damaligen sozialdemokratischen Bundesarbeitsministers Wolfgang Clement (dem zuständigen Minister des Sozialstaatsumbaus), in bestimmten Punkten dem niedrigeren Niveau sozialer Sicherungssysteme annäherte, das wir aus Großbritannien und den USA kennen. Anstatt der vormaligen Arbeitslosenhilfe, die sich, wie auch das heutige Arbeitslosengeld I, am vorigen Einkommen orientiert und daher im konservativen Sinne auf die Aufrechterhaltung des vormaligen Lebensstandards und Wohlstandsniveaus des Betroffenen setzt, ging es jetzt nur noch um die Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse im Sinne einer „Grundsicherung“.

Für viele Menschen, die unverschuldet, etwa durch ihr Alter und daraus generierte „fehlende Vermittelbarkeit“, in die Langzeitarbeitslosigkeit geraten waren, eine persönliche Katastrophe in Form eines sozialen Abstiegs. Eines Abstiegs, der sich hunderttausenden von Empfängern des neuen „ALG II“ (Hartz IV), mit Pierre Bourdieu gesprochen, nicht nur im ökonomischen Kapital zeigte (also in Form des materiellen Besitzes), sondern auch im sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital, in denen das „Minus“ dominierte: Wegfall von langjährig angelegten Ersparnissen, Wegfall von langjährigem Haus oder langjähriger Wohnung, penible finanzielle Durchleuchtung durch die zuständigen Ämter (auch die Namensänderungen von „Arbeitsamt“ zu „Arbeitsagentur“, zum „Jobcenter“ deuteten den angelsächsisch-neoliberalen Wandel zum Business-Sprech bereits symbolisch an), Zwang zur Annahme von Jobs bis zu 30 % unter Tarif, kurz gesagt: Entwürdigung von Menschen, die nach langem Arbeitsleben, langjährigen produktiven Leistungen für die Gemeinschaft zu Bittstellern in Amtszimmern wurden. Kein Wunder, dass die Proteste außerordentliche Dimensionen annahmen – und nur folgerichtig, dass Teile der SPD und der Grünen sowie die Linke wie auch die Gewerkschaften niemals ihren Frieden mit der Reform machen konnten.

Drastische gesellschaftliche Folgen

DGB-Vertreter bemängelten damals, Arbeitslosigkeit solle lediglich „billiger gemacht“ werden. Am Ende verschärfte sich die Armut in der Bundesrepublik in der Tat, nicht zuletzt auch verschuldet durch die hohe Anzahl an Arbeitslosen: 4 Millionen Menschen wurden auf das damalige Sozialhilfe-Niveau „gedrückt“; Hunderttausende fielen unter die offizielle Armutsgrenze. Auch das spezifische Phänomen der Kinderarmut wurde laut Information des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes deutlich wahrscheinlicher gemacht, ebenso Altersarmut. Die UN kritisierte gar, Bezieher von ALG-II-Grundsicherung hätten keinen „angemessenen Lebensstandard“ zu erwarten. Durch das Minijob-Unwesen wurde der Niedriglohnsektor, der die Schönung der offiziellen Statistiken begünstigte, massiv ausgebaut – ein weiterer Schritt in Richtung sozialer Amerikanisierung.

Auch die kollektivpsychologische Dimension hinter Hartz IV ist zu beachten: Installierte man mit der Hartz-Reform doch letztlich ein sozialadministratives Instrumentarium, das letztlich auf einer Art Generalverdacht gegenüber dem eigenen Volk basierte: Jeder Transferleistungsempfänger stand für die betreffenden Behörden fortan unter dem Verdacht, Sozialmissbrauch zu begehen, und wurde und wird bis heute entsprechend durchleuchtet – und dies in den meisten Fällen immer noch unverschuldet, was das eigene berufliche Schicksal angeht. Führt man hier nun noch den Vergleich mit der Grenzöffnung 2015 ins Feld, im Zuge derer zehntausende Asylmigranten unkontrolliert einwandern konnten, ohne dass die politischen Entscheider einen solchen Generalverdacht über die Zuwanderer aus teils islamistisch dominierten Weltregionen verhängt hätten, wird der Fall der Hartz-Reform zu einem besonders perfiden Beispiel für eine Politik, die sich gegen das eigene Volk richtete.

Bei alldem ebenfalls nicht zu vernachlässigen: Der individualpsychologische Aspekt. Das Ausmaß an individuellen Existenzängsten, die Hartz IV bei Betroffenen oder eben möglicherweise zukünftig Betroffenen auslöst, ist enorm. Nicht nur schlechte und / oder unterbezahlte Arbeit, sondern auch sozioökonomische Existenzangst kann psychisch krank machen (oder entsprechende Krankheitsdynamiken verstärken). In Corona- und Lockdown-Zeiten, in denen tausende Menschen unschuldigerweise in derlei Existenzängste fallen, hat dieses Phänomen nochmal eine umso dramatischere Bedeutung für den sich stets verstärkenden Riss in der Gesellschaft, den der neue Bundeskanzler so beharrlich verleugnet.

Das Bürgergeld als Neubeginn?

Doch nun also: Bürgergeld – eine vermeintlich neue Form der Grundsicherung, bei der die Handschrift nicht nur von SPD und Grünen, sondern auch der FDP deutlich wird. Hartz IV soll damit abgeschafft werden. Doch kann die angekündigte Reform halten, was sie verspricht?

Zuerst die gute Nachricht: Es soll laut Koalitionsvertrag ein „Weiterbildungsgeld“ von 150 Euro im Monat geben, das jeder zusätzlich zum Regelsatz bekommt, der eine Weiterbildung macht. Hier darf man gespannt sein, wie die konkrete administrative Umsetzung erfolgt: Angesichts der bisherigen, teils surreal-sinnlos anmutenden „Maßnahmenpraxis“ manchen Jobcenters mag es durchaus nicht unrealistisch sein, dass auf diese Weise künftig die absurdesten Weiterbildungen belegt werden, um wenigstens den spärlichen Regelsatz etwas aufzustocken. Ein Lachyoga-Kurs ist lächerlich? Egal, gibt ja Weiterbildungsgeld, also hin. Zugegebenermaßen: Ein überspitztes Beispiel – aber angesichts der Unsinnigkeiten von manch bisherigen Maßnahmen im Kontext des Hartz-IV-Systems durchaus nicht unrealistisch.

In den ersten zwei Bezugsjahren soll das Bürgergeld, anders als ALG II, ohne Prüfung des Vermögens oder der Wohnung ausgezahlt werden. Dadurch können Bezieher nicht mehr so schnell wie bisher zum Umzug gezwungen werden. Auch soll das sogenannte Schonvermögen erhöht werden. Hier ist, so viel kann man zugeben, eine spürbare Verbesserung für die Betroffenen erkennbar. Das Agieren in den Jobcentern solle außerdem „einfühlsamer“ werden. Hier ist noch Skepsis geboten – hängt doch eben jenes konkrete Agieren auch sehr von den jeweils zuständigen Arbeitsvermittlern ab. Schlechte Nachrichten gibt es dagegen dort, wo es ganz konkret wird: Von einer Erhöhung der Regelsätze ist bislang nicht die Rede – das bedeutet, auch von den Beziehern des „Bürgergeldes“ werden wohl die meisten betroffenen Haushalte unterhalb der Armutsgrenze bleiben, so der DGB. 

Wie es bei einer Dreierkoalition zu erwarten ist, sind der Koalitionsvertrag und auch die bisherigen Ankündigungen der Vertreter der neuen Regierung bislang sehr nebulös geblieben – zu viel Konkretisierung könnte eben den (in diesen Fragen) mitunter inhaltlich weiter entfernten Koalitionspartner schnell verprellen. Insofern sollte man sich hüten, von der links- und neoliberalen Ampel-Regierung zu viel zu erwarten: Bislang sieht es eher nach neuem Namen und neuer Rhetorik aus – nicht aber nach grundsätzlichen Veränderungen und Verbesserungen für Betroffene. Der Geist von Hartz wird wohl im Bürgergeld weiterleben.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die plötzlich Verhärmte

„Christliches“ Abendland?

Zwischen Distanzeritis und Dämonisierung