Systemtheorie III: Strukturelle Kopplung und Irritation


Autopoiesis, die fortlaufende Selbstreproduktion eines sozialen Systems – und damit das Fortbestehen des sozialen Systems generell –, kann es nur geben, wenn Anschlusskommunikation erfolgt, da soziale Systeme aus Kommunikation bestehen. Nimmt man diese Prämisse zur Kenntnis, so folgt daraus die Frage nach dem Wesen der Kommunikation aus systemtheoretischem Blickwinkel. Luhmann definiert sie wie folgt: „Kommunikation kommt (…) dadurch zustande, daß zwischen Mitteilung und Information unterschieden und der Unterschied verstanden wird. Alle weitere Kommunikation kann sich dann entweder auf die Mitteilung oder auf die Information beziehen; aber dies nur durch eine Anschlußkommunikation, die ihrerseits wieder die Differenz von Mitteilung und Information reproduziert“ (Luhmann 2018: 97). Die selbstbezügliche, autonome Anschlusskommunikation gewährleistet also das Fortbestehen des Systems, welches andererseits aufhören würde zu existieren. Es ist also gerade der Zustand der operativen Geschlossenheit, der über die Aufrechterhaltung der System-Umwelt-Differenz in der systemeigenen Kommunikation die Existenz wie auch die Identität des Systems begründet.

Und dennoch gilt: Soziale Systeme sind zwar autonom, aber nicht autark (vgl. Schimank 2006: 74). Anders gesagt, Systeme existieren und operieren nicht im „luftleeren Raum“: „Gerade als funktional spezialisierte können die Teilsysteme der modernen Gesellschaft nicht autark, sondern müssen umweltoffen in dem Sinne sein, dass sie vielfältige Leistungen anderer Systeme beanspruchen und erhalten“ (Schimank 2006: 74). Die fortlaufende, das System am Leben erhaltende Anschlusskommunikation speist sich zwar letzten Endes aus sich selbst heraus, kann dabei aber nicht ohne Beobachtung der Umwelt des Systems auskommen, da es ohne diese keine Informationen gäbe, die verarbeitet werden können, und somit auch keine eigene Anschlusskommunikation. Auch eine – in einem sich dauerhaft verändernden Gesellschaftssystem stets notwendige – Anpassung an entscheidende soziale Umwelterwartungen wäre ohne Beobachtung und Information nicht möglich, so dass das betreffende soziale System in einem solchen Fall an fehlender Flexibilität zugrunde gehen würde (man stelle sich hier exemplarisch ein nationales Wirtschaftssystem vor, welches nicht mehr das Wissenschaftssystem beobachten und sich somit nicht mehr über den neuesten technischen oder medizinischen Fortschritt informieren würde – binnen kürzester Zeit würde es im internationalen Vergleich zu einem Rückstand kommen, der im schlimmsten Fall irgendwann im Kollaps endet). Hierin erkennen wir das Element sozialer Evolution wieder: Diejenigen sozialen Systeme (und Systemstrukturen), die zur notwendigen, bestmöglichen Anpassung an äußere soziale Kontexte imstande sind, sind diejenigen, welche überleben und sich gegebenenfalls sogar durchsetzen und verbreiten. Dies wäre jedoch ohne die (nur zunächst paradox erscheinende) Gleichzeitigkeit von operativer Schließung einerseits, aber eben auch struktureller Kopplung andererseits so nicht denkbar.

Strukturell ist in diesem Zusammenhang also ein Begriff, der sich vom Terminus Operativ abgrenzt, indem er auf etwas Stabiles und trotz Fortgang der Kommunikation identisch bleibendes verweist, welches einen festen Rahmen für die jeweilige Kommunikation setzt (vgl. Luhmann 2018: 99). Und dennoch bildet das eine die Grundlage des anderen: Um seitens des Systems eine Grenze zwischen sich und der Umwelt zu ziehen, bedarf es der Möglichkeit und Fähigkeit der Beobachtung. Erst wenn das System weiß, was es nicht ist, weiß es, was es ist – die Abgrenzung zur Umwelt begründet seine Identität als System. Hierbei ist freilich jede Beobachtung der Umwelt letzten Endes Selbstbeobachtung, denn sie erfolgt nach Maßgabe der jeweils eigenen Codierung, der jeweils eigenen sozialen Konstruktion, der jeweils eigenen Realität. Die Umweltbeobachtung ist demnach in vielerlei Hinsicht die Illusion einer Umweltbeobachtung, deren systembedingte Subjektivität durch das beobachtende System selbst nicht erkannt wird und nicht erkannt werden kann. Sie wird als objektiv ummantelt, da nur dadurch das Beobachtungsergebnis, die daraus resultierende Information als „seriös“ und nützlich gewertet werden kann.

Strukturelle Kopplungen bilden, diese beschriebenen Prämissen vorausgesetzt, zwischen Funktionssystemen nun in gewisser Weise „Brillen“ oder „Ferngläser“, mittels derer sich diese gegenseitig beobachten bzw. eine als Fremdbeobachtung ummantelte Selbstbeobachtung durchführen können. Bleiben wir bei dem vorgeschlagenen Bild der „Brille“ oder des „Fernglases“, so müsste man sich diese mit einem eingebauten Spiegel vorstellen, der für den Beobachter jedoch nicht als solcher erkennbar ist. Mit anderen Worten könnte man hier auch von einer Projektion der jeweils eigenen Leitunterscheidung auf das jeweils beobachtete System sprechen, welches die beobachtete Umwelt immer nur unter der Maßgabe eben dieser anzeigt. Beobachtet die Pharmaindustrie als Teil des Wirtschaftssystems Erkenntnisse der medizinischen Forschung (also das Wissenschaftssystem), nach denen eine bestimmte neue Substanz Wirkungen zeigt, die sie als neues Medikament geeignet erscheinen lassen, so erfolgt dies nach der Leitunterscheidung von Gewinn und Verlust: Wichtig ist in dem Moment nicht, welche wissenschaftlichen Implikationen die pharmazeutische Innovation in sich birgt und auch nicht, wie viele Menschen damit tatsächlich geheilt werden können. Wichtig ist, wie viel Gewinn sich damit am Markt erzielen lässt. Die Funktionslogik des Wirtschaftssystems determiniert die Art der Beobachtung und damit auch die daraus generierte Information bzw. Erkenntnis. Die Beobachtung wird zur Selbstbeobachtung, zur Beobachtung der eigenen Prioritäten und der Folgen der entsprechenden Prioritätensetzung.

Keine Beobachtung, die ein System unternimmt, erfolgt ohne zugrundeliegende Erwartungen. Basierend auf der vorangegangenen Kommunikation, vorangegangenen Operationen und vorangegangenen Umwelt- und dadurch eben auch Selbstbeobachtungen werden stetig Erwartungen generiert, mit denen das System an zukünftige Kommunikationen, Operationen und Beobachtungen herangeht, und welche in der Folge entweder bestätigt oder enttäuscht werden können. Tritt eine Enttäuschung der Erwartungen ein, so zieht dies eine Irritation des Systems nach sich, welche zu einer Veränderung vorangegangener Kommunikationen und Operationen führen kann. Luhmann definiert Irritationen als „Systeminnenseite der strukturellen Kopplung“ (Luhmann 2018: 118) und setzt sie mit Reizen, Störungen oder Perturbationen gleich (vgl. ebd.: 118). Derlei Irritationen bewirken letztlich die erforderliche Umweltanpassung eines Systems, welches durch sie erfährt, in welcher Weise es sich und seine Operationen gegebenenfalls verändern muss, um sein eigenes Fortbestehen zu gewährleisten. Irritationen (bzw. vorangegangene Enttäuschungen von Erwartungen) begründen also Informationen, die das System verwerten und nutzen kann.

Irritierbarkeit ist insofern auch eine zwingende Grundvoraussetzung eines Systems, wenn dieses fortexistieren will, und zugleich das, was seine Autonomie erst begründet. Zugleich gilt hier selbstverständlich auch jene Eigenheit, die oben bereits für das Element der Beobachtung festgehalten wurde, analog: Eintretende Irritationen aufgrund von Beobachtungen sind, im engeren Sinne, stets Selbstirritationen (vgl. Brodocz 2003: 81), da sie immer auch auf der Basis von Selbstbeobachtungen erfolgen. Sie sind das Resultat von selbst gesetzten, sodann enttäuschten Erwartungen aufgrund eigener Codierungen und eigener Leitunterscheidungen, also streng genommen Veränderungen in der Realitätswahrnehmung, die eigentlich Veränderungen der eigenen nicht-strukturellen Realitätskonstruktion aufgrund von strukturellen Elementen der eigenen Realitätskonstruktion sind. In diesem Sinne gibt es hier nichts Äußeres und aus der Umwelt Kommendes, was hier in das System aktiv hineinwirken würde, sondern lediglich die Konstruktion bzw. Wahrnehmung von etwas Äußerem bzw. aus der Umwelt Kommendem, das dieses täte (vgl. Luhmann 2018: 118): „Das System hat dann die Möglichkeit, die Ursache der Irritation in sich selber zu finden und daraufhin zu lernen oder die Irritation der Umwelt zuzurechnen und sie daraufhin als „Zufall“ zu behandeln oder ihre Quelle in der Umwelt zu suchen und auszunutzen oder auszuschalten“ (Luhmann 2018: 118f.). Insofern muss das System auch autonom, autopoietisch und sich seiner eigenen Identität gewiss sein, um überhaupt beobachten und sich irritieren lassen zu können. Man kann also ebenso sagen, „daß die operative Schließung eines Systems Voraussetzung ist für seine Offenheit in Bezug auf die Umwelt“ (Luhmann 2000: 105).

Jedes Funktionssystem der Gesellschaft ist in vielfacher Weise strukturell gekoppelt, mit wiederum jeweils anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen, was „zur Folge [hat], daß keiner dieser Außenbeziehungen die Führung überlassen werden kann und Engpaßprobleme vorübergehender Natur sind“ (Luhmann 2018: 780). Es gibt also demnach kein „Primat“ einer bestimmten strukturellen Kopplung, was sich deckt mit der Grundthese funktionaler Differenzierung, mit der das Fehlen eines hierarchischen Systemverhältnisses einhergeht. Gleichwohl gibt es aber strukturelle Kopplungen, die für die Aufrechterhaltung eben jener funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur eine besondere bzw. herausgehobene Rolle spielen. Hierunter fällt eben gerade auch die Verfassung als Einrichtung der strukturellen Kopplung von Politik und Recht (vgl. Luhmann 2018: 782f.). Abseits dieser nennt Luhmann aber auch noch einige andere Beispiele essenzieller struktureller Kopplungen in der modernen Gesellschaft, die zur Illustrierung dieses speziellen Konzeptes der Systemtheorie gut geeignet sind.

So demonstriert etwa das Beispiel der Steuern und Abgaben als struktureller Kopplung von Politik und Wirtschaft (vgl. ebd.: 781) deren Charakter als Beobachtungseinrichtung beider Funktionssysteme füreinander. Anhand der Steuereinnahmen realisiert die Politik, wie es um die Wirtschaft bzw. bestimmte Zweige dieser steht, während die Wirtschaft anhand der Steuerpolitik grundlegende Wünsche, Erwartungen und Steuerungsansprüche ablesen kann. Wird auf eine Ware eine Steuer erhoben, so ist diese zwar nicht zwingend, aber möglicherweise politisch missliebig geworden, und ihr Konsum wird daher via Steuer finanzielle Einbußen beim Konsumenten nach sich ziehen. Auch klassische Pole des politischen Spektrums – bezieht man sich hier nun auf die Unterscheidungen rechts versus links, sozialistisch versus liberal, konservativ versus progressiv oder kollektivistisch versus individualistisch – und deren jeweilige politische Wirkmächtigkeit im Rahmen etwa einer Regierungskoalition können über die Beobachtung der jeweiligen Steuerpolitik in den für die Wirtschaft relevanten (also: codierungsdeterminierten) Fragen von eben dieser identifiziert werden.

Zwischen Recht und Wirtschaft macht Luhmann als Einrichtung struktureller Kopplung u. a. die Institution des Vertrages aus (vgl. ebd.: 783f.). Die Wirtschaft kann über diesen die durch ihn hergestellte Verbindlichkeit ihrer Operationen prüfen und gewährleisten, während das Rechtssystem durch ihn die für es wesentlichen Vorgänge der wirtschaftlichen Umwelt im Rahmen der eigenen, codierungsbedingten „Sprache“ erkennen kann. Verträge gleichen in kommunikativer Hinsicht einer „Übersetzungseinrichtung“ zwischen Wirtschaft und Recht – freilich einer, die eher die Fiktion einer Übersetzung schafft, da beide beteiligten Funktionssysteme letztlich weiter ausschließlich ihre eigene „Sprache“ sprechen und auch die des jeweils anderen Systems ausschließlich in eben dieser „verstehen“ können (den Begriff des „Verstehens“ gilt es hier ganz bewusst nur in Anführungszeichen zu lesen, da für ein wirkliches Verstehen eben eine echte Kommunikation vorliegen müsste, die aber zwischen Funktionssystemen eben aus den genannten Gründen nicht eintreten kann). Das besagte Beispiel ist hier nun insofern instruktiv, als dass es eben jene ambivalente (weil gewissermaßen von Illusionen und Fiktionen belastete) Funktion struktureller Kopplungen deutlich aufzeigt.

Die Funktionssysteme Wissenschaft und Erziehung „werden durch die Organisationsform der Universitäten gekoppelt“ (ebd.: 784), welche durch die Kombination von Forschung und Lehre entsprechende Beobachtungsleistungen für beide Systeme erbringen. Das Beispiel macht zugleich eine weitere Facette struktureller Kopplungen deutlich, nämlich die besondere Rolle von Organisationssystemen, auf deren Basis sie mit hergestellt werden können (vgl. Luhmann 2000: 396ff.). Organisationen bilden durch ihre besondere Struktur, die sich aus Merkmalen wie Hierarchie, Mitgliedschaft, kommunikative Verbindlichkeit und ebenso verbindlicher Motivgeneralisierung sowie Zweck- und Konditionalprogrammen zusammensetzt, einen bestimmten Systemtypus, der Komplexität und Kontingenz reduziert – dadurch sozusagen das Beobachtungsobjekt besser fokussiert und alles andere ausblendet – und auf diese Weise Beobachtbarkeit herstellt oder zumindest erleichtert. Luhmann nennt exemplarisch in diesem Kontext zudem die Hochschuldidaktik (vgl. Luhmann 2018: 785): Diese „verwissenschaftlicht“ gewissermaßen die akademische Erziehungsleistung, systematisiert sie und macht sie vor allem überprüfbar, schafft Grundlagen für Evaluationen etc. Mit anderen Worten: Sie begründet eine strukturelle Kopplung beider Systeme, indem sie eine „Brille“ zur gegenseitigen Beobachtung schafft, dies jedoch natürlich stets ausschließlich unter der Maßgabe des jeweils eigenen Codes. Hochschuldidaktik aus wissenschaftlicher Sicht dient der Findung der Erkenntnis; Hochschuldidaktik aus erzieherischer Sicht hingegen der guten Ausbildung der Studenten. Die Beobachtung bleibt auch hier letztlich Selbstbeobachtung, und eventuell eintretende Enttäuschungen von Erwartungen führen zu Irritationen, die auch in diesem Fall letztlich Selbstirritationen sind.



Literatur

Brodocz, André (2003). Das politische System und seine strukturellen Kopplungen. In: Kai-Uwe Hellmann et al. (Hrsg.), Das System der Politik: Niklas Luhmanns politische Theorie. Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 80-94.

Luhmann, Niklas (2000). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2018). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. I & II) (10. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 
 
Schimank, Uwe (2006). „Feindliche Übernahmen“: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft. In: Ders., Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung: Beiträge zur akteurszentrierten Differenzierungstheorie 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 71-83.

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