Narzissmus als dauerhaftes Irritationsbedürfnis

In der Alltagssprache sprechen wir für gewöhnlich von „Narzissmus“, wenn wir es mit einer besonders selbstverliebten Person zu tun haben. Zugleich bezeichnet der Begriff jedoch auch eine Persönlichkeitsstörung, die sich für Betroffene und ihr Umfeld in gravierender Form auswirken kann und für die erstere oft nur bedingt selbst etwas können. Damit deutet sich bereits das erste große Problem an, das in diesem Artikel zwar nicht im Mittelpunkt steht, aber dennoch Erwähnung finden muss: Das der sozialen Etikettierung, die dadurch bewusst oder unbewusst entsteht.

Begriffe, die im Alltag Gebrauch finden, sind dementsprechend bekannt und oft auch mit einer Wertung konnotiert. So ist Narzissmus allgemeinhin eine recht negativ konnotierte Zurechnung, wodurch Personen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung automatisch den Auswirkungen dieser alltagssprachlichen Negativassoziation ausgesetzt sind und dafür „in Haftung“ genommen werden – ohne dass mit einer entsprechenden Diagnose eine solche Wertung beabsichtigt oder auch nur annähernd sinnvoll ist. So sehr sich der Autor dieser Zeilen auch gegen eine künstliche Veränderung von Sprache aus Political-Correctness-Gründen ausspricht: Hier könnte eine Umbenennung der betreffenden Störung tatsächlich einmal sinnvoll sein, um derlei Etikettierungsprozesse zu verhindern. Es spricht viel dafür, dass es eine Aufgabe der Psychiatrischen Soziologie sein könnte, sich dieser Sache anzunehmen.

Doch nun zum eigentlichen Gegenstand dieses Textes.

Psychische Systeme – wir sprechen hier bewusst nicht von „Menschen“, da eine derartige Formel noch vieles mehr umfasst, um das es hier jedoch nicht geht – bedürfen, wie soziale Systeme auch, der ständigen Irritation durch ihre soziale Umwelt, um sich auf sie einstellen zu können. Systeme, die nicht in ausreichendem Maße irritierbar sind, geraten in ihrem Verhältnis zur sozialen Umwelt geradezu unausweichlich in Schwierigkeiten. Ein plastisches Beispiel für einen solchen Fall ist das Phänomen des Autismus, im Zuge dessen psychische Systeme geprägt sind durch eine zu hohe operative Geschlossenheit, die sie von ihrer Umwelt abschottet, in ihrer Irritationsfähigkeit gravierend einschränkt und durch das sie im Alltag auf die Hilfe anderer angewiesen sind.

Auch das Gegenteil ist denkbar: Psychische Systeme, die in zu hohem Maße irritierbar, also für ihre soziale Umwelt zu offen sind, leiden demgegenüber nicht selten an Erkrankungen wie Zwangsstörungen oder Depressionen, die aus dem Fehlen eines seelischen „Filters“ (systemtheoretisch ausgedrückt: einer Leitdifferenz) her resultieren, aufgrund dessen es dem System nicht gelingt, eine innere Operation (eine Handlung, einen Gedanken, eine Entscheidung o. ä.) zu ihrem notwendigen Abschluss zu bringen, so dass diese entweder immer wieder wiederholt werden müssen oder aber im Meer der Selbstreflexion (platter: Grübelei) versinken.

Ein psychisches System, das als narzisstisch beschrieben wird, ist – zunächst einmal – nicht auf eines dieser beiden Enden der Offenheits- bzw. Geschlossenheits-Skala festlegbar. Ein „narzisstisches“ psychisches System kann sowohl zu offen als auch zu geschlossen sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang erst einmal die Tatsache, dass seine Störung etwas über ein empfundenes Bedürfnis aussagt: Das Bedürfnis zur dauerhaften, beständigen Irritation, der dauerhaften kommunikativen Rückmeldung seitens der sozialen Umwelt oder von Teilen dieser, in Form anderer psychischer Systeme – präferiert in positiver Form (z. B. durch Anerkennung), vor allem aber in reichhaltiger. Entgegen den weitläufig üblichen Vorurteilen über Narzissmus müssen diese Rückmeldungen nicht immer zwingend ein positives Loben o. ä. beinhalten, sondern vor allem in reichlichem Maße vorhanden sein. Das psychische System muss beständig irritiert werden und dabei ist es erst einmal sekundär, auf welche Weise. Das Selbstwertgefühl vermag sich schon durch die Reaktion als solche zu steigern.

Das Irritationsbedürfnis drückt sich aus in der charakteristischen, ständigen und teilweise exzessiven Suche nach äußerer Bestätigung: Kontingenz, also Ungewissheit, Unsicherheit, ja auch Unplanbarkeit der Zukunft wird als unerträglich erlebt. Narzissmus ist in nicht wenigen Fällen gerade gekennzeichnet durch gravierende Unsicherheit in Bezug auf die eigene soziale Rolle, gleich in welchem sozialen System, sei es Familie, Beruf oder Beziehung. Es bedarf der ständigen Rückversicherung, der ständigen, wiederholten Stabilisierung der eigenen Identitätsfindung. Wer oft hören will, dass er oder sie kompetent ist, kreativ, schön, liebenswert etc., der ist sich über diese Dinge selbst nicht in ausreichendem Maße im Klaren. Es muss immer wieder gehört, immer wieder bestätigt werden, damit niemals auch nur der Hauch einer Gefahr aufkommen kann, dass es jemals anders werden oder auch nur anders wahrgenommen werden könnte.

Auf die jeweils andere Seite, also grob gesagt die soziale Umwelt, wirkt dies dann gerne selbstverliebt: Wer oft hören will, dass er toll, gut, fähig und schön ist, oder dieses Bedürfnis irgendwie in anderer Form zum Ausdruck bringt, muss ja „selbstverliebt“ sein, ein großes Ego haben. Grundlage dieses Verhaltens ist aber zumeist das Gegenteil: Tiefgreifende Unsicherheit in Bezug auf die eigene Person und Identität, die sich mal in Narzissmus ausdrückt, mal aber – etwa in Beziehungen – auch bspw. durch rasende Eifersucht oder besitzergreifendes Verhalten.

In derlei liebesbasierten Zweiersystemen kann der andere dann „nie genug“ sein. Der andere muss dem Narzissten „gehören“. Nicht nur müssen sich dabei – was Liebe immer ausmacht – beide beteiligten psychischen Systeme in ihrer ganzen Komplexität, d. h. auch in all ihren sozialen Rollen, akzeptieren, sondern – da es ja nie genug sein kann – die Inbesitznahme muss auch auf anderer Ebene weitergehen.

Da bleibt dann nur noch die Zeitdimension: Eigentlich ist jede Sekunde ohne den anderen illegitim. Die Zukunft müsste eigentlich bis zum Tod gemeinsam verplant sein. Die dauerhafte (Selbst-)Irritation, hier im Rahmen des Liebessystems, muss immer und dauerhaft gewährleistet sein. Der „System-Spiegel“, in dem man den eigenen Wert verkörpert sieht, muss immer vorhanden sein. Ist er das nicht, oder besteht auch nur die Gefahr, dass er das irgendwann einmal nicht oder nicht in ausreichendem Maße sein könnte (!), gerät das System in Panik.

Folgerichtige Konsequenz dessen ist denn auch die Unfähigkeit oder zumindest der Unwille zum Allein-Sein: Ein Zustand, in der keine beständige, irritationsgewährleistende Bespiegelung gewährleistet ist, wird als alles andere als erstrebenswert angesehen. Ein enthaltsames Single-Dasein ist nichts für den Narzissten, da er sich nicht imstande sieht, ohne die Gewissheit der ständigen, intimbasierten Selbstbestätigung das reibungslose Operieren seines psychischen Systems zu gewährleisten. Die Folge: Er stürzt sich von einer Bindung ohne wirkliche Pause sogleich in die nächste. Das Irritationsbedürfnis gleicht einer Sucht.

Der Narzissmus vermag es sogar, sowohl im Rahmen von Liebesbeziehungen und Freundschaften, als auch im Rahmen anderer Zusammenhänge identitätsbildend für ganze soziale Systeme zu werden. Bezogen auf das Liebessystem zeigt sich dies dann etwa darin, dass der Partner nicht etwa nur „spiegelnder“, d. h. (selbst-)bestätigender und irritationsbeauftragter Referenzpunkt ist, sondern zugleich auch Vorzeigeobjekt. Der Narzissmus bzw. seine Implikationen in Form der Leitdifferenz „Anerkennung / Nicht-Anerkennung“ wird hier zum Leitprinzip eines sozialen Systems, welches sodann nur noch darauf ausgerichtet ist, dem Narzissten die dringend nötigen Irritationen zu verschaffen.

Der Partner muss sich ins Selbstbild einfügen: Sei es durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur, zur selben Berufsgruppe, zur selben Religion oder Ethnie, durch gemeinsame äußerliche Attribute oder durch Auffälligkeiten, die die beständige äußere Aufmerksamkeit seitens der Umwelt auch auf den narzisstischen Partner lenken und damit gewährleisten. Kurz gesagt: Der Partner muss auch in rein instrumenteller Form die konstante Selbstbespiegelung des Narzissten nach außen unterstützen. Der Narzisst sieht sich selbst in seinem Partner – weswegen dieser von dem Narzissten nicht selten auch in einer Intensität geliebt wird, mit der nur wenig andere mithalten können.

Auch in der Biografie schlägt sich Narzissmus nieder. So zieht es Narzissten einerseits in „extrovertierte“ Berufsgruppen, in denen es darum geht, sich zu präsentieren – und dadurch weitere Irritationen in sich aufzunehmen. Es hält ihn schwerlich an einem Ort: Wer konstante Neu-Irritation braucht, der muss diesen irgendwann wechseln. Stabilität wird nicht grundsätzlich benötigt, sondern lediglich das stabile Vorhandensein von Irritationen. Dies ist nur durch Ortswechsel möglich oder zumindest ausgedehnte Reisen von Zeit zu Zeit.

Doch warum das alles? Wie kommt es zu einem solchen Systemzustand?

Vieles spricht dafür, dass narzisstische Persönlichkeiten in ihren Familien als solche nicht allein sind. Das ständige Bedürfnis nach Irritation kann anerzogen sein: Etwa dadurch, dass das betreffende System während seiner familiären Sozialisation regelmäßig solch vielfältige Irritationen – womöglich gar widersprüchlicher Art – erhalten hat und danach nicht mehr ohne diese leben kann. Beispielhaft können diese seitens der Familie erfolgenden Irritationen bestehen aus einer starken Beschützerrolle oder dem Schenken beständiger Aufmerksamkeit dem Kind gegenüber (anders gesagt: das Kind hat nie gelernt, sich auch mal selbst zu genügen, wodurch es ihm unmöglich wird, einfach nur „in sich zu ruhen“). Später, im Anschluss an die familiäre Sozialisation, können im Sinne einer die Störung stabilisierenden Wirkung auch Einflussfaktoren hinzukommen, die von anderen sozialen Systemen ausgehen: Bspw. (zu) schneller beruflicher bzw. finanzieller Aufstieg oder auch Äußerlichkeiten, die das Vorhandensein beständiger Aufmerksamkeit gegenüber dem Narzissten in spe wahrscheinlich machen und ihn dadurch daran immer weiter „gewöhnen“.

Wie umweltoffen bzw. –geschlossen ein solches, narzisstisch codiertes psychisches System ist, ist in diesem Falle primär von der Konstitution der jeweiligen sozialen Umwelt abhängig. Der Narzisst kann zum extrem feinfühligen Empathen werden, solange seine Umwelt ihm ein irritationswilliges Spiegelbild bildet, das er „verstehen“ kann. In dem Falle hat er es ja quasi mit sich selbst zu tun – und ist damit dann, entgegen den üblichen Vorurteilen, die über Narzissten sonst bestehen, zu extrem hoher Sensibilität fähig. Setzt dieses Verstehen dann allerdings aus, weigert sich etwa die andere Seite, ihre irritationsgewährleistende Spiegelbildfunktion nachzukommen, erlaubt sie sich also, anders zu „ticken“ als der Narzisst, so setzt die Empathie ruckartig aus und seine Reaktion vermag, bedingt durch die Enttäuschung über die plötzlich ausbleibende Selbstbestätigung, binnen Sekunden in äußerste Gefühlskälte oder gar Aggression umzuschwenken.

Zur Beobachtung zweiter Ordnung, also zum Beobachten, wie er beobachtet wird, ist der Narzisst dann nicht mehr willens und fähig und die Irritationen erreichen ihn nicht mehr – was zugleich zum Rückkehr der Panik führen kann: „Wo hole ich mir nun meine Irritation?“ Gerade dadurch, also durch die aus dem plötzlichen Empathiemangel resultierende Irritationslosigkeit, generiert sich schließlich wieder das starke Bedürfnis nach Irritationen, welche aber aus genannten Gründen selten im ausreichenden Maße zustande kommen. Dies schafft erneute Panik und / oder Aggression – der Teufelskreis setzt sich fort.

Für die soziale Umwelt zeigt sich dieser sich zuweilen ruckartig ändernde Systemzustand dann als eine Art extreme Launenhaftigkeit, die bisweilen äußerst irrational erscheinen und als solche zusätzlich noch von begleitenden, körperlich-biochemischen Faktoren verstärkt werden kann. Empathische und konsensorientierte Kommunikation ist damit nicht mehr möglich. Genau hierin liegt oftmals der Grund dafür, weswegen Narzissten innerhalb von selbstreferenziellen liebesbasierten Zweiersystemen schnell in Probleme oder Streit geraten.

Eine Agenda zur „Heilung“ dieses Systemzustands kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Was aber dargelegt werden kann – und was auch mindestens genauso wichtig ist – ist ein Vorschlag zum Umgang mit narzisstisch codierten psychischen Systemen für die soziale Umwelt.

Denn: Es ist wichtig, dass diese, um den entsprechenden Herausforderungen gut begegnen zu können, frühzeitig lernt, Systeme zu erkennen, die sich in das hier beschriebene Muster einordnen lassen. Ab dem Moment, ab dem sie dies tut, kann die soziale Umwelt bzw. können die ihr zugehörigen Systeme eine Art innere Distanz aufbauen, die hilft, das narzisstisch codierte System im richtigen Licht zu sehen, ohne dabei in Vorverurteilungen oder allzu schnelle Distanz zum Narzissten zu verfallen und diesen quasi als verhinderten Psychopathen abzutun, von dem ohnehin nichts Gutes zu erwarten ist. Wer sich beständig klarmacht, woher bestimmte narzisstische Verhaltensmuster beim anderen resultieren, der kann lernen, damit umzugehen.

Sicherlich gilt es hierbei nochmal das jeweilige soziale Systemverhältnis zu beachten. Anders gesagt: In Kollegialbeziehungen oder auch noch in Freundschaften ist für viele Leute besser mit Narzissten klarzukommen als in Liebesbeziehungen, in denen man im Zweifel nicht mal eben die Tür hinter sich zu machen kann, sondern die Komplexität des narzisstischen Partners in seiner vollen Entfaltung akzeptieren muss. Dies zu schaffen, dürfte sich für manche, in extremen Fällen, als unmögliche Aufgabe entpuppen. Das macht den Narzissten jedoch nicht zum schlechten Menschen, sondern nur zu einem, der an einer mal mehr, mal weniger gravierenden psychischen Störung leidet. Ist sich der Partner dessen bewusst und – das ist der entscheidende Punkt – macht sich auch der Narzisst selbst dies bewusst, wird diese Tatsache also von beiden Seiten in ausreichendem Maße und häufig genug reflektiert, so kann selbst ein Liebessystem unter diesen Umständen von Dauer sein. 
Viel Erfolg!

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