Der Lindenstraßen-Effekt – Über das Dauerbedürfnis nach Liebessystemen

Jeder kennt sie: Die Seifenopern und Vorabendserien, die nicht unbedingt durch Oscar-reife Schauspieler oder Handlungen glänzen, die ebenso wenig qualitativ hochwertig sind wie eine Packung Chips gesund ist. Doch gleich einer Packung Chips kann man oftmals, wenn man einmal angefangen hat, sie zu konsumieren, nicht so einfach wieder damit aufhören. Es mag keine Sucht im Sinne einer Nikotin- oder gar Alkoholsucht sein, aber man ertappt sich dabei, wie man sein Handeln – sprich: seinen Chips- oder eben Vorabendserien-Konsum – selbst für völlig unsinnig und reine Zeitverschwendung hält, man aber dennoch damit weiter macht. Hierin liegt denn auch das Merkmal, das Chips- und Vorabendserien-Konsum mit der Liebe gemeinsam haben: Die Tatsache, dass es zuweilen ungeheuer schwer fallen kann, einfach nur mal solo zu bleiben – und man sich, selbst nachdem ein Liebessystem (so wollen wir hier um der theoretischen Konsistenz wegen Paarbeziehungen bezeichnen) möglicherweise fatal geendet ist, gleich wieder in ein neues stürzt, und im schlimmsten Falle auch noch in ein erfolgreiches, also in eines, in dem die Liebe erwidert wird.

Und das, obwohl man weiß, wie es nach der obligatorischen 3-bis-4-Jahres-Grenze, nach der man sich entweder trennt oder die Beziehung durch Heirat und / oder Kinderkriegen mehr oder weniger künstlich zementiert, enden kann. Die zwanghafte Inklusion in immer neue Liebessysteme gleicht dem sonntagabendlichen Einschalten des Fernsehers, wenn die „Lindenstraße“ läuft: Die Ratio weiß, dass man sich da gerade eigentlich nichts Gutes antut, wird aber sogleich von einer völlig irrationalen, Chips in sich hinein stopfenden, plump und kurzfristig agierenden inneren Macht niedergewalzt, die sich für die Warnungen des inneren intellektuellen Langweilers „Ratio“ nicht die Bohne interessiert.

Ein kurzer mediensoziologischer Exkurs. Die typische (deutsche) Vorabendserie ist deswegen Vorabendserie, weil sie sich nicht, wie ihre Kolleginnen von der Action-, Krimi-, Fantasy- oder Science-Fiction-Front nach 20.00 Uhr (sozusagen die „Sex, Drugs and Rock n Roll“-Fraktion unter der Fernsehkost), in hochspannende Gefilde der Ungewissheiten und Unsicherheiten begibt, sondern weil sie auf mehr oder weniger biedere Art und Weise (bloß ab und zu aufgehübscht durch Darsteller, denen wohl ein höheres Maß an Ästhetik zugerechnet wird) Elemente von unser aller Alltagsleben wiedergeben, worin sich irgendwie jeder wiederfindet und was keinen (jüngeren) Zuschauer in seiner psychischen Stabilität gefährdet. Sie wird damit zu einem festen Anker unseres Lebens, der nicht primär durch Spannung punktet, sondern durch „Lebensnähe“. Dadurch wird Kontingenz reduziert und Sicherheit suggeriert: Solange die Quote stimmt, kann man sicher sein, dass Helga Beimer auch nächste Woche noch die Nation bemuttert.

Zugleich wird dadurch unsere eigene soziale Komplexität „gespiegelt“. Die Botschaft der biederen deutschen Vorabendserie an ihren Zuschauer lautet: „Hey, wir akzeptieren deine soziale Komplexität, indem wir dir keine falsche Ideal- oder Fantasy-Welt vorspielen, sondern indem wir das thematisieren, was auch dich umtreibt“. Allein dadurch erhält diese Form der Unterhaltung dann wieder ihre Spannung zurück, insbesondere natürlich durch die berühmten „Cliffhanger“: Man weiß, hier können auch Hauptdarsteller sterben, denn es sind ja keine Helden, sondern Normalsterbliche wie wir. Dadurch entsteht zwar neue Kontingenz, aber eben eine, die die Komplexität, mit der wir täglich klarkommen müssen, spiegelt und unsere damit zu respektieren scheint anstatt sie als bieder und langweilig abzuwerten, wie es implizit jene Unterhaltung zu tun scheint, die in anderen Welten spielt.

Zurück zum Ursprungsthema. Die Parallele sollte inzwischen deutlich werden. Eine der sozialen Kernfunktionen und das zentrale soziologische Merkmal einer Paarbeziehung ist das gegenseitige Akzeptieren des jeweils anderen in all (!) seiner psychosozialen Komplexität. Sie muss alle seine sozialen Rollen akzeptieren und annehmen – und andersherum. Sei er nun gerade unterwegs in seinem Beruf als Staubsaugervertreter, als Wähler im Wahllokal, als Zeuge vor Gericht, als hysterisch schreiender Patient auf dem Zahnarztsessel oder als beleibter nackter Mann im Bad. Wo in anderen sozialen Systemen seitens der anderen nur die Akzeptanz einer oder zumindest weniger der beispielhaft genannten sozialen Rollen erforderlich ist, so sind es im Falle von Liebessystemen immer alle – oder es ist keine Liebe. Liebe ist totalitär. Das Private ist nicht politisch, aber es ist liebesrelevant.

Wie die seichte Vorabendunterhaltung auch liefert uns das Liebessystem also die Akzeptanz unserer sozialen und im Übrigen auch psychischen Komplexität. Denn es werden ja nicht nur verschiedene soziale Rollen akzeptiert, sondern auch verschiedene Charaktereigenschaften. So wie die Figuren in Vorabendserien uns widerspiegeln (und uns dadurch das Akzeptanzempfinden vermitteln), indem sie eben keine rein guten Helden sind, sondern Menschen mit Fehlern („wie du und ich“), so liefert das Liebessystem mit seinen herzerweichenden Semantiken („Ich liebe dich mit all deinen Schwächen, Schatz!“) den gleichen Eindruck, indem selbst Charaktereigenschaften und Dispositionen, die anderswo als negativ beurteilt werden, in diesem Kontext bereitwillig hingenommen und sogar wertgeschätzt werden.

Dies gilt dann zumindest so lange, bis man verheiratet ist. Danach wird dann zuweilen deutlich offener über die Fehler des anderen geschimpft – denn man weiß ja: Da die Bindung formalrechtlich institutionalisiert wurde, ist es nun schwerer, sie zu gefährden. Heirat schafft sozusagen eine Art formalrechtliches Halteseil, welches die gegenseitige Akzeptanz der psychosozialen Komplexität als Illusion aufrechterhält, wenn sie schon längst nicht mehr vorhanden ist. Man kann sich gegenseitig jeden Morgen seine Fehler vorhalten und aufrechnen, hat aber, sofern es nicht zu besonders gravierenden Konflikten kommt, die Sicherheit, dass es das System nicht grundsätzlich gefährdet. Nicht nur deswegen ist die Heirat neben (bzw.: vor) dem Kinderkriegen ein probates Mittel, um Liebessysteme über ihr eigentliches Haltbarkeitsdatum hinaus zu verlängern. Ehe ist sozusagen ein Konservierungsstoff, der nachträglich hinzugegeben wird, wenn die Liebesmilch sauer zu werden droht. Anders gesagt könnte man hier auch von einer „Mumifizierung der Liebes-Leiche durch die Ehe“ sprechen. Eine Vorstellung, die zumindest etwas attraktiver sein könnte, wenn die Standesämter mit den Pyramiden vergleichbar wären. Sind sie aber nicht.

Doch zurück zum Ausgangsthema. Über die gegenseitige Akzeptanz psychosozialer Komplexität wird ein Mittel geschaffen, welches mehr als alles andere geeignet ist, ein Grundbedürfnis des sozialen Lebens zu erfüllen: Nämlich das der Bestätigung der eigenen sozialen Selbstdarstellung. Psychische Systeme (auf die gemeinhin mit der Formel des „Menschen“ zugerechnet wird) bedürfen – erst recht während ihrer (früh-)kindlichen und adoleszenten Phasen, aber eben auch danach, denn die Sozialisation endet erst mit dem Tod – der kontinuierlichen Bestätigung durch die soziale Umwelt hinsichtlich ihrer sozialen Selbstdarstellung (eine sozialpsychologische Grundkonstante übrigens, die die Phrasen, die seitens radikaler Individualisten stets artikuliert werden – im Sinne von: „jeder ist sich selbst genug“, „es ist egal, was andere denken“ etc. – ins Reich der Legenden verdammt). Wer niemals die äußere Bestätigung erhält, so richtig zu sein, wie er oder sie ist, ist mehr als alle anderen dem Risiko psychischer Erkrankungen ausgesetzt (alternativ: dem Risiko devianten oder delinquenten Verhaltens) bzw. direkt auf dem Weg dorthin.

Gleichzeitig bietet aber die Bestätigung, die wir als „Singles“ von der sozialen Umwelt erhalten, eben auch immer nur eine, die sich auf Teilaspekte unserer sozialen Existenz bezieht. Für unsere Kollegen sind wir beispielsweise fleißig und zuverlässig, eventuell auch freundlich und hilfsbereit. Für unseren Arzt womöglich ein geduldiger Patient, vor Gericht ein guter Zeuge, im Verein ein disziplinierter Sportler, an der Hochschule ein guter Wissenschaftler. Doch all dies beinhaltet eben nur Auszüge unserer sozialen Selbstdarstellung, weswegen eben seitens dieser sozialen Umwelten auch nur Auszüge akzeptiert und bestätigt werden können. Selbst Freundschaften, die womöglich ein größeres Akzeptanz- und Bestätigungsspektrum abdecken (über ein „besser kennen“ oder ein Sich-Kennen aus noch anderen Kontexten wie eben der Schulzeit oder der Arbeit), können nicht alles abdecken, da diese eben spätestens in Sachen Privatheit und Intimität an ihre Grenze stoßen: Heinz-Dieters guter Freund, Arbeitskollege und Kegel-Kumpel Günni, der mit diesem regelmäßig nach der Arbeit noch ein Bier trinkt, weiß eben nicht, wie Heinz-Dieter sich beim Zähneputzen, am Frühstückstisch, nach der Heimkehr oder im Bett verhält. Und das ist vielleicht auch besser so.

Derlei erfährt man dann eher noch von den Protagonisten der Vorabendserie, die einem dadurch mitunter ungewollt nahe stehen – und einem eben ihre psychosoziale Komplexität anbieten und dadurch die Akzeptanz der unsrigen vermitteln, indem sie sie fernsehprogrammwürdig machen.

Ansonsten sind eben einzig Liebessysteme geeignet, uns diese „beste aller Rückmeldungen“ zurückzugeben, da sie schonungslos alles auf den Tisch legen und dann bereitwillig anerkennen. Das wiederum macht sie besonders attraktiv für jene psychischen Systeme, welche ansonsten eher mit fehlender sozialer Positivrückmeldung zu kämpfen hatten oder haben. Ein Prozess, der das Risiko eines Teufelskreises beinhaltet: Je mehr man bereits mit anderen „sozialen Baustellen“ zu kämpfen hat, desto mehr sehnt man sich nach Liebe und desto mehr sucht man sie. Und je größer die Sehnsucht und die Bemühungen des Suchens, desto höher und wahrscheinlicher auch das Risiko der Enttäuschung. Eine Entwicklung, die – in die andere Richtung „zurückgedacht“ – paradoxerweise dazu führt, dass man andererseits je mehr Liebessysteme findet, desto weniger man danach sucht. Was es aber auch nicht zwingend besser macht.

Es ist somit die Chance der (Selbst-)Bestätigung, die psychische Systeme immer wieder dazu bringt, entweder Liebessysteme mit hohem Enttäuschungsrisiko zu suchen oder ständig von welchen „gefunden“ zu werden, ohne sich dem entziehen zu können, selbst wenn die eigene Ratio es besser weiß. Oder aber, und dies ist die dritte, hier bislang noch nicht thematisierte Option, ein Liebessystem gar nicht verlassen zu können, obwohl man es doch eigentlich will. Je größer das Bedürfnis nach Bestätigung der sozialen Selbstdarstellung, desto höher auch das Risiko, in eine der besagten Situationen zu geraten.

Übrigens: Hier spezifische charakterliche Dispositionen auszumachen – im Sinne von: „diese oder jene Charaktere sind eher anfällig für den ‚Liebes-Infekt‘ als andere“ – wäre hierbei nicht eben sinnvoll, da das Risiko, in ein Liebessystem zu geraten, von dem jeweiligem Zusammenwirken der beiden betroffenen sozialen Selbstdarstellungen abhängig ist. Beispielhaft ausgedrückt: Natürlich sind narzisstische Persönlichkeiten als Charaktere mit besonderem Bestätigungsbedürfnis hiervon eher betroffen als manch andere. Das Bedürfnis nach sozialer Selbstbestätigung macht jedoch nicht bei Narzissten Halt, sondern vermag sich etwa auch auf jene zu erstrecken, denen gemeinhin z. B. ein „Helfersyndrom“ oder eine besondere Selbstlosigkeit zugerechnet wird. Hier sind dann eben das Helfersyndrom und die – vermeintliche – Selbstlosigkeit die soziale Selbstdarstellung, die nach Bestätigung verlangt. Liebessysteme sind soziale Selbstdarstellungsbestätigungssysteme. Dies gilt ganz grundsätzlich, unabhängig von charakterlichen Dispositionen der Beteiligten. Es ist schlicht niemand gefeit vor diesem elementaren Bedürfnis, welches dem nach Nahrung und Sauerstoff nur wenig nachsteht. Selbst jene, die gerne Gegenteiliges verkünden – besonders beliebt bei alternativ-individualistischen (jugendlichen) Subkulturen („mir ist egal, was andere von mir denken; ich mach mein Ding!“) – artikulieren damit auch nur eine besonders paradoxe Variante des Bedürfnisses nach sozialer Selbstbestätigung. Denn sonst würden sie es nicht verkünden.

Ziel dieses Artikels war die Beantwortung der Frage, warum man sich das Risiko eines Liebessystems immer wieder antut. Es sollte deutlich geworden sein, welche Effekte diese wohl raffinierteste und vielleicht auch komplizierteste Form sozialer Systeme für uns bereithält. In positiver, aber eben ja auch in negativer Hinsicht: So ist es alles andere als leicht, einerseits seine komplette eigene psychosoziale Komplexität „auf den Tisch des Systems“ zu legen und dann andererseits wiederum die der anderen Seite zu akzeptieren. Mit allen Problematiken, die sonst noch so dazugehören: Wer legt seine zuerst auf den Tisch? Auf welchen Tischen lagen sie vorher schon (oder, im schlimmsten Falle: auf welchen – wessen – anderen Tischen liegen sie noch immer…)? Liegt jetzt mehr drauf als vorher? Glaubt vielleicht eine der beiden Seiten nur, dass die der jeweils anderen ganz auf dem Tisch liegt („doppelte Kontingenz“)? Und was sagt eigentlich das Familiensystem dazu? 

Diese Fragen zeigen: Aus dem gegenseitigen Akzeptieren der psychosozialen Komplexität des jeweils anderen erwächst somit also nochmal eine ganz neue, ureigene soziale Komplexität und Kontingenz des Liebessystems selbst! Hierin liegt denn auch die Warnung, die die Ratio uns jedes Mal wieder vorher mitzuteilen versucht und mit der sie so oft (zu oft?) scheitert, weil das Chips fressende, Vorabendserien konsumierende, liebeslustige Selbstbestätigungsmonster ignorant weiter läuft, gefüttert und angetrieben durch biochemisch-hormonelle Begleitmusik. Im Grunde eine Tragödie. Aber eine, die denjenigen, die es – zumindest theoretisch – besser wissen, immerhin lukrative und ausfüllende soziale Rollen als Paar- oder Familientherapeuten beschert. Und das ist doch auch etwas, oder?

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