1945: Schnelljustiz, Standgerichte und Entkernung des Rechts

Das Systemverhältnis von Politik und Recht im Dritten Reich und die Frage nach gesellschaftsstrukturellen Veränderungsprozessen und funktionaler Entdifferenzierung im Deutschland jener Zeit ist nicht umfassend zu beantworten, wenn nicht die besondere Situation des Jahres 1945 und insbesondere der letzten Kriegsmonate und -wochen entsprechend gesondert analysiert und beurteilt wird. Für jene Zeit nämlich können die zuvor getätigten Erörterungen kaum in der Form Geltung beanspruchen – weder jene für die Jahre vor Kriegsbeginn, noch jene für die deutsche Zivilbevölkerung insgesamt immer noch weniger einschneidenden Kriegsjahre ab 1939 bis 1944. Im Zuge des stetigen Voranschreitens der Alliierten und des ebenso stetigen Wegbrechens des von Nationalsozialisten beherrschten Territoriums, im Zuge der sich dann in der Zivilbevölkerung trotz anderslautender NS-Propaganda immer weiter verbreitenden Erkenntnis, dass der Krieg für Deutschland verloren sein würde und eine Niederlage unausweichlich sein wird (vgl. Keller 2013: 419), griffen allgemeines Chaos, willkürliche Tötungen und allenfalls standgerichtliche Verfahren um sich, was folglich auch eine eigene soziologische Beurteilung der besonderen Lage jener Zeit notwendig macht, die hier – in aller gebotenen Kürze – dargelegt werden soll.

Im Jahr 1945, besonders aber in den letzten Kriegswochen und im April des Jahres, häuften sich in starker Form Fälle, in denen lokale und regionale Parteigremien die Tötung (meist in Form der Erschießung oder des Hängens) von Deutschen anordneten bzw. selbst durchführten, welche sich in irgendeiner Form „defätistisch“ geäußert oder betätigt hatten (vgl. ebd.: 406-417). Höhere, gar rechtsprechende Instanzen – seien es nun ordentliche Gerichte oder auch die oben genannten und beschriebenen Sondergerichte – waren hier nicht mehr involviert. Stattdessen wurde, quasi einem „reinen“ Dezisionismus des absoluten Ausnahmezustands entsprechend, direkt politisch geurteilt und vollstreckt, zwar nicht zentral und von der hierarchischen Spitze des politischen Systems, aber durch die unteren Parteifunktionäre vor Ort und vor allem: nahezu ohne jede weitere Involvierung des Rechtssystems. Politisch-psychologisch betrachtet dürfte hier auch wieder das Trauma des Jahres 1918 am Werk gewesen sein: Die Angst vor einem vermeintlichen neuen „Dolchstoß“, vor einer Niederlage vor allem aufgrund innerer Spaltung und Verrats durch die eigenen Leute war so groß, dass noch bzw. gerade (!) in den letzten Kriegswochen jede Form des „Defätismus“ und der „Wehrkraftzersetzung“ zur politischen Todsünde deklariert wurde (vgl. ebd.: 419). Diese Grundhaltung führte zugleich dazu, dass die gesamte Zivilbevölkerung auch bei der Kriegsführung massiv in die Pflicht genommen wurde, beispielsweise in Form des Volkssturms und anderer Einrichtungen: „Immer mehr verwischten die Trennlinien zwischen der ‚militarisierten Volksgemeinschaft‘ und ihrem militärischen Pendant“ (Keller 2013: 419).

Die Position der Gauleiter wurde massiv gestärkt: „Mit der Einrichtung ziviler Standgerichte erhielten sie als Gerichtsherrn die Möglichkeit, Todesurteile fällen und vollstrecken zu lassen. Sie übertrugen ihre Kompetenzen weiter nach unten auf Sonderbeauftragte und Kreisleiter – ein Personenkreis, der erheblichen Einfluss auf die Gewaltsamkeit in seinem Machtbereich ausübte“ (ebd.: 424). Dass die politischen Tötungsmaßnahmen nicht (nur) von der hierarchischen Spitze oder zumindest höheren Instanzen des politischen Systems angeordnet wurden, sondern oftmals von regionalen und lokalen Parteifunktionären, bedeutet freilich nicht, dass dies nicht ohne Rückendeckung „von ganz oben“ oder ohne jede formale Grundlage geschah. Ein Führererlass vom 12. April 1945 sah vor: „Jeder, der Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt, ist ein Verräter! Er ist augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen!“ (Führererlass 1945; zitiert nach Keller 2013: 407). Ähnliche Anweisungen beinhalteten der „Flaggenerlass“ vom 28. März 1945 und der gegen Plünderer gerichtete „Katastrophenerlass“, beide von Heinrich Himmler (vgl. ebd.: 424). Da somit die Gesetzgebung in einem weiteren Sinne selbst zu jener Zeit noch vorlag und somit eine Bezugnahme der Maßnahmen auf eine formale Grundlage sogar noch in dieser Zeit gegeben war, kann also in einem soziologisch-systemtheoretischen Sinne selbst für jene Zeit nur von einem Wegbrechen des Zentrums des Rechtssystems, der Rechtsprechung, die Rede sein, schwerlich aber von einem Wegfall auch der Peripherie des Systems. Damit jedoch war das Rechtssystem vollständig „entkernt“ und auf eine ganz und gar politische Rolle reduziert, die es, wie eine Art „Zombie-System“ ohne jede eigene Beteiligung erfüllte.

Dies zeigte sich beispielsweise auch in einzelnen Fällen ganz symbolhaft: So hatten beispielsweise ein Kampfkommandant und ein Kreisleiter der Partei auf dem „kleinen Dienstweg“ die Erschießung zweier Arbeiter beschlossen, die sich am 13. April 1945 im alkoholisierten Zustand gegen Hitler und für Graf Stauffenberg geäußert hatten, was von den beiden Verantwortlichen später als „Urteil“ deklariert wurde, das „das Standgericht des Kampfkommandanten“ „im Einvernehmen mit dem Standgericht der Kreisleitung“ gefällt habe (vgl. ebd.: 410): „Die Schnelljustiz der Standgerichte war kein Instrument des Rechts, sondern der Scheinlegitimierung und Verschleierung in der Tradition der Femegerichtsbarkeit und einer ‚empfundenen‘, selbst in die Hand genommenen Gerechtigkeit“ (Keller 2013: 421). Recht (inklusive seiner prozeduralen Abläufe) war ab diesem Punkt nur noch reine Semantik, reine Form, reiner talk, der nicht ansatzweise noch eine eigenständige Funktion zu erfüllen imstande war. Unzweifelhaft war in den Monaten des Jahres 1945 bis zum Kriegsende die politisierende Entdifferenzierung des Rechts am weitesten fortgeschritten, wenn auch, von der politischen Grundlage abgesehen und mit Blick auf die Ebene der „Vollstreckung“, in einer (u. a. kriegssituativ bedingt) sehr dezentralisierten Form. Diese jedoch wirkte letztlich auf jenen Prozess, den wir hier soziologisch als politisierende, funktionale Entdifferenzierung verstanden wissen möchten, eher noch förderlich als hinderlich, da sie die besagten Maßnahmen beschleunigte, entformalisierte und dadurch radikalisierte (vgl. ebd.: 425f.).

Zugleich erfuhr, wieder mit Fraenkel (1984) gesprochen, der Maßnahmenstaat seine weiteste Ausdehnung, während der Normenstaat endgültig, sowohl metaphorisch als auch letztlich faktisch, in Trümmern lag. Dieser Prozess hatte sich jedoch schon vorher, ab etwa 1943 offenbart, da ab jener Zeit der (maßnahmenstaatliche) NSDAP- und der SS-Apparat immer weitere Machtgewinne zu verzeichnen hatten, während die alten (normenstaatlichen) Bürokratien in Staat und Militär geschwächt wurden (vgl. Keller 2013: 420). Diese Entwicklung begründete später auch, neben der „zur Entbürokratisierung nötigenden“, da die administrative Infrastruktur beeinträchtigenden Kriegssituation (vgl. ebd.: 425), das Phänomen der dezentralisiert entschiedenen Maßnahmen: „Mit der Flut von Erlassen und Anordnungen aus der Partei-Kanzlei wuchsen die Machtbefugnisse der NS-Vertreter vor Ort, gleichzeitig aber auch der Druck und die Verantwortung, die sie gegenüber ihrem Regime und ihrem Selbstverständnis als dessen Vertreter zu tragen hatten“ (ebd.: 420).

Die Maßnahmen richteten sich nicht wirklich gegen „zusätzliche“ Bevölkerungsgruppen – vielmehr gehörten nun, zum Ende des Krieges, einfach quantitativ mehr Menschen zu den von der NS-Führung auch schon bisher als „innerer Feind“ klassifizierten Gruppierungen der „Defätisten“, der „Wehrkraftzersetzer“ und der Regimegegner (vgl. ebd.: 426f.), da immer mehr Menschen von der NS-Ideologie abrückten bzw. sich in Erwartung der vorrückenden Alliierten von der NS-Symbolik trennten.

Es sind dabei vor allem die kriegsgesellschaftlichen Dynamiken, die hier noch ein letztes Mal zur so drastischen Verschärfung der entdifferenzierenden Prozesse beigetragen haben. In jener Situation, in jenem (von der NS-Führung propagandistisch auch zu einem solchen stilisierten) „Endkampf“ zwischen der „Volksgemeinschaft“ und den Alliierten, zwischen Freund und Feind wurde der Ausnahmezustand im Sinne Schmitts zu etwas absolutem, etwas absolut dominantem. Der politische binäre Code, bestehend aus der Unterscheidung von Freund und Feind, wurde dergestalt verschärft, dass er nicht nur an der „äußeren“, also militärischen Front galt, sondern dass auch eine „innere“ Front allseits eröffnet wurde, an der der „innere Feind“, eben der „Zersetzer“ und der „Defätist“, bekämpft und vernichtet werden sollte. Nun war der Krieg wahrlich „total“ geworden, denn es ging nicht mehr nur um Territorien-Gewinn und -Verlust, sondern um das Überleben eines politischen Systems. In dieser Situation kam es zu einer allerletzten, alle anderen gesellschaftlichen Sphären in der massivsten Weise überlagernden Dominanz der politischen Leitunterscheidung, welche diesen schließlich nicht nur als Metacode hierarchisch übergeordnet war, sondern sie buchstäblich im konkreten sozialen Alltag eliminierte: Nichts zählte mehr außer dem Kampf gegen den Feind. Alle anderen Unterscheidungen waren eliminiert oder mindestens, wie das Recht, gänzlich „entkernt“, dezentralisiert – nicht nur räumlich, sondern auch systemstrukturell. Für die nationalsozialistische Weltanschauung, die diese Freund-Feind-Unterscheidung quasi definierte, der sie ideologisch inhärent war, die sie ausmachte, bedeutete dieser gesellschaftsstrukturelle Zustand so etwas wie ein letztes Aufbäumen eines Sterbenden: „Jetzt oder nie war die Zeit, die Volksgemeinschaftsutopie mit letzter Radikalität gewaltsam zu verwirklichen. Die Bedrohlichkeit einer Situation akuten völkischen ‚Überlebenskampfes‘, der Krieg im eigenen Land, der Zusammenbruch aller hemmenden Strukturen und der Fall aller normativen Grenzen [also auch: der Wegfall des Rechtssystems zugunsten einer umfassenden gesellschaftlichen Politisierung und Hegemonie; F. S.] wirkten radikalisierend und enthemmend, und sie eröffneten die notwendigen Räume, um eine mörderische Ideologie ‚noch einmal auf die Spitze‘ zu treiben. Sie blieb bis zuletzt handlungsleitender Referenzpunkt“ (ebd.: 426). Die Folge war zugleich ein quantitativ erweitertes, zeitlich massiv beschleunigtes Exkludieren aller, die man nun auch aus ideologischen Gründen als außerhalb der Volksgemeinschaft stehend betrachtete.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das (totalitäre) NS-Programm der (totalen) gesellschaftlichen Politisierung, der umfassenden politisierenden und funktionalen Entdifferenzierung – des Rechtssystems wie auch anderer Funktionssysteme – während der Phase ausgerechnet des Zusammenbruchs und des schwindenden Territoriums des Dritten Reiches, also auch nur auf verhältnismäßig kleinem Raum (in Relation zur früheren Ausdehnung des Deutschen Reiches, in früheren Kriegsjahren), zu seinem Höhepunkt und zum höchsten Grad der Verwirklichung gelangte. Die letzten Monate des Krieges in Deutschland im Jahre 1945 bildeten somit letztlich eine ganz eigene gesellschaftsstrukturelle Phase, die von den Jahren davor (und natürlich erst recht von den Jahren und Jahrzehnten danach) gesondert betrachtet werden muss. Aufgrund der relativen Kürze jener Phase und des politisch-strukturellen Zustands des Dritten Reiches in dieser Zeit muss und kann die makrosoziologische Beleuchtung des Systemverhältnisses von Politik und Recht hierfür insgesamt recht kurz ausfallen. Nichtsdestotrotz kann jener Zeitraum als eine Art tragischer End- und Implosionszustand der funktionalen Entdifferenzierung (mindestens) zweier gesellschaftlicher Teilsysteme beurteilt werden, der zweifellos eine eigene fokussierte Betrachtung wert ist.



Literatur

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.
 
Keller, Sven (2013). Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45. München: Oldenbourg.

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