Rechtsprechung im Nationalsozialismus (III)

Auch „in der Terminologie der Verfassungsrechtler als ‚diktaturfest‘ bezeichnet[e]“ (Fraenkel 1984: 40) Grundrechte wurden bereits frühzeitig außer Kraft gesetzt – und dies nicht durch Gesetzgebung, sondern durch Gerichtsurteile. Die Urteilsbegründungen, mittels derer die betreffenden Gerichte derlei tiefe – und durch und durch politische! – Einschnitte kollektiv verbindlich machten, sind dabei bemerkenswert. Fraenkel führt dabei einen Präzedenzfall an, der zugleich ein nicht minder interessantes sozialstrukturelles Dreiecksverhältnis zwischen dem politischen System, dem Rechtssystem und dem Religionssystem beinhaltet und mit dem nicht weniger als das Grundrecht auf Religionsfreiheit außer Kraft gesetzt wurde: So hatten die Zeugen Jehovas, zur damaligen Zeit auch oftmals noch als Ernste Bibelforscher bezeichnet, zwar vor dem Sondergericht Darmstadt 1934 einen Erfolg errungen, als dieses unter Verweis auf die Religionsfreiheit gemäß Weimarer Verfassung das Verbot, das sich auf die Reichstagsbrandverordnung stützte, aufhob (vgl. ebd.: 40). Infolgedessen allerdings wurde seitens der Gerichte versucht, hier einen „politisch genehmen“ Ausweg zu finden, was sich u. a. in einer höchst bemerkenswerten Entscheidung des Landgerichts Dresden vom 18. März 1935 niederschlug, welches die Polizeiverfügung, mit der die Vereinigung aufgelöst werden sollte, zu „neuem Verfassungsrecht“ erklärte, womit das Grundrecht auf Religionsfreiheit aufgehoben war (vgl. ebd.: 40), da die Regierung „durch Verwaltungsanordnungen und Maßnahmen jeder Art (…) Neuerungen des Verfassungsrechts durchführen“ (Landgericht Dresden 1935; zitiert nach Fraenkel 1984: 40) könne. Für das Reichsgericht galt, gemäß einem Urteil vom 24. September 1934, das besagte Grundrecht zwar weiter; jedoch äußerte es darin, dass die Anwendung dessen „nicht im Wege [steht], einer Religionsgesellschaft das Bestehen und die Betätigung dann zu verwehren, wenn diese mit der Ordnung des Staatswesens unvereinbar sind“ (Reichsgericht 1935; zitiert nach Fraenkel 1984: 40f.). Der Schutz der Religionsfreiheit wurde nach Fraenkel damit zu einer Frage degradiert, die fortan im Ermessen der Exekutive stand (vgl. ebd.: 41).

Mit Blick auf das Religionssystem lässt sich hier also festhalten, dass das Zentrum des Rechtssystems nicht nur für sich selbst die „Tore“ für die politische Intervention öffnete, sondern auch für andere gesellschaftliche Funktionssysteme. Die strukturelle Kopplung in Form der Weimarer Verfassung, die nicht nur die operative Geschlossenheit des Rechts, sondern auch die anderer Funktionssysteme gewährleistete, brach im Zuge von einschneidenden Gerichtsurteilen einer selbst immer mehr politisierten Rechtsprechung weg, was noch einmal nachdrücklich die gesellschaftsstrukturell tragende Rolle aufzeigt, die die (liberale) Verfassung und ein autonomes Rechtssystem spielen. Die dabei aber sehr unterschiedlichen Strategien, die seitens der besagten Gerichte gewählt wurden, um die fortschreitende funktionale Entdifferenzierung rechtlich anschlussfähig zu machen, zeigen allerdings auch auf, dass es zumindest zu diesem Zeitpunkt, also in den Anfangsjahren des Dritten Reiches, noch an einer einheitlichen, politisch oder rechtsdogmatisch (reflexionstheoretisch) vorgegebenen Stoßrichtung fehlte, die den Weg wies, wie man die Abschaffung von Grundrechten legitimieren solle. Dies – also sowohl der Versuch, jene Vorgänge überhaupt rechtlich anschlussfähig zu machen als auch vor allem die politisch nicht direkt gesteuerte Eigendynamik der Rechtsprechung bei der Unterordnung unter das Primat des Politischen – zeigt auch auf, dass in jener Frühphase offensichtlich noch ein höheres Maß an Ausdifferenziertheit des Rechts bestand, das man nicht „mal eben“ politisch-direktiv untergraben konnte. Hier kam stattdessen wieder die subtilere Kontextsteuerung (auch über massive Propaganda) zum Zuge, infolge derer ein allgemeiner NS-Grundkonsens zum gesellschaftlichen „Mainstream“ wurde, der Richtern implizit kommunizierte, welche Urteile politisch genehm (und daher karrierefördernd) waren und welche nicht (bzw. welche somit eher karriereschädlich waren). Dies führte zu unterschiedlichen Akzentsetzungen bei der Urteilspraxis: Während das Landgericht Dresden kurzerhand Polizeiverfügungen und sonstige Verwaltungsakte zu neuem Verfassungsrecht und damit die Religionsfreiheit für aufgehoben erklärte, ordnete das Reichsgericht diese nur der „Ordnung des Staatswesens“ unter (s. o.). Wenn auch die letztere Entscheidung etwas zurückhaltender und weniger „plump“ ist als die erste, so ist beiden Fällen doch eine Eigenschaft gemeinsam: Beide Rechtsprechungsakte, beide zentralen Rechtskommunikationen erklärten ein Primat des Politischen über das Recht und die Religion – im letzteren Falle unter Wahrung der Autonomie des Rechts und der Religion in unpolitischen Fällen, bei gleichzeitiger Hierarchisierung unter das politische System in politischen Angelegenheiten; im ersteren Falle mittels direkter Auflösung der Autonomie mindestens des Religionssystems. In beiden Fällen lag jedoch anteilsweise, aber in einem beträchtlichen und spürbaren Ausmaß funktionale Entdifferenzierung vor, zwei gesellschaftliche Teilsysteme betreffend.

Ähnliches erfolgte mit einer Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. April 1935, bei der es um das gemäß Art. 129 der Weimarer Verfassung garantierte Recht des Beamten auf Einsicht in seine Personalakte ging (vgl. ebd.: 41). Hier äußerte das Gericht in dem nicht minder bemerkenswerten Urteil u. a.: „Es widerspricht (…) dem im nationalsozialistischen Staat durchgeführten Führergrundsatz, wenn dem Beamten durch Akteneinsicht Gelegenheit gegeben wird, die Urteile seiner Vorgesetzten über ihn zu kontrollieren und zu beanstanden. Die Bestimmung ist daher als durch die Verhältnisse überholt anzusehen und ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung außer Kraft getreten“ (Preußisches Oberverwaltungsgericht 1935; zitiert nach Fraenkel 1984: 41). Hier erfolgte also nicht weniger als die direkte, buchstäblich exakte Umsetzung der Theorie Schmitts (was abermals die beträchtliche Wirkmacht der rechtlichen Reflexionstheorie jener Zeit demonstriert): Bereits zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten reichte der Rechtsprechung ein Verweis auf die (politischen!) Verhältnisse aus, um via Urteil und ohne jegliche gesetzliche Grundlage, ja sogar ohne auch nur den Versuch, eine solche in der Urteilssemantik zu konstruieren und damit das Urteil wenigstens rechtlich anschlussfähig zu machen (wie noch bei den oben beschriebenen Urteilen des Landgerichts Dresden und des Reichsgerichts in Sachen Religionsfreiheit der Fall), ein Grundrecht vollends und dauerhaft außer Kraft zu setzen. Genau dies ist der Dezisionismus Schmitts: Die politische Tat, die politische Handlung, die politische Entscheidung ist jedem formalen Recht übergeordnet und vermag es bei Bedarf ohne Hindernisse zu brechen. Hier bezog sich die Rechtsprechung (wohlgemerkt eines ordentlichen Gerichts und nicht eines Sondergerichts!) bereits direkt und ohne jegliche semantischen Umwege auf politische Kommunikation. Das Rechtssystem operierte somit fremdreferenziell.

Etwas mehr Zurückhaltung übte das Reichsarbeitsgericht mit einem Urteil vom 17. Oktober 1934, mit dem es – im Ergebnis in die gleiche politische Richtung wirkend, aber anders begründend – die Klage eines Angestellten der Russischen Handelsvertretung auf Gehaltsfortzahlung abwies, welcher zuvor durch einen Staatskommissar gekündigt worden war, den die Polizei eingesetzt hatte (vgl. ebd.: 42). Das Gericht erklärte in seiner Urteilsbegründung über die Zuständigkeit des Staatskommissars: „Die Bestellung [des Staatskommissars] rechtfertigt sich aber, wenn nicht durch die Verordnung des Reichspräsidenten vom 28. Februar 1933 zum Schutz von Volk und Staat (…), so doch jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Staatsnotwendigkeit (…). In der ersten Hälfte des Jahres 1933 konnte das Gefüge des nationalsozialistischen Staates noch nicht als gesichert angesehen werden (…) so lange die kommunistische Gefahrenquelle nicht beseitigt war, dauert der (…) Gefahrenzustand fort und nötigte (…) zu politischen Maßnahmen über deren gesetzliche Schranken hinaus“ (Reichsarbeitsgericht 1934; zitiert nach Fraenkel 1984: 42). Es wird hier deutlich, dass das Gericht in seiner Urteilsbegründung davon ausging, dass die „kommunistische Gefahrenquelle“ und der übergesetzlich-politische Maßnahmen notwendig machende „Gefahrenzustand“ zum Zeitpunkt der Urteilsfindung nicht mehr vorhanden seien (vgl. ebd.: 42), was man, systemtheoretisch übersetzt, als zaghaften Versuch werten kann, die funktionale Differenzierung zwischen politischem System und Rechtssystem wieder neu zu errichten. Dieser war im weiteren Verlauf freilich nicht von Erfolg gekrönt, was sicherlich auch dadurch begünstigt wurde, dass das Gericht sich in seiner Urteilsbegründung implizit selbst politisiert hatte, indem es darin trotzdem offen aussagte, dass gesetzliche Schranken im Zweifel keine Berechtigung haben, politische Maßnahmen zu blockieren, wenn die echte oder vermeintliche Gefahr nur groß genug ist. Auch hierin zeigt sich wieder die Schmitt-Theorie vom Ausnahmezustand in ihrer nahezu puren Form.

Gleichwohl konnten die Reflexionstheoretiker des Rechts im Dritten Reich dem Gericht dessen (relative) Zurückhaltung bzw. nur rückwirkend und für Gefahrenzustände sichtbare Absicht zur politisierenden Entdifferenzierung nicht durchgehen lassen. Der Verwaltungsrechtler Walther Hamel bekundete wenige Jahre später über die Präambel der Reichstagsbrandverordnung unmissverständlich: „Auch die Präambel (…) kann nicht dahin verstanden werden, daß die Behörden nur in diesem Kampfe von den liberalen Fesseln frei sind: die liberalen Grenzen dürfen nicht nur durch Maßnahmen, die der Bekämpfung des Kommunismus dienen, durchbrochen werden, sondern sie sind vorbehaltlos niedergelegt“ (Hamel 1937: 386f.; zitiert nach Fraenkel 1984: 43). Dieses Zitat ist mit Blick auf die dieser Untersuchung zugrundeliegende Leitfrage und Theorie geradezu bezeichnend: Ohne dies so dazu zu sagen, so sind die von Hamel angeführten liberalen und nicht nur „durchbrochenen“, sondern „vorbehaltlos niedergelegten“ Grenzen letztlich System-Grenzen – die System-Grenzen von Politik und Recht, die eben zu jenem Zeitpunkt (1937) nicht mehr nur partiell durchbrochen und dann wieder „hochgezogen“ wurden, wie etwa in einem korrupten oder auf andere Weise defekten autoritären Staat, sondern die letztlich kaum noch bzw. mit den Jahren immer weniger überhaupt Bestand hatten.

Die reflexionstheoretische Bewertung Hamels folgte auf weitere Gerichtsurteile, die sich der eher zurückhaltenden Ansicht des Reichsarbeitsgerichts nicht anschlossen, sondern die politisierende Entdifferenzierung auch für Gegenwart und Zukunft energisch vorantrieben. So hatte etwa das Sondergericht Hamburg in einer Entscheidung vom 15. März 1935 betont, die Reichstagsbrandverordnung „richte sich nicht nur gegen die Staatsgefährdung, die von kommunistischer Seite aus kommt, sondern auch gegen diejenige, die aus anderen Kreisen herrührt“ (Fraenkel 1984: 43). Ähnlich äußerte sich später auch der württembergische Verwaltungsgerichtshof in einem Urteil vom 9. September 1936 (vgl. ebd.: 45). Das Landgericht Berlin hatte bereits in einer Entscheidung vom 1. November 1933 postuliert, dass alle „gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerichteten Angriffe als kommunistisch im weitesten Sinne aufzufassen [sind]“ (Landgericht Berlin 1933; zitiert nach Fraenkel 1984: 45). In jedem Fall konnte die Anwendung der Verordnung auf der Basis solcher Urteilsbegründungen auf alle möglichen anderen, den Nationalsozialismus ablehnenden Gruppierungen ausgedehnt werden.

Zu einem besonders hintersinnigen Kniff griff das Kammergericht in Entscheidungen vom 3. Mai und vom 12. August 1935, mit denen es letztlich die „Lehre von der mittelbaren kommunistischen Gefahr“ (Fraenkel 1984: 43) bzw. „Theorie der indirekten Bekämpfung des Kommunismus“ (ebd.: 44) entwickelte, welcher später auch das Reichsgericht in einem Urteil vom 6. August 1936 folgte: Dieser zufolge konnten auch solche Aktivitäten sanktionswürdig sein, die der „kommunistischen Gefahr“ lediglich „den Boden bereiteten“ bzw. diese begünstigten, was in der Konsequenz allerlei (auch „zersetzende“ bzw. defätistische) Handlungen oder Äußerungen justiziabel machen konnte, die selbst mit kommunistischen Bestrebungen nichts zu tun hatten (vgl. ebd.: 43f.). In all diesen Fällen bzw. Urteilsbegründungen, ob sie nun den Begriff des Kommunismus ausdehnten oder einfach die Reichstagsbrandverordnung um zusätzliche, ihr zugerechnete „implizite“ Bedeutungen ergänzten, zeigt sich sehr klar eine äußerst freie Interpretation des Verordnungstextes, die das bereits sehr früh klar erkennbare Ausmaß an Politisierung des rechtlichen Zentrums vor Augen führt, welches ansonsten kaum so häufig so „kreative“ Auswege gefunden hätte, um politisch genehme Urteile zu fällen. Im Rahmen einer rein rechtlichen Leitunterscheidung wäre eine solch unbestimmte Auslegung des Verordnungstextes so nicht möglich gewesen – dies wurde erst durch die zugrundeliegende, politische Freund-Feind-Unterscheidung ermöglicht, für die die Differenzierung zwischen Nicht-Kommunisten und Kommunisten eine gesellschaftlich anschlussfähige Konkretisierungssemantik bildete, die in den anti-bolschewistischen Zeitgeist und die damit verbundene Angststimmung im Deutschland jener Ära passte.

Zuweilen hielt es die politische Führung allerdings auch für nötig, mittels (wenn auch teils unspektakulärer) Verwaltungsakte „nachzuhelfen“, um Behinderungen beim Aufbau der Diktatur durch Gerichte zu verhindern. Dies galt insbesondere auch in der Frühphase des Dritten Reiches, in der der das entdifferenzierte Systemverhältnis zwischen Politik und Recht zwar schon gegeben, aber noch nicht konsolidiert war bzw. durch einzelne Gerichte immer mal wieder vorsichtig in Frage gestellt wurde (s. o.). Ein preußischer Ministerialerlass vom 3. März 1933 etwa betonte, dass die Polizeibehörden auch über die Schranken des Polizeiverwaltungsgesetzes (welches die Polizei auf die Aufgabe der Gefahrenabwehr beschränkte) hinaus aktiv werden konnten (vgl. ebd.: 46). Trotzdem urteilte das Preußische Oberverwaltungsgericht noch am 10. Januar 1935 gegenteilig und erklärte polizeiliche Verfügungen, die über die Schranken des Gesetzes hinausgingen, für grundsätzlich ungültig – eine Auffassung, die immerhin vom Reichsgericht geteilt wurde, an die sich in der Folge aber die Gestapo nie hielt (vgl. ebd.: 46). Hier kollidierte nicht nur, mit Fraenkel gesprochen, der Normenstaat mit dem Maßnahmenstaat, wobei letzterer den ersteren in den seltenen Fällen, in denen ersterer sich der Diktatur zumindest auf bürokratisch-formalen Wege entgegenstellte, schlichtweg überging. Hier zeigten sich auch abermals die in den ersten Jahren noch marginal vorhandenen Überbleibsel eines differenzierten Systemverhältnisses, welches aber Schritt für Schritt erodierte, wie das mühelose Agieren des durch und durch politischen Maßnahmenstaates zeigt. Der Normenstaat (bzw. das Recht – wohlgemerkt, ohne dies als Synonym zu verstehen!) hatte schlicht nicht die Mittel, um dem Primat des Politischen in Form des Maßnahmenstaates länger und auf anderem als rein formal-deklaratorischem Wege zu widerstehen. Die pure Macht der politischen Dezision reichte aus, um in jenen wenigen Konfliktfällen widerstandslos agieren zu können und sich das bald schon vollends resignierende Rechtssystem unterzuordnen.

Wie gründlich der Prozess der Entdifferenzierung in den Folgejahren noch vor Kriegsbeginn voranschritt, macht ein Urteil des Badischen Verwaltungsgerichtshofs vom 11. Januar 1938 deutlich, welches erfolgte, nachdem es in einer badischen Stadt zum Konflikt zwischen einer protestantischen Frauenorganisation und einer nationalsozialistisch geleiteten Zweigstelle des Roten Kreuzes gekommen war, wobei die Regierung versucht hatte, der ersteren die Aufgabe der Krankenversorgung zu nehmen, und die Polizei diese schließlich aufgrund der Reichstagsbrandverordnung kurzerhand aufgelöst hatte – eine Maßnahme, die das Gericht in seiner Entscheidung bestätigte (vgl. ebd.: 48). Hierbei wurde Fraenkel zufolge nicht einmal mehr der Versuch unternommen, einen inneren Zusammenhang der Maßnahme mit der Verordnung herzustellen; stattdessen erklärte das Gericht, dass allein die Tatsache, dass der kirchliche Verein dem örtlichen Verein des Roten Kreuzes empfindlichen Abtrag tat, ein ausreichender Grund für das Verbot sei (vgl. ebd.: 49), und formulierte darüber hinaus die folgende, mit Blick auf unsere Leitfrage mehr als bemerkenswerte Botschaft: „Wenn der Minister des Innern (…) erklärt, daß durch die tatsächlich bestehende Konkurrenz zwischen den beiden Organisationen wichtige staatliche Belange benachteiligt werden (…) so ist der Gerichtshof außerstande diese einer Entscheidung der maßgebenden politischen Führung gleich zu achtende Erklärung nicht anzuerkennen“ (Badischer Verwaltungsgerichtshof 1938; zitiert nach Fraenkel 1984: 49).

Es wurde also nicht nur nicht mehr versucht, in der Urteilsbegründung überhaupt einen Zusammenhang zur „kommunistischen Bedrohung“ herzustellen, sondern es wurde gleich auf vom Innenminister beklagte „bedrohte staatliche Belange“ verwiesen – eine bloße entsprechende Äußerung des Ministers reichte also aus, um ein hohes Gericht dazu zu veranlassen, eine repressive Verwaltungsmaßnahme für rechtens zu erklären. Anders gesagt: Eine nicht unmaßgebliche Operation des rechtlichen Zentrums richtete sich nach der sogar formal nur unverbindlich, also im Zuge einer bloßen Wortäußerung, dargelegten Freund-Feind-Bestimmung durch einen Angehörigen der politischen Führung bzw. des politischen Zentrums. Die Tatsache, dass diese Entscheidung des Gerichts natürlich, wie all solche Urteilsbegründungen hoher Gerichte damals und auch heute, nicht isoliert zu betrachten ist und nicht für sich allein stand, sondern als Präzedenzfall für ähnlich gelagerte Fälle in der Zukunft betrachtet werden muss, zeigt die beträchtliche Wirkung auf, die dieser auch in sozialstruktureller Hinsicht, mit Blick auf das hier diskutierte Funktionssystemverhältnis, zugerechnet werden muss.

Dies ging einher mit einer generellen Entwicklung, welche aber durch Gerichtsurteile bzw. Urteilsbegründungen wie die oben zitierte immer weiter bestärkt wurde: „Mit der vom Nationalsozialismus in die Wege geleiteten Beseitigung der Schranken der Polizeigewalt fiel auch die ‚Verhältnismäßigkeit‘ als Prinzip“ (Fraenkel 1984: 49). Die Dominanz und die hierarchische Überordnung des Freund-Feind-Codes rechtfertigten drastische Maßnahmen im Rahmen des politisch determinierten Ausnahmezustands der „Feindbekämpfung“. So urteilte etwa das Oberlandesgericht Braunschweig am 29. Mai 1935 zur Auflösung eines Verlages der Wachturm Bibel-Traktatgesellschaft, dass es zur „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte (…) auch dienlich erscheinen [kann] (…), solche Vereinigungen zu verbieten, in denen sich vielleicht ohne Wissen ihrer Leiter Kommunistenfreunde verbergen konnten“ (Oberlandesgericht Braunschweig 1935; zitiert nach Fraenkel 1984: 49f.). Weniger drastische Maßnahmen, wie etwa den Ausschluss der „Kommunistenfreunde“ im Vorfeld eines etwaigen Verbotserlasses, wurden gar nicht erst in Betracht gezogen; die Polizei hatte freies Ermessen bei der Wahl ihres Vorgehens – eine gerichtliche Kontrolle ihrer Maßnahmen gab es nicht mehr (vgl. ebd.: 50). Formulierungen wie jene, derer zufolge es ausreicht, dass sich „vielleicht“ ohne Wissen der Leitung Kommunistenfreunde in der Vereinigung verbergen „konnten“, waren begrifflich so derart weit offengehalten, dass am Ende jede Organisation verboten werden konnte, die aus politischer Sicht verboten werden sollte. Die massive terminologische Unbestimmtheit der Urteilsbegründung in dieser und in anderen Gerichtsentscheidungen ermöglichten die Unterordnung rechtlicher Erwägungen unter das politische Primat, im Zuge dessen politisch willkürlich vorgegangen werden konnte.

Ein weiterer wesentlicher Punkt einer Beleuchtung der hier diskutierten Frage ist der der Nachprüfung polizeilicher Maßnahmen durch die Verwaltungsgerichte. Hier schuf letztlich ein neues Gesetz eine neue Rechtsprechung; das politische System musste gezielt intervenieren, um das rechtliche Zentrum zu einer anderen Praxis der Rechtsprechung zu veranlassen. Das Preußische Oberverwaltungsgericht hatte nämlich noch in einer Entscheidung vom 25. Oktober 1935 uneingeschränkt für sich in Anspruch genommen, Maßnahmen auch der politischen Polizei gerichtlich nachzuprüfen (vgl. ebd.: 52): „Der Umstand, daß sich die Verfügung auf dem Gebiet der sogenannten politischen Polizei bewegt, bietet keinen Anlaß für die Annahme, daß dem Betroffenen der sogenannte Rechtsweg verschlossen sei“ (Preußisches Oberverwaltungsgericht 1935; zitiert nach Fraenkel 1984: 52). Auf dieser Basis wurde auch eine weitere Verfügung mittels einer Entscheidung vom 5. Dezember 1935 vom selben Gericht für ungesetzlich erklärt (vgl. ebd.: 53).

Die daraufhin folgende Chronologie politischer, rechtlicher und medial-propagandistischer Schritte ist bezeichnend und in gewisser Weise typisch für das Phänomen der funktionalen, politisierenden Entdifferenzierung im Dritten Reich. So wurde zunächst am 10. Februar 1936 das „Gesetz über die Geheime Staatspolizei“ erlassen, welches Verfügungen und Angelegenheiten der Gestapo grundsätzlich einer Nachprüfbarkeit durch die Verwaltungsgerichte entzog (vgl. ebd.: 54). Am 1. März 1936 folgte, gewissermaßen „propagandistisch begleitend“, ein Artikel im Völkischen Beobachter, welcher die „reaktionäre Rechtsprechung“ des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes geißelte (vgl. ebd.: 54), woraufhin selbiges in einem Urteil zu einem Fall im Rahmen des Kirchenkampfes (letztlich also: des Versuchs, das Religionssystem zu politisieren – ein anderes „Schlachtfeld“ der funktionalen Entdifferenzierung, auf dem die NS-Führung aber nicht solch beträchtlichen Erfolg hatte wie im Falle des Rechtssystems) entschied, dass die darin beklagte, „streitige polizeiliche Verfügung (…) demzufolge ihrem Wesen nach augenscheinlich zum Aufgabengebiet der Geheimen Staatspolizei [gehörte], woraus sich ihre Unanfechtbarkeit gemäß § 7 des Gesetzes vom 10. Februar ergibt“ (Preußisches Oberverwaltungsgericht 1936; zitiert nach Fraenkel 1984: 54).

Zusätzlich bezeichnend ist hierbei, dass es sich bei der besagten Polizeiverfügung nicht um eine der Gestapo, sondern um eine der regulären Polizei und des Landrats gehandelt hatte, die eigentlich nicht einmal unter das Gestapo-Gesetz fiel, die jedoch laut Ansicht des Gerichts „in Angelegenheiten der Gestapo“ ergangen war – eine Eventualität, welche im Zuge einer Druckfehlerbereinigung kurze Zeit nach dem Gesetzeserlass dem Gesetz als Kriterium für den Entzug der Nachprüfbarkeit hinzugefügt worden war (vgl. ebd.: 54f.): Nach Auffassung des Gerichtes war die Anordnung des Landrats nun dazu bestimmt, „dem Schutz der Staatssicherheit nach innen und außen zu dienen“ (Preußisches Oberverwaltungsgericht 1936; zitiert nach Fraenkel 1984: 55).

Der Fall zeigt exemplarisch auf, wie es den Nationalsozialisten ab 1933 gelang, immer weiter immer größere „Stücke aus der Mauer der Systemdifferenzierung herauszubrechen“ und damit das Recht zu politisieren. Hatte das Preußische Oberverwaltungsgericht anfangs noch versucht, die besagten „Mauern“ soweit es geht aufrechtzuerhalten, so änderte sich die Lage, nachdem das politische System an allen Fronten gegen den Versuch vorging: Einerseits durch direkte Operationen des politischen Zentrums (neue Gesetzgebung), andererseits durch die „Kontextsteuerung“ politischer Propaganda, welche der Völkische Beobachter mit seinem Artikel vom 1. März 1936 (s. o.) gewährleistete und mit der der nötige Kontext geschaffen wurde, um neben der Fremdsteuerung durch das neue Gestapo-Gesetz auch eine effektive Selbststeuerung des Rechts im Sinne der politischen Motivlagen der NS-Führung zu gewährleisten. Das Ergebnis war geradezu vorauseilender Gehorsam: Obwohl es sich formal nicht einmal um eine Gestapo-Verfügung handelte, wurde sie vom Gericht entsprechend eingestuft, was zugleich einen Präzedenzfall schuf, „dem in der nationalsozialistischen Rechtslehre und Praxis der Charakter eines Grundsatzprozesses beigemessen wurde“ (Fraenkel 1984: 53). Im besagten Fall erblicken wir also eine sehr wesentliche Wegmarke des Prozesses der funktionalen Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht im Dritten Reich – sowohl in politisch- und rechtstheoretischer sowie politisch- und rechtlich-praktischer als auch in soziologisch-systemtheoretischer Hinsicht. Die politischen, rechtlichen und dadurch eben auch gesellschaftsstrukturellen Folgen dieses Dreiklangs aus Gesetzgebung, begleitender Propaganda und Rechtsprechung waren ebenso exemplarisch wie drastisch: Mit der Eliminierung der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung verschwand ein wesentliches Merkmal eines autonomen Rechtssystems.

Hinsichtlich der Nachprüfung durch Zivilgerichte griff die NS-Führung zu einer besonders hintersinnigen Maßnahme. Das Reichsgericht hatte in einem Urteil vom 3. März 1937 erklärt, dass sich auch „aus dem mehr oder minder politischen Charakter eines staatlichen Hoheitsaktes [keine] Einschränkung des Artikels 131 [der Weimarer Reichsverfassung] ergebe“ (ebd.: 57), welcher eine Haftung des Staates für Schäden, die durch rechtswidriges Verhalten von Beamten verursacht wurden, vorsieht (vgl. ebd.: 57). Auch „aus der Gesetzgebung des Dritten Reiches (…) kann eine allgemeine Beschränkung des Geltungsbereichs des Artikels 131 RV auf hoheitsrechtliche Betätigung unpolitischer Art (…) nicht hergeleitet werden“ (Reichsgericht 1937; zitiert nach Fraenkel 1984: 57). Mit anderen Worten: Das Reichsgericht proklamierte hiermit noch im Jahre 1937 das Recht des Bürgers auf zivilgerichtliche Nachprüfung staatlicher (also: politischer) Hoheitsakte. Auf den ersten Blick und für sich genommen könnte man meinen, hier ein letztes und nicht unwichtiges „Aufbäumen“ der funktionalen Differenzierung von Politik und Recht vor sich zu sehen. In Wirklichkeit bedeutete dies aus Sicht Fraenkels jedoch keine Rückkehr zum Rechtsstaat, sondern lediglich einen weiteren Schritt hin zum von ihm diagnostizierten Doppelstaat (vgl. ebd.: 57).

Mehrere wesentliche politisch-rechtliche Schritte im Rahmen der Gesetzgebung trugen eben dazu bei. So sah das „Gesetz über den Ausgleich bürgerlich-rechtlicher Ansprüche“ vom 13. Dezember 1934 eine Ermächtigung des Innenministers vor, „das Gerichtsverfahren jedes Mal dann zu unterbrechen und die Entscheidung den Verwaltungsbehörden zu übertragen, wenn mit der Klage ein Anspruch geltend gemacht wurde, der durch den nationalsozialistischen Umbruch entstanden war. Die Verwaltungsbehörde war alsdann nicht an das gesetzte Recht gebunden, sie hatte nach ‚billigem Ermessen‘ zu entscheiden“ (Fraenkel 1984: 58). Anders ausgedrückt: Sobald beispielsweise jemand infolge der NS-Machtergreifung seine Tätigkeit verloren und deswegen Klage erhoben hatte – wie es etwa beim Bürgermeister der Stadt Eutin der Fall gewesen war, der zunächst nach maßnahmenstaatlichem Druck eine Verzichtserklärung unterschrieben, aber diese dann hinterher wegen Nötigung angefochten hatte – fiel die Zuständigkeit für die Entscheidung dazu in den Kompetenzbereich des Innenministers, der dann politisch entscheiden konnte – die Gerichte wiesen die Klage aufgrund des besagten Gesetzes ab (vgl. ebd.: 58f.).

Hinzu kam, dass nach einer Gesetzesänderung vom 26. Januar 1937 § 147 des Beamtengesetzes vorsah, dass bei Regressklagen gegen den Staat fortan nicht mehr das oberste ordentliche Gericht, sondern das oberste Verwaltungsgericht zuständig war (vgl. ebd.: 57): „Folge dieser scheinbar unerheblichen Neuerung ist, daß die für das Oberverwaltungsgericht geltende Norm, Hoheitsakte in Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei keiner gerichtlichen Nachprüfung zu unterziehen, auf Zivilrechtsfälle anwendbar ist. Auf diese Weise wird das Prinzip gerettet, daß politische Fragen nicht justiziabel sind, wenn die Verwaltungsbehörde unter Anwendung des § 147 Beamtengesetz sie dem Bereich der ordentlichen Gerichte entzogen hat. (…) Das letzte Wort haben insoweit die politischen Behörden“ (ebd.: 58). Indem man also in politischen Streitfragen den Zivilgerichten die Zuständigkeit für die betreffenden Fälle entzog und sie der Verwaltungsgerichtsbarkeit übertrug, eröffnete sich auch hier zugleich die juristische Möglichkeit, eine gerichtliche Nachprüfung ganz zu verhindern, sofern es sich um Gestapo-Angelegenheiten gemäß dem oben genannten Gestapo-Gesetz handelte. Juristische Winkelzüge jener Art ermöglichten es zuverlässig, ein Primat des Politischen herzustellen und im Zweifel immer dem politischen System das letzte Wort zu überlassen.

Skeptiker im Sinne Winklers (2005) mögen nun einwenden, dass allein das offensichtliche Bemühen um derlei juristische Winkelzüge und damit die rechtliche Legitimation des politischen Letztentscheidungsrechts auf den Versuch hindeuten, rechtliche Anschlussfähigkeit herzustellen – und damit auf intakte funktionale Differenzierung. In der Tat ließe sich formulieren, dass sich hiermit und zu jener Phase des Nationalsozialismus zumindest noch eine größere politische Zurückhaltung zeigte als während des Krieges, als der Maßnahmenstaat zunehmend und immer häufiger ohne auch nur den Versuch einer normenstaatlichen Legitimation „durchregierte“ und Fakten schuf. Klar ist aber auch, dass die – zwar juristisch und hinter Rechtsnormen versteckte, aber dennoch effektive – Übertragung von Letztentscheidungsrechten auf Verwaltung und Regierung nichts anderes als die Entmachtung der Rechtsprechung in entscheidenden, am Ende rein politisch und nicht mehr rechtlich entschiedenen Fragen bedeutete. Durch die Herstellung des Primats des Politischen, durch die funktionale Hierarchisierung des Systemverhältnisses von Politik und Recht wurde auch Entdifferenzierung vorangetrieben und (mit Blick auf die nochmals radikalisierte Politisierung ab 1939) in ihrem weiteren Verlauf begünstigt. Nochmal systemtheoretisch formuliert: Indem Gerichte Klagefälle abwiesen bzw. dadurch an den Kompetenzbereich des Innenministers verwiesen, wurden rechtliche Operationen zu politischen Operationen transformiert (über eine neue operative Kopplung von Politik und Recht, die durch die entsprechende, oben beschriebene Gesetzgebung ermöglicht wurde). Politische Kommunikation schloss an rechtliche an und umgekehrt; eine Differenzierung zwischen beidem fand höchstens noch semantisch und formal statt, aber nicht mehr faktisch und materiell. Ab 1939 schwand dann zunehmend auch das semantische und formale Element, wie vorangegangene Erörterungen vor allem aus dem strafrechtlichen Bereich aufzeigen (s. o.).

Andere, rein privatrechtliche Fälle bzw. Rechtsprechungen wurden von den beschriebenen Vorgängen freilich oft kaum tangiert – aber da sie eben aufgrund ihrer privaten Natur zumeist auch keinerlei politische Relevanz hatten, war dies aus der Perspektive der Motivlage der NS-Führung auch gar nicht nötig (vgl. Schier 1961: 28). Für all jene zivilrechtlichen Fälle, welche doch noch eine politische Relevanz entfalten konnten, wurde am 15. Juli 1941 das „Gesetz über die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ erlassen, welches eine Ermächtigung des Oberreichsanwaltes vorsah (vgl. ebd.: 36), „in Zivilsachen binnen eines Jahres nach Rechtskraft des Urteils die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben, wenn dies wegen der besonderen Bedeutung der Sache für die Volksgemeinschaft erforderlich erschien“ (Schier 1961: 36). Auch mit Blick auf das Zivilverfahrensrecht wurde insofern also explizit auf eine politische Semantik („Volksgemeinschaft“) Bezug genommen, die aus der politischen Leitunterscheidung (Freund / Feind) gespeist wurde. Dies gilt zwar nur für den Fall, dass überhaupt politische Belange tangiert waren, hielt aber dafür eine staatliche Interventionsmöglichkeit bereit, die im Zweifel die Grundlage schaffen konnte, ein politisch „genehmes“ Verfahrensergebnis zu erwirken.

Wie sehr insbesondere in den Kriegsjahren das Ausmaß an Entdifferenzierung zunahm, ist insbesondere anhand der bereits oben beschriebenen strafrechtlichen Entwicklungen sichtbar, welche zuweilen im Übrigen sogar darin gipfelten, dass gar von „ganz oben“ in die Rechtsprechung interveniert wurde, wie ein Beispiel vom 25. Oktober 1941 zeigt, als Hitler persönlich eingriff: „Unmittelbar korrigierte Hitler Strafurteile, die ihm allzu milde erschienen. So ließ er (…) an den vorübergehend als Justizminister amtierenden Staatssekretär Franz Schlegelberger seinen "Wunsch" übermitteln, daß die Verurteilung des Juden Luftglass zu zweieinhalb Jahren Gefängnis in die Todesstrafe umgewandelt werde. Grundlage des Urteils war das "Hamstern" von Eiern. Die Kenntnisse Hitlers beruhten auf einer Pressenotiz. Auf Anweisung Schlegelbergers wurde Luftglass durch die Gestapo exekutiert“ (Ostendorf 2005). In einer Gesellschaft, in der die politische Führung nur auf – mit Fraenkel (1984) gesprochen – maßnahmenstaatliche Mittel auszuweichen braucht, um ein gerichtliches Urteil in massiv folgenreicher Weise binnen kürzester Zeit abzuändern, kann von einem intakten differenzierten Systemverhältnis zwischen Politik und Recht nicht mehr die Rede sein. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass derlei Fälle keine Ausnahme darstellten, sondern die Gestapo (als Instrument des Maßnahmenstaates) in zunehmender Häufigkeit intervenierte, wenn ihr missliebige Haftentlassungen erfolgten (vgl. Ostendorf 2005): „Juden wurden regelmäßig nach der Entlassung aus der Haft der Gestapo übergeben, was als Vermerk in den Gerichtsakten festgehalten wurde“ (ebd.). Mindestens in jenen Fällen also, in dem der exkludierende politische Freund-Feind-(Meta-)Code tangiert wurde, überlagerte dieser die Unterscheidung von Recht und Unrecht und verdrängte sie (sofern sie nicht mehr als Instrument zur Durchsetzung politischer Operationen instrumentalisierbar war).



Literatur

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.

Ostendorf, Heribert (2005). Justiz im Dritten Reich. Politische Strafjustiz vor und nach 1945. Bundeszentrale für Politische Bildung. https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/61055/justiz-im-dritten-reich?p=all (letzter Zugriff: 23.10.2020)

Schier, Wolfgang (1961). Rechtsschein und Rechtswirklichkeit unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Würzburg: Werkbund. 

Winkler, Viktor (2005). Lehren aus Luhmann. Für eine andere Sicht auf Recht im „Dritten Reich“. In: Forum Recht 01/2005. http://www.forum-recht-online.de/2005/105/105winkler.pdf (letzter Zugriff: 09.11.2018)

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