Rechtsprechung im Nationalsozialismus (II)

Einen beeindruckenden Nachweis für die These der verstärkten (politisierenden) Entdifferenzierung durch kriegsgesellschaftliche Dynamiken liefern die beträchtliche Fülle von strafrechtlichen Neuregelungen und Verschärfungen ab 1939 (welche teilweise aber schon im Jahr zuvor vorbereitet worden waren) und die Konsequenzen, die dies auch für die Gerichtsverfassung der Folgejahre bis 1945 hatte. Mit der Schaffung eines Kriegssonderstrafrechts durch KSSVO und KStVO, mit der VVO und zusätzlichen Verschärfungen wie beispielsweise der nicht minder berüchtigten „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ vom 1. September 1939, welche das Hören von „Feindsendern“ unter Strafe stellte, ergab sich quasi automatisch ein Bedarf nach einer organisationalen Anpassung und Erweiterung, um die neue, höhere Anzahl an (Sonder-)Strafverfahren bewältigen zu können, was etwa in der „Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege“ vom 1. September 1939 resultierte, mit welcher fortan auch in den Bezirken der Landesgerichte Sondergerichte gegründet werden konnten (vgl. Staudinger 1999: 105).

Zugleich erfolgte eine Ermächtigung der Anklagebehörde, auch solche Verbrechen und Vergehen vor dem Sondergerichtshof anzuklagen, für die ansonsten Schwurgerichte oder auch niedrigere Gerichte zuständig gewesen wären, mit der Folge einer geminderten Rolle des Verteidigers im Verfahren (vgl. ebd.: 105). Mit der „Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften“ vom 21. Februar 1940 wurde ferner eine Ausweitung der Zuständigkeiten des Volksgerichtshofes und eine Einschränkung der Stellung des Oberlandesgerichtes beschlossen; im Bezirk eines jeden Oberlandesgerichtes waren nun an einem oder mehreren Landesgerichten Sondergerichte zu bilden – Sitz und Bezirk konnte der Reichsminister der Justiz bestimmen (vgl. ebd.: 106). Die konventionelle Justiz wurde also nicht nur zugunsten der politischen Justiz immer weiter zurückgedrängt (vgl. Ostendorf 2005), sondern es gab auch in diesem Fall konkrete Weisungsbefugnisse für maßgebliche Instanzen der Exekutive über die Judikative, mindestens in Bezug auf ihre Untergliederung und Strukturierung. Das entdifferenzierend wirkende Primat des Politischen über das Recht, in diesem Fall ausgehend vom Reichsjustizminister, wird hier abermals deutlich.

Neben der nicht minder relevanten Schaffung des Reichskriegsgerichtes durch die KStVO, dessen materiellrechtliche Zuständigkeit der des Volksgerichtshofes überwiegend gleichgesetzt war (vgl. Staudinger 1999: 107), sticht zudem auch die „Erste Verordnung zur Durchführung der Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für Angehörige der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz“ vom 1. November 1939 ins Auge: Diese hatte nicht weniger zum Zweck als für die „Sonderaktionen“ bzw. Vernichtungsaktionen der SS und der eingesetzten Polizeiverbände in den besetzten Gebieten strafrechtliche Sanktionsfreiheit zu schaffen und sie der Gerichtsbarkeit der Wehrmacht zu entziehen (vgl. ebd.: 107f.). Auch die damit einhergehende formalrechtliche Rahmung war eindeutig: „Einberufungen und Befehle zur Teilnahme an den Mordaktionen erfolgten aus rechtlichen Gründen (…) stets unter dem Titel ‚besonderer Einsatz‘ (…). Die Richter unterstanden dem Reichsführer SS“ (Staudinger 1999: 108).

Nun mögen Kritiker die rechtsabsichernde Formulierung des „besonderen Einsatzes“ womöglich wieder als ein Indiz dafür deuten, dass selbst bei derlei Aktionen eine äußere rechtliche „Form“ gewahrt werden musste und das politische System selbst hier nach wie vor vor einer direkten Auflösung des Rechtssystems – etwa durch komplettes Nichtbeachten solcher formalrechtlichen Anforderungen – zurückschreckte. Zugleich zeigt aber allerspätestens die direkte hierarchische Unterstellung der Sonderrichter unter einen maßgeblichen politischen Akteur bei gleichzeitiger, immer stärkerer Ausdehnung der Sondergerichtsbarkeiten während des Krieges (s. o.) allzu deutlich ein immer weiter ansteigendes Ausmaß an politisierender, funktionaler Entdifferenzierung auf, das auch kein Systemtheoretiker, der die Augen nicht vollständig vor der rechtshistorischen Empirie verschließt, in seinem theoretischen Denken ignorieren kann. Die Sondergerichtsbarkeit trug entscheidend mit dazu bei, „daß zumindest im Bereich der Verhaltensanpassung und -normierung die Staatsbürger total beherrschbar im Sinn eines totalen Staates wurden“ (ebd.: 108). Das politikwissenschaftliche Konzept des Totalitarismus trifft hier also nicht mehr bloß auf die Programmatik des Nationalsozialismus zu, sondern auch ganz konkret auf die Regierungspraxis und das Systemverhältnis von Politik und Recht. Der NS-Staat war totalitär, gerade auch mit Blick auf das Rechtssystem. Allenfalls sein Vorgehen dabei war von Anfang an geschickter, weil subtiler – mit den Sondergerichten wurde die Rechtsprechung als Zentrum des Rechtssystems unterwandert und verdrängt anstatt direkt „annektiert“. Es lässt sich damit aber durchaus konstatieren, dass die Sondergerichte systemtheoretisch gesprochen die Rolle einer operativen Kopplung von Politik und Recht innehatten, die dazu diente, letzteres zu politisieren.

Für die Anfangsmonate des Dritten Reiches macht Staudinger einen rudimentären Rest an unabhängiger Gerichtsbarkeit aus, woraufhin jedoch – auch abseits der Einführung der Sondergerichte – eine immer weitergehende Gleichschaltung der Strafjustiz eintrat, was etwa auch über die politisch entschiedenen Kompetenzzuordnungen zu den Gerichten gewährleistet wurde (vgl. ebd.: 108f.). Doch auch die Änderungen des formellen und materiellen Strafrechts im Rahmen der Gesetzgebung hatten selbstverständlich einen nachdrücklichen und beträchtlichen Effekt auf die Rechtsprechung (vgl. ebd.: 109): Mit dem „Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches“ vom 28. Juni 1935 und der damit einhergehenden Aufhebung des Analogieverbotes (vgl. Schier 1961: 36) erfolgte mittelbar auch eine Politisierung der Rechtsprechung. Interessanterweise war jene Form der verhältnismäßig „direktiven“, intervenierenden Entdifferenzierung seitens des politischen Systems aber faktisch gar nicht nötig, um eine entsprechende Politisierung des Strafrechts herbeizuführen: So „zeigt die Praxis, das[s] die Gewöhnung an die gesetzliche Bindung so stark war, daß vom Analogiegebot kaum Gebrauch gemacht wurde, sondern ein Sich-Klammern an Normen feststellbar ist, selbst dann, wenn die Normen extensiv oder gar contra legem ausgelegt werden mußten“ (Staudinger 1999: 109).

Anders gesagt: Da, wo es der nun politischen Leitdifferenz, die fortan auch dem Recht übergeordnet war, nicht widersprach, konnte tatsächlich noch eine oberflächliche Bezugnahme auf rechtliche Kommunikation erfolgen, welche nur im Ausnahmezustand, in dem nach Schmitt das Politische in seiner souveränen Dezision hervortritt, beiseitegeschoben werden musste. So lange, wie ein selbstreferenzielles Operieren des Rechts im Sinne der Freund-Feind-Differenz erfolgte, war es auch erlaubt. Abermals zeigt sich hier die zunächst gewiss nur „halbierte Entdifferenzierung“, die nicht als Auflösung des Rechtssystems, sondern als – dafür aber sehr klare – Hierarchisierung des Systemverhältnisses von Politik und Recht verstanden werden muss. Zugleich wurde den Straf- und Sondergerichten damit aber auch die konkrete „Rechtsschöpfung nicht nur erlaubt, sondern nach dem Prinzip des gesunden Volksempfindens geradezu [angeordnet]“ (ebd.: 110). Im Zuge der Rechtsprechung wurde zugleich also auch – unter der Maßgabe einer politischen Leitunterscheidung, wie die Bezugnahme auf das Volksempfinden zeigt – (politisches) Recht selbst neu geschaffen. Wenn nun im Folgenden im Zuge der Rechtskommunikation daran angeschlossen wurde, wurde also faktisch auf eine politische Funktionslogik rekurriert, die sich allenfalls im juristisch-formalen talk als „rechtlich“ ummantelte.

Wie oben bereits beschrieben, nahm die entdifferenzierende Entwicklung mit Kriegsbeginn und der stetigen Verschärfung der kriegsgesellschaftlichen Dynamiken ab diesem Zeitpunkt spürbar zu und ging schließlich klar über eine „halbierte“ Dimension hinaus. Zunächst wurde das Strafverfahren immer weiter vereinfacht, um eine Verkürzung der Verfahrensdauer zu bewirken und von der NS-Führung als lästig empfundene formale Regelungen auszuhebeln (vgl. Staudinger 1999: 110). Ein mehr als deutlicher Einschnitt im Systemverhältnis von Politik und Recht tat sich gegen Mitte des Krieges auf, als Hitler selbst mit einer Reichstagsrede am 26. April 1942 nicht weniger als eine handfeste Justizkrise auslöste, da er darin sowie bereits zuvor in einem Erlass vom 21. März 1942 direkt und indirekt seine Unzufriedenheit mit der deutschen Rechtspflege bekundete (vgl. ebd.: 110): „Er bestimmte daher, daß bei Verfahren in Strafsachen einschließlich des Strafvollzugs alle ‚entbehrlichen Maßnahmen‘ zu entfallen hätten und daß die Verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen seien. Die Vereinfachung habe soweit zu gehen, daß es mit dem Zweck des Verfahrens gerade noch vereinbar sei“ (ebd.: 110). Im Zuge dessen fiel für alle Strafgerichte die Eröffnung des Hauptverfahrens weg, gerichtliche Entscheidungen sowie Anklageschriften mussten auf das Nötigste beschränkt werden und die Mitwirkung hauptamtlicher Beisitzer im Rahmen gerichtlicher Entscheidungen wurde eingeschränkt (vgl. ebd.: 110).

Da die Maßnahmen des Erlasses aus Sicht Hitlers nicht schnell genug umgesetzt wurden, reagierte er schließlich mit der besagten Reichstagsrede, infolge derer Richter um ihre Beschäftigung fürchteten und von einer noch stärkeren Beeinflussung der Strafrechtspflege durch die NSDAP ausgingen (vgl. ebd.: 111), und in der er u. a. seine Erwartung bekundete, dass „die deutsche Justiz versteht, daß nicht die Nation ihretwegen, sondern daß sie der Nation wegen da ist, das heißt, daß nicht die Welt zugrunde gehen darf, in der auch Deutschland eingeschlossen ist, damit ein formales Recht lebt, sondern daß Deutschland leben muß, ganz gleich, wie immer auch formale Auffassungen der Justiz dem widersprechen mögen (…). Ich werde von jetzt ab in diesen Fällen eingreifen und Richter, die ersichtlich das Gebot der Stunde nicht erkennen, ihres Amtes entheben“ (Hitler 1942; zitiert nach Staudinger 1999: 111). Es sticht nur allzu sehr ins Auge, dass mit der Zuspitzung des Zweiten Weltkrieges das vor 1933 im Großen und Ganzen differenzierte Systemverhältnis von Politik und Recht endgültig einen Punkt erreicht hatte, bei dem selbst von einer „halbierten Differenzierung“ nicht mehr die Rede sein konnte. Wo die politische Führung in einer zentralen Rede ankündigt, die für die Operationen des Zentrums des Rechtssystems maßgeblich zuständigen Personen aus ihren Ämtern zu entfernen, wenn sie nicht die politische Freund-Feind-Logik über jene „formalen“ Unterscheidungen eines vormals selbstreferenziellen Rechts stellen, da kann von einem autonomen Rechtssystem, ja auch von einer autonomen, politisch unabhängigen Rechtsprechung endgültig nicht mehr die Rede sein – auch abseits der zuvor subtileren Unterwanderung des rechtlichen Zentrums durch die Sondergerichte und abseits von zuvor schon üblich gewordenen mittelbaren und unmittelbaren Eingriffen wie etwa einer „‚linientreuen‘ Personalpolitik, mit öffentlicher Justizschelte und sogenannten Richterbriefen, in denen noch nicht NS-treue Richter auf ‚Vordermann‘ gebracht werden sollten“ (Ostendorf 2005). Von nun an konnte direkt politisch interveniert werden – und dies offensichtlich und öffentlich bekundet „von ganz oben“.

Die kleinschrittigere Entdifferenzierung auf dem formal-strafverfahrensrechtlichen Wege ging in der Zeit nach diesem Einschnitt ebenfalls weiter: Mit dem Führererlass vom 13. August 1942 wurde die Strafrechtspflege weiter vereinfacht, indem u. a. die Strafgewalt der Amtsrichter auf bis zu 5 Jahren Zuchthaus erweitert und es den Vorsitzenden von Sonder- wie auch anderen Gerichten fortan ins eigene Ermessen gestellt wurde, ob die Mitwirkung von Beisitzern oder eines Schriftführers bei der Hauptverhandlung unbedingt nötig war – was im Ergebnis dazu führte, dass ab etwa Ende 1942 strafverfahrensrechtlich kaum noch Unterschiede zwischen ordentlichen Strafgerichten und Sondergerichten bestanden (vgl. Staudinger 1999.: 111f.). Das führt Staudinger zu einer für die Leitfrage dieser Arbeit sehr entscheidenden, bemerkenswerten Schlussfolgerung: „In diesem Sinn darf behauptet werden, daß die letzten Reste der Gewaltenteilung im Zusammenhang mit der Justiz ab diesem Zeitpunkt aufgehoben waren“ (Staudinger 1999: 112; Hervorhebungen F. S.).

Diese treffende staatsrechtliche Diagnose einer nun erfolgten kompletten Aufhebung der Gewaltenteilung, die, rechtshistorisch klar unterfüttert, in beeindruckender Weise den fortgeschrittenen Zustand der politisierenden, funktionalen Entdifferenzierung des Rechts zu jenem Zeitpunkt aufzeigt, darf jedoch nicht verwechselt werden mit einer etwaigen makrosoziologischen Diagnose einer kompletten politisierenden, funktionalen Entdifferenzierung. Letztere würde sich eher dergestalt äußern, dass gewissermaßen ohne jegliches Strafverfahren und bereits rein auf politische Anordnung hin jedermann jederzeit mit Haft oder Tötung hätte sanktioniert werden können – ein Zustand, der allenfalls für die allerletzte Phase des Krieges im Jahr 1945 angenommen werden könnte (wir werden auf diese Phase des Dritten Reiches im Folgenden nochmals zurückkommen). Da zumindest rein formal weiterhin rechtliche Abläufe erfolgten – und dies eingebettet in eine noch zweifelsfrei immer auch rechtliche Semantik, sowohl in der Gesetzgebung (wenn auch hier neu etikettiert in Form des „Führererlasses“) als auch in der Rechtsprechung – muss selbst für Ende 1942 noch vom partiellen Anschließen an rechtliche Unterscheidungen innerhalb eines Funktionssystems Recht ausgegangen werden – nur eben längst nicht mehr autonom, sondern entdifferenziert und stets unter der Aufsicht und dem klaren Primat des (immer häufiger, immer direkter und immer drastischer intervenierenden) Politischen.

Nichtsdestotrotz war eben dieser Prozess im Vergleich etwa zur Frühphase des Dritten Reiches Mitte der 30er Jahre, in der die funktionale Entdifferenzierung subtiler- und paradoxerweise noch über organisationale Differenzierung in ordentliche Gerichte und Strafgerichte vorangetrieben wurde, gerade auch bedingt durch die zunehmende kriegsgesellschaftliche Transformation, äußerst weit fortgeschritten. Nun hingegen wurde funktional entdifferenziert, indem auch auf organisationaler bzw. personaler Ebene entdifferenziert wurde – weniger subtil, sondern ganz offen, ja sogar öffentlich bekundet und angedroht in einer Rede vor dem Reichstag. Auch diese erkennbar veränderte Methode des Vorgehens zur Verwirklichung des totalen Staates zeigt den Grad an sozialstruktureller Verankerung entdifferenzierter Systemverhältnisse auf – wo diese nicht so weit fortgeschritten gewesen wäre, hätte die politische Führung gar nicht den Mut gehabt, so offen vorzugehen, selbst in einer Diktatur nicht, welche damit nun aber endgültig „totalitär“ war. Die Bedrohungslage des Krieges, die die Freund-Feind-Differenz jedermann in der Bevölkerung plastisch, d. h. über Kriegseinsätze (und sei es „nur“ von Ehepartnern, Verwandten, Freunden, Kollegen oder Bekannten) und sonstige existenzielle Nöte vor Augen führte, schuf allgemeine Akzeptanz für politische Maßnahmen der funktionalen Entdifferenzierung. Genau hierin zeigt sich die sozialstrukturell äußerst effektvolle Seite der Kriegsgesellschaft.

In der Gesamtsicht kommt Staudinger für die strafrechtliche Rechtsprechung des Dritten Reiches zu einem klaren – und für die Leitfrage dieser Arbeit entscheidenden – Fazit: „Das Strafrecht war im Dritten Reich eindeutig ein Instrument, um den politischen Willen der Machthaber durchzusetzen. Hierfür wurden sämtliche Rechtsgrundsätze aufgegeben, um mit einer willfährigen politischen Gerichtsbarkeit Druck auf Regimegegner und auf nicht angepaßte Volksgenossen ausüben zu können (…). Insbesondere die Tatsache, daß das Strafrecht als politische Waffe in generalklauselartiger Form an eine politisch erwünschte Situation angepaßt wurde, machte eine ordentliche Rechtsprechung in diesen Bereichen praktisch unmöglich“ (ebd.: 126). Die Instrumentalisierung des Rechts durch die Politik, die Aufgabe der Rechtsgrundsätze (also der Selbstbezüglichkeit des Rechts) und die Politisierung des Strafrechts durch Generalklauseln mit der Folge einer entsprechend politisch agierenden Rechtsprechung zeigt nachdrücklich auf, dass die strafrechtliche Rechtsprechung und damit ein wesentlicher Teil auch des Zentrums des Rechtssystems im Dritten Reich als politisiert und damit als dem Primat des Politischen hierarchisch untergeordnet und somit funktional entdifferenziert betrachtet werden kann.

Auch für den verfassungsrechtlichen Bereich gibt es bereits aus der Frühphase (!) des Dritten Reiches sehr eindeutige Hinweise, die auf Erscheinungen der Entdifferenzierung schließen lassen und nachdrücklich vor Augen führen, dass die Weimarer Reichsverfassung, die systemtheoretisch als strukturelle Kopplung des politischen Systems und des von diesem funktional differenzierten Rechtssystems verstanden werden muss, nicht nur durch die einschlägigen und prominenten Gesetze und Verordnungen der NS-Führung im Jahre 1933 (Ermächtigungsgesetz und Reichstagsbrandverordnung) außer Kraft gesetzt wurde, sondern in nicht unwesentlichen Teilen auch durch die Rechtsprechung selbst – was, betrachtet man deren systemtheoretische Zuordnung als Zentrum des Rechtssystems, als entscheidendes Indiz für funktionale Entdifferenzierung betrachtet werden muss. Und dies gilt längst nicht erst für die Phase ab Kriegsbeginn, sondern bereits ab 1934.

Niemand anderes als Ernst Fraenkel lieferte – wohl als einer der ersten – hierfür die zentralen Beispielfälle, die diesen Prozess aufzeigen. So gestand zwar das Reichsgericht in einem Urteil zur Enteignungsfrage am 22. Oktober 1934 der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 nur eine zeitlich befristete Geltungsdauer zu (vgl. Fraenkel 1984: 39), „denn der entscheidende Paragraph der Verordnung spricht deutlich die Außerkraftsetzung des Art. 153 schlechthin aus mit der einzigen Maßgabe, daß dies nur bis auf weiteres zu gelten habe“ (Reichsgericht 1934; zitiert nach Fraenkel 1984: 39). Hier zeigt sich also noch der – zaghafte – Versuch des rechtlichen Zentrums, mittels autopoietischer, also auf Recht bezugnehmender Rechtskommunikation eine zeitliche Begrenzung des Ausnahmezustandes festzuschreiben und sich dadurch innerhalb intakter rechtssystemischer Grenzen zu bewegen.

Dieser vorsichtige Versuch einer Zurückweisung dauerhafter politischer Interventionsansprüche wurde aber faktisch schon zuvor durch den Einfluss der Reflexionstheorie konterkariert, und zwar, konkreter gesprochen, durch den Verfassungsrechtler und Protagonisten der Kieler Schule Ernst Rudolf Huber, der in einem Kommentar zu einem Urteil des Sondergerichts Darmstadt vom 26. März 1934 schrieb: „Die heutige Gesetzgebung hat nur aus Gründen der äußeren Ordnungsmäßigkeit und Ruhe (Legalität) (…) sich eines formellen Verfahrens der Weimarer Verfassung bedient; aber sie fußt damit nicht in der Sache auf der Weimarer Verfassung und leitet ihre Rechtfertigung (Legitimität) nicht aus ihr her“ (Huber 1934; zitiert nach Fraenkel 1984: 39f.). Einer der wichtigsten NS-Verfassungsrechtler gab damit öffentlich und unumwunden zu, dass die Weimarer Verfassung für den Nationalsozialismus dort, wo sie beachtet wurde, eigentlich nichts anderes war als ein (rechtliches) Mittel zum (politischen) Zweck.



Literatur

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.

Ostendorf, Heribert (2005). Justiz im Dritten Reich. Politische Strafjustiz vor und nach 1945. Bundeszentrale für Politische Bildung. https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/61055/justiz-im-dritten-reich?p=all (letzter Zugriff: 23.10.2020) 

Schier, Wolfgang (1961). Rechtsschein und Rechtswirklichkeit unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Würzburg: Werkbund.

Staudinger, Roland (1999). Rassenrecht und Rassenstaat. Die nationalsozialistische Vision eines “biologischen totalen Staates”. Hall in Tirol: Berenkamp.

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