„Christliches“ Abendland?

Europas eigene Religion
und die Ablehnung des Dualismus


Die Formulierung des „christlichen“, manchmal gar des „christlich-jüdischen“ Abendlandes ist in nicht geringen Teilen der deutschen Konservativen in aller Munde. Nun ist das Abendland in seinem kulturellen Kern aber nicht nur nicht islamisch und nicht jüdisch, sondern auch nicht christlich: Die viele Jahrhunderte währende Dominanz der Kirchen, die in Wahrheit Machtpolitik teils hoch weltlicher politisch-religiöser Institutionen war, mag zwar diesen Eindruck schaffen, aber eben nicht mehr als „Kleider Leute machen“ – sie gaben Europa eine Art religiösen Mantel, ein Machtmittel, eine Form, spiegeln jedoch nicht seine spirituelle Substanz, sein Wesen wider.

Die Ödnis des Jammertals

Das dem Judentum entsprungene Christentum ist, ebenso wie der Islam, eine im Kern orientalische Religion, wie dies Sigrid Hunke in ihrem epochalen Werk „Europas eigene Religion – Der Glaube der Ketzer“ (2. Aufl. 1983) deutlich gemacht hat. Die Kernthese dieser religionswissenschaftlichen und soziologischen Analyse Hunkes begründet sich längst nicht nur aus dem Ort der Entstehung heraus, sondern auch aus der diesen monotheistischen Religionen zugrundeliegenden Geisteshaltung. Für die Deutsche Unitarierin Sigrid Hunke war der entscheidende Gegensatz zwischen den monotheistischen Religionen des Orients und dem heidnisch-pantheistischen Ur-Glauben Europas der zwischen Dualismus und Unitarismus: Die Monotheisten unterteilen zwischen Jenseits und Diesseits, Gut und Böse, Heilig und Sündig usw. Dieser strikte Dualismus führt nicht nur zu fanatischem Moralismus, der letztlich stets in Absolutismus und Gewalt münden muss, weil sich die einen stets auf der Seite des „Guten“ verorten und damit die jeweils anderen als „böse“ entmenschlichen.

Zugleich führt er zur Abwertung des Diesseits: Die Menschheit lebt derweil diesseitig in einem „Jammertal“, während Gott nicht etwas Diesseitiges ist, sondern im paradiesischen Jenseits auf den Menschen nach dem Tode wartet. Bis dahin lebt der Mensch in Sünde, Boshaftigkeit und Schuld und kann sich von deren moralischer Last nur durch die Demut gegenüber einem jähzornigen biblischen Gott befreien. Hunke verortet diese in allen drei monotheistischen Religionen, sowohl im Koran wie auch in der Bibel zum Ausdruck kommende Mentalität in der tief verinnerlichten Bewusstseinswelt des orientalischen Menschen, der mehrheitlich in einer lebensfeindlichen Umgebung von Wüste, Trockenheit und Hitze lebt und daher buchstäblich naturgemäß eine negative Sichtweise auf das Diesseits hat. Aus dieser Sicht ergibt sich in der Folge die Idealisierung eines utopischen Jenseits, von der man sich „Erlösung“ erhofft – die man aber nur durch sklavische Unterwerfung unter einen autoritären Gott erlangen kann.

Die Kraft, die uns trägt

Hunke stellt dieser Mentalität nun die des abendländischen Menschen gegenüber, welcher als Europäer eigentlich ein ganz anderes Diesseits-Bild hat: Er ist sozialisiert worden mit einer Natur, die lebensfreundlich ist, die ihm jene Elemente bietet, die zum Leben notwendig sind, die über ihre reiche Fülle an Fauna und Flora das Göttliche in das Diesseits trägt. Für den sich nicht sklavisch unter einen Gott unterwerfenden „faustischen Menschen“ des heidnischen Europas ist Gott auch nicht jenseitig. Er braucht kein Heilsversprechen und keine Offenbarung, für ihn ist das Göttliche dort, wo das Leben ist, also: im Hier und Jetzt. Er sieht sich nicht als Büßer und Schuldigen, der sich stets beugen und das Haupt senken muss, um nach dem Tod Erfüllung zu finden, sondern er findet die Erfüllung im Leben selbst, er fühlt Gott – eher: das Göttliche, „die Kraft, die uns trägt“ (nach einem Buchtitel des Unitariers Eberhard Achterberg) – in sich selbst.

Er wartet nicht auf Erlösung von außen, er kämpft im Diesseits für ein Leben in Harmonie mit der göttlichen Natur: „Jeder hat sein eigenes Maß an Heil und vermag die göttliche Heilskraft in sich zu steigern, ebenso wie das Heil in ihm schwinden und verkümmern kann. (…) Dieses ‚Heilige‘ oder ‚Heil‘ (…) ist der tiefe gemeinsame, bindende und verpflichtende Grund aller Sippengemeinschaft. Heil ist die überall und in und durch den Menschen wirkende göttliche Segens- und Glückskraft, die das Tun gelingen läßt und mit dem Tun wächst, die den Menschen in Wagnis und Gefahr trägt und über sich hinausträgt und mit dem Bestehen der Gefahr sich auflädt und anschwillt, etwas, was ständig bewährt werden muß, um voll und mächtig zu bleiben. Mit dem Heil wirft der Mensch über sich selbst und seine eigenen persönlichen Maße hinaus. Durch das Heil ragt der Mensch in das Göttliche hinab, oder vielmehr umgekehrt, springt das Göttliche aus der Welttiefe in ihm empor, so hoch wie nachdem, wie hoch er selbst sich mit seinem Willen, seiner Ehre emporreckt. Das Heil ist Einklang und Einssein mit der Welt, mit dem All durch Welt und All mit dem Göttlichen: Geborgensein. Unheil ist Störung und Zerstörung des Einsseins.“ (S. 372). Unitarischer Pantheismus ist insofern im Grunde nichts anderes als die reinste Form des Humanismus, die man sich vorstellen kann, denn er hat Vertrauen in die Kraft des Menschen, für sich selbst und seine Mitmenschen zu leben, zu kämpfen und Verantwortung zu übernehmen, ohne sich unterwerfen zu müssen.

Die Stärke des antiken Heidentums

Im antiken Heidentum Europas drückte sich diese Sichtweise noch in einem zeittypischen polytheistischen Rahmen aus, im nordischen, (indo-)germanischen, im keltischen und im hellenisch-römischen Vielgötterglauben. Aus der heutigen „neuheidnischen“ bzw. neo-paganistischen Sichtweise heraus, die das Heidentum eher pantheistisch versteht (also Gott als eine einzige Kraft in allem Lebenden und Natürlichen sieht), kann jedoch geistes- und ideengeschichtlich klar an jenes antike, polytheistische Heidentum angeschlossen werden, da die alten Götter nichts anderes waren als Symbole und Versinnbildlichungen der Natur (Blitz und Donner, Meer, Wald, Berge und Flüsse, Sonne und Mond…) und damit antike Formen der Darstellung und Personifizierung ein- und derselben, uns allen innewohnenden Kraft. Die polytheistischen Götter sind im Gegensatz zum monotheistischen Gott für sich genommen daher auch weder allmächtig noch perfekt: „Kein Konflikt hat hier Gott und Mensch in äußerster Fremdheit auseinandergetrieben. Zwischen Gott und Mensch bestehen Gradunterschiede, kein Wesensgegensatz“ (ebd.). Gerda Holtzberg schreibt in der Zeitschrift Glauben und Wirken (3/2019): „Der Germane sieht sein Heil im Erfolg, ob im Kampf oder in der Arbeit. Denn er ist sich des Beistandes seines Gottes – in den alten Sagas fast ausschließlich Thors – sicher. Er hat eine freundschaftliche Beziehung zu ihm, er ist sein fulltrui, eine hohe, helfende, gütige Macht, gewissermaßen sein besseres Selbst. Das germanische Heldenideal ist ganz frei von Dämonenfurcht. Der heidnische Lebensmut hat seine Wurzeln im unbedingten Gemeinschaftsgefühl der Sippe“ (S. 19).

Neuheidnische Pantheisten sind, ob sie sich nun selbst so nennen mögen oder nicht, Unitarier: Sie glauben an eine Unitas, eine allumfassende Einheit, einen göttlichen Ur-Grund, der sich im Diesseits, als und im Universum entwickelt hat. Eine Formulierung, die auch deutlich macht, dass die pantheistisch-unitarische Sichtweise im Gegensatz zu den Dogmen der monotheistisch-globalistischen „Weltreligionen“ nicht im Gegensatz zur Wissenschaft steht und dieser nicht widerspricht, sondern sich (wie Sigrid Hunke dies in ihrem Buch „Glauben und Wissen – Die Einheit europäischer Religion und Naturwissenschaft“ aufgezeigt hat) im Einklang mit ihr und ihren Erkenntnissen sowie übrigens auch mit der Evolutionstheorie befindet, die die göttliche Intelligenz, die sich in der Evolution ausdrückt, sogar plausibel aufzeigt.

In dieser Sichtweise gibt es zudem keine dualistischen Gegensätze zwischen Gut und Böse, Jenseits und Diesseits, Heilig und Sündig. Der Mensch, das Tier, die Pflanze, die Natur – sie beinhalten vielmehr immer beides, sie haben gute und schlechte Seiten, und die eine ist nicht ohne die andere denkbar. Die unglaubliche Weisheit dieser Sichtweise drückt sich auch in anderen Hochkulturen aus, wie etwa das genau diese Erkenntnis widerspiegelnde Yin-Yang-Symbol der chinesischen Taoisten deutlich macht. Erst der orientalische Monotheismus hat uns jenen Dualismus aufgestülpt, der den abendländischen Menschen über Jahrhunderte hinweg unter das Joch autoritär-missionarischer, geistesfeindlich-inquisitorischer und naturwidriger kirchlich-christlicher Moral getrieben hat.

Geborgen im göttlichen Ur-Grund

Der Glaube an ein göttliches Diesseits und die Absage an eine Seelenwanderung in ein Jenseits nach dem Tode (worunter übrigens die heidnische Vorstellung eines Walhallas nicht fällt, denn der gefallene Krieger ist weder mit einer Seele gleichzusetzen noch ist Walhall ein „Jenseits“ – vielmehr bereitet der Einherjer sich in einer anderen Welt auf den Endkampf im Zuge der Götterdämmerung bzw. Ragnarök vor) bedeutet freilich nicht Atheismus. Atheismus ist heutzutage oft mindestens ebenso dogmatisch wie monotheistische Lehren und in seinen Annahmen nicht weniger weitgehend – bedeutet er doch ebenfalls, angeblich etwas zu wissen, was nicht gewusst werden kann, so dass er ebenfalls nichts anderes als ein Glaube ist. Der kühl-spröde, absolutistisch anmutende Rationalismus der radikalen Atheisten (nicht: der Agnostiker!), die nach Erfahrung des Autors dieser Zeilen oft eher unzufriedene, innerlich „getriebene“ und mit sich selbst hadernde Persönlichkeiten sind, kennt keine Spiritualität und keine Metaphysik, keine Göttlichkeit und keine „Verzauberung der Welt“. Er ist daher unfähig, Trost zu spenden, Halt zu geben, Harmonie und Geborgenheit zu vermitteln, die emotionale Seite des menschlichen Wesens zu umfangen. Er ist die reine Verkopfung, die aber Menschen eher postmodern und daher potenziell psychisch krank macht anstatt ihnen eine sinnhafte geistige Heimat zu bieten. Und Sinn bzw. Sinnfindung sind die legitimen Ur-Motive jedes religiösen Strebens.

Der Tod im Sinne des unitarisch-pantheistischen Glaubens ist das Ende und zugleich doch nicht das Ende. Er ist das Ende im physischen, ja durchaus auch in einem wissenschaftlich-psychischen Sinne, nicht aber im Spirituellen: Leben und Tod werden eben auch keinesfalls dualistisch, sondern unitarisch betrachtet, das heißt sie werden als Kreislauf gesehen, der nichts anderes bedeutet als einen Übergang. Mit dem Tod gehen wir als Teil der göttlichen Kraft in eine andere Form über, fallen zurück in einen göttlichen Ur-Grund, ändern uns materiell und spirituell, tragen jedoch mit allem, was uns ausmachte, zu einer anderen Form des Lebens bei. Wir vergehen und verschwinden niemals ganz, sondern bleiben und werden von neuem eins mit dem All-Einen. Eine Perspektive, die übrigens – als Hinweis für die kritischen Rationalisten – keiner einzigen heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis widerspricht und dennoch zugleich eine Art von Halt und Trost bietet, die in ihrer Sinnhaftigkeit und ihrem Realismus zugleich einzigartig ist.

Meister Eckhart und die Geburt Gottes in der Seele

Dieser Glaube ist im Gegensatz zu den Darstellungen und Wünschen der Kirche(n) in Europa niemals ausgestorben, wie dies in Hunkes „Europas eigene Religion“ eindrücklich religionshistorisch aufgezeigt wird. Es ist insbesondere der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart, dem der Erhalt dieser Ideenwelt zu verdanken ist. Doch auch andere große Denker der abendländischen Geschichte wie etwa Giordano Bruno haben diese „eigene Religion“, teils unter schlimmsten Verfolgungen und Repressionen seitens der Kirche, über zwei Jahrtausende hinweg am Leben erhalten und wurden dafür als Ketzer beschimpft, gejagt und verurteilt.

Hunke beschreibt in „Europas eigene Religion“, dass jedem Menschen das Potenzial zum Entdecken und Erkennen der eigenen Göttlichkeit innewohnt: Sei es über Selbstreflexion oder spirituelle Erfahrungen in der Natur – wenn die Seele des Menschen ihr eigenes „Allerheiligstes“ entdeckt, ereigne sich hier, mit Meister Eckhart gesprochen, die Geburt Gottes in der Seele, es entstehe ein neuer, „eigentlicher“ Mensch, der das eigentliche Leben lebt und das durch ihn wirkende Göttliche erkennt. Es ist das Erkennen des Unsinns, „das Unendliche außerhalb des Endlichen“ zu suchen (S. 255), denn „nicht, wenn wir einen ‚gedachten‘, einen ‚gegenständlichen‘ Gott – Objekt unseres Betens, Wollens, Hoffens und Denkens – haben, sondern als Gott-Subjekt, indem wir ihn in uns einströmen, ihn uns durchfluten und durchformen und durch uns ausströmen lassen, so daß wir mit ihm über uns selbst hinausschreiten und uns hinausweiten, indem wir ihm in den anderen Gott Subjekten begegnen. Von hier alle Ethik, alles soziale Verhalten! (…) Hier wird im Ersterben der Ichsucht und Hinausgehen über unser Ich und im Einssein mit der Gottheit gerade das Selbst gewonnen, ein gesteigertes Leben geboren, indem Gott mit ihm und durch ihn wirkt. Hier geschieht (…) die Menschwerdung und Individualisierung des Göttlichen im ‚göttlichen Menschen‘“ (S. 384f.).

Die Emanzipation des abendländischen Menschen 
 
Dieses große Potenzial von Europas eigener Religion, deren Fundament in der Glanzzeit der Antike gelegt wurde und deren Licht auch von Jahrhunderten kirchlicher Unterdrückung und geistlicher Unterwerfung nie ganz ausgelöscht werden konnte, kann auch noch heute in der Emanzipation des abendländischen Menschen von globalistischen Ideologien eine beträchtliche Stärke bedeuten – wenn er sich durch sie von den Dogmen des dualistisch-monotheistischen Denkens (welches zunächst im Marxismus und schließlich im globalistisch-universalistischen Liberalismus seine hypermoralistische Fortsetzung gefunden hat) loszulösen weiß. Es zeigt jedenfalls, wie verfehlt es ist, als Rechter positiv auf ein vermeintliches „christliches Abendland“ zu verweisen: Es war die machtpolitisch motivierte Zwangschristianisierung, die das Abendland über Jahrhunderte hinweg in seiner Entwicklung behindert hat, wodurch zeitgleich die arabische Kultur im selben Zeitraum „überholen“ konnte (ebenfalls instruktiv beschrieben von Sigrid Hunke, diesmal in ihrem vielgelobten Frühwerk „Allahs Sonne über dem Abendland“). Die Befreiung von diesen mentalen und spirituellen Fesseln tut Not. Und gerade sie bedeutet die Zurückfindung zu unseren eigentlichen Wurzeln, unserer eigenen kollektiven wie individuellen Identität. Das wahre, das eigentliche Abendland ist nicht christlich. Es hat seinen eigenen Geist, der vor allen anderen da war, der immer da war – und der weiterhin da sein wird, trotz aller äußeren Versuche, uns den dualistischen Zwiespalt aufzuzwingen.

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