Kontextsteuerung im Dritten Reich?

Das systemtheoretisch inspirierte und in diese Theorie eingebettete Konzept der Kontextsteuerung geht auf Helmut Willke zurück (vgl. Willke 2001; Willke 2006: 241ff.), der in Anlehnung an Luhmann zuvor eine Enthierarchisierung der gesellschaftlichen Ordnung konstatierte (vgl. Willke 1992; 1993), und wurde von Ludolf Herbst auf den Nationalsozialismus selbst angewendet, genauer gesagt auf das Verhältnis von politischem System und Wirtschaftssystem im Dritten Reich bzw. die Frage der Steuerung des letzteren durch das erstere (vgl. Herbst 2005). Hier wird zwar nicht von einem Phänomen der Entdifferenzierung ausgegangen, allerdings vermag das Konzept eine mögliche, alternative systemtheoretische Erklärung für das Verhältnis auch von Politik und Recht im Nationalsozialismus zu beinhalten, die zumindest teilweise ohne die These einer Entdifferenzierung auskommt und maßgebliche Teile der entsprechenden politischen Steuerung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme weiterhin klar differenzierungstheoretisch erklärt, ohne dabei die Theorie der funktionalen Differenzierung für jene Gesellschaft grundsätzlich in Frage zu stellen.

Kontextsteuerung ist hierbei als eine Steuerungsvariante zu begreifen, die auf einer Skala, die von Selbststeuerung bis zu Fremdsteuerung von Systemen reicht, in der Mitte angesiedelt ist. Der systemtheoretischen Vorstellung, dass (Funktions-)Systeme operativ geschlossen, autopoietisch und dadurch selbststeuernd sind, und zugleich gerade deswegen nicht in andere Systeme hineinoperieren können, wird dadurch Rechnung getragen, dass Fremdsteuerung von Systemen in diesem Modell allenfalls als Kontextsteuerung erfolgen kann, d. h. über die Schaffung von Rahmenordnungen, wie etwa in Form der Gewährleistung von Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit, Eigentumsrechten und Wettbewerbsregeln für die Wirtschaft, aber unter Vermeidung direkter Steuerungsmöglichkeiten des Staates, oder beispielsweise in Form von „Hilfe zur Selbsthilfe“ in der Entwicklungshilfe (vgl. ebd.: 6). Inwieweit es sich bei einer solchen Rahmensetzung noch, dem Wortsinn nach, um „Steuerung“ handelt, ist freilich eine andere, semantisch-terminologische Frage, die an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden kann und soll. Deutlich wird jedoch, dass nach dieser Lesart Kontextsteuerung ein alltägliches Phänomen moderner funktional differenzierter Gesellschaft bzw. auch der entsprechend strukturierten Weltgesellschaft ist, wenn auch im letzteren Fall in geringerem Maße. Seien es wirtschaftliche Rahmungen wie etwa die „Soziale Marktwirtschaft“, seien es verfassungsrechtliche Prämissen, seien es engere gesetzliche Rahmungen für gesellschaftliche Teilbereiche, seien es EU-Richtlinien oder sonstige Rechtsnormen, die keine direkten Interventionen darstellen, aber gewissermaßen beim adressierten Funktionssystem eine Irritation bewirken (die dann allerdings durchaus unterschiedlich ausfallen kann) – im Zuge all dieser Beispiele sehen wir Fälle von moderner Kontextsteuerung, die aus dieser Sichtweise heraus eher den Normalfall als die Ausnahme und damit die Grundlage moderner politischer Regulierung darstellt.

Herbst bestreitet indes nicht, dass im Verhältnis von Politik und Wirtschaft im Dritten Reich zu beträchtlichen Teilen ein direktes Steuerungsverhältnis – und damit, ohne dass er es so nennt, Entdifferenzierung zwischen beiden Systemen – vorlag. Zwar handelte es sich bei der Wirtschaft im Nationalsozialismus ebenso wenig um eine Reinform der Zentralplanwirtschaft, wie sie vor allem in der Sowjetunion vorherrschte, jedoch kann von einer Marktwirtschaft ebenso wenig die Rede sein: Es galt das – politische – Primat der Erfüllung von Rüstungszielen, auch schon vor Kriegsbeginn, und dies begründete eine direkte politische Wirtschaftssteuerung, die Herbst als Wehrwirtschaft (welche ab 1939 zur Kriegswirtschaft wurde) bezeichnet sehen möchte (vgl. ebd.: 7). Mit dieser Begrifflichkeit soll aus seiner Sicht jedoch auch eine klare Abgrenzung zu den „Idealtypen“ Marktwirtschaft und Planwirtschaft geschaffen werden, welche beide nicht als Beschreibung der NS-Wirtschaft geeignet seien, womit sich Herbst von Sichtweisen abgrenzt, die diese eher „als ‚Hängenbleiben‘ auf dem Weg zur Planwirtschaft oder als fortschreitende ‚Zerstörung‘ der Marktwirtschaft (…) deuten“ (Herbst 2005: 8). Angesichts der Tatsache, dass es einen Vierjahresplan gab und zahlreiche dirigistische Eingriffe in die Wirtschaft seitens der NS-Regierung (wenn auch aus anderen Motiven heraus als in der UdSSR), ist dies eine durchaus streitbare These. Doch sie soll uns im Folgenden nicht beschäftigen.

Wichtiger ist an dieser Stelle die theoretische Rahmung von Herbsts Argumentation, im Zuge derer er sich auch der anderen wichtigen Konstante der NS-Wirtschaftspolitik, nämlich dem „Primärziel, den Einfluss von Juden auf die deutsche Wirtschaft auszuschalten“ (ebd.: 9), zuwendet. Im Einklang mit den Prämissen der Systemtheorie thematisiert Herbst schließlich die hoch relevante Problematik, wie es sein konnte, dass das (aus Sicht Hitlers ebenfalls „wehrwirtschaftliche“, da nach der politischen Freund-Feind-Unterscheidung des Nationalsozialismus determinierte) Ziel der „Entjudung“ tatsächlich erreicht worden ist, obwohl direkte Steuerung Trivialisierung zur Folge hat (vgl. ebd.: 9), aber bei alldem „nicht in einer trivialen sondern in einer hochkomplexen Gesellschaft statt[fand], die sich nicht so ohne weiteres mit direkten Steuerungsmethoden sollte umsteuern lassen“ (ebd.: 9).

Herbsts Frage ist, auch für uns an dieser Stelle, durchaus berechtigt, weil sie das Problem der direkten Systemsteuerung in den Blick nimmt und deren Vorliegen sodann mit Blick auf die daraus resultierenden, komplexitätsbedingten Schwierigkeiten hinterfragt. Er folgert aus jenem oben genannten Erreichen der wehrwirtschaftlichen Ziele, dass „neben der direkten Steuerung auch andere Steuerungsprinzipien wirksam gewesen sein [müssen], etwa Selbststeuerung und Kontextsteuerung“ (ebd.: 9). Letztere sieht er etwa dort am Werke, wo vorangegangene gesetzliche Veränderungen drastischen Ausmaßes, wie etwa die Nürnberger Rassengesetze, rechtliche Prämissen geschaffen haben, die, im oben beschriebenen Sinne, eine neue Rahmenordnung auch für die Wirtschaft bildeten, die dann in eben diesem Rahmen, in eben diesem Kontext, im entsprechenden politischen Sinne, aber eben durchaus noch unter Befolgung einer weiterhin selbstreferenziellen Gewinn-Verlust-Logik (die Enteignung der einen bedeutete schließlich Gewinn für die anderen), operierte (vgl. ebd.: 10). In der Tat waren etwa die Nürnberger Gesetze sicherlich noch kein direktiver Eingriff in das Wirtschaftssystem, schufen aber gewissermaßen einen rechtlichen Boden, eine Fundierung, aus der heraus weitergehende wirtschaftspolitische Maßnahmen der „Entjudung“ überhaupt erwachsen konnten. In derlei Fällen bedufte es insofern tatsächlich noch nicht zwingend einer vorangegangenen funktionalen Entdifferenzierung zwischen Politik und Wirtschaft, sondern die politische Änderung des rechtlichen Rahmens und damit die Steuerung über den Kontext des Systems schuf eine Grundlage für weitergehende Selbststeuerung hin zu den betreffenden Maßnahmen im Sinne der NS-Ideologie. Relativ unzweifelhaft dürfte es also Fälle gegeben haben, in denen der Erklärungsansatz der Kontextsteuerung – unter Wahrung der Theorie von der in jenen Fällen weiterbestehenden Systemdifferenzierung – durchaus greift.

Herbst wirft in diesem Zusammenhang einen besonderen Blick auf das Phänomen des gesellschaftlichen Konsenses, welches er ebenfalls als eine Art politischer Kontextsteuerung begreift. So habe der damals herrschende, von den Nationalsozialisten nicht nur mit restriktiven, sondern vor allem natürlich auch mit propagandistischen Maßnahmen erreichte und konstant weiter bestärkte, allgemeine rassistische und antisemitische Konsens gewissermaßen eine Grundstimmung erzeugt, in der es in vielen Fällen gar keiner direktiver, politischer Systeminterventionen mehr bedufte, um die nationalsozialistischen Ziele zu erreichen (vgl. ebd.: 11): „Kontextsteuerung durch Konsens ermöglicht Interventionen in autonome Systeme, ohne deren Selbstorganisationsfähigkeit zu beeinträchtigen“ (ebd.: 11). Eine solche Art der politischen Kontextsteuerung wäre dann freilich kein Alleinmerkmal des Nationalsozialismus mehr, sondern auch in anderen Autokratien sowie sogar in modernen liberalen Demokratien, in denen ein gesellschaftlicher Grundkonsens über bestimmte politische Fragen herrscht, an der Tagesordnung und eher die Regel als die Ausnahme. Im Dritten Reich ist dieser Konsens aus Herbsts Sicht auch „durch die Aufstachelung von Neid und durch andere höchst triviale Gefühle und Interessen“ (ebd.: 11) erzeugt worden. In der Tat ist auch in diesem Punkt anzunehmen, dass aufgrund jenes ideologisch und propagandistisch hergestellten Grundkonsenses in vielerlei Fällen Kontextsteuerung und Selbststeuerung von Funktionssystemen gänzlich ohne äußere politische Systemintervention und entdifferenzierende Operationen ausreichten, um die nationalsozialistische Ideologie umzusetzen: „Auf diese Weise wurden die auf der Mikroebene des Teilsystems überlebenden Formen der Selbststeuerung in neue weltanschaulich-ideologische Kontexte eingebunden, ohne im ideologischen Sinne gleichgeschaltet worden zu sein“ (ebd.: 11). Herbst führt diese Erkenntnis zu einer anderen Stoßrichtung, was nötige konzeptionelle Erweiterungen und Veränderungen des systemtheoretischen Modells angeht: „Es spricht viel dafür, dass die theoretische Prämisse der allgemeinen Systemtheorie, Selbststeuerung und Kontextsteuerung seien an demokratische Gesellschaftssysteme und offene Marktformen gebunden, modifiziert werden muss“ (ebd.: 11).

Diesem Fazit stimmen wir an dieser Stelle zu, zumal es durchaus nicht verwegen ist anzunehmen, dass ähnliche Mechanismen auch im Verhältnis zwischen politischem System und Rechtssystem griffen und der allgemeine gesellschaftliche Konsens im Recht wirkte, ohne dass es dafür in jedem Fall direktiver Fremdsteuerung bedurft hätte. Anders gesagt: Eine vollständige funktionale Entdifferenzierung im Sinne einer kompletten und totalen Politisierung anderer Systeme zu attestieren, wäre auch im Falle des Dritten Reiches wenig plausibel. Diese Einschätzung haben wir allerdings schon verdeutlicht, als wir für eine gradualisierbare Sicht auf Differenzierung und Entdifferenzierung Stellung bezogen haben, im Zuge derer das Vorhandensein von Differenzierung nicht automatisch Entdifferenzierung ausschließt und umgekehrt. Die an dieser Stelle wirklich entscheidende Frage, die im Zuge der im weiteren Verlauf noch folgenden empirischen Analyse geklärt werden muss, ist also vielmehr: Blieb es bei jenen Phänomenen von lediglich ideologisch veränderter Kontext- und Selbststeuerung bzw. reichten diese aus, um das NS-Programm umzusetzen – oder waren dies lediglich Teilerscheinungen, die unweigerlich von klaren entdifferenzierenden, politischen Systeminterventionen begleitet oder gar begründet werden mussten, damit sich daraus jene politische Umgestaltung ergab, wie wir sie – inklusive all ihrer drastischen Konsequenzen – aus der Geschichte kennen?

Herbst sieht zumindest für das Verhältnis von Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus eine leistungsmindernde Entdifferenzierung vorliegen, bei gleichzeitiger Trivialisierung, vor allem im Zuge der „Entjudung“, aber auch massiven Veränderungsdynamiken im Wirtschaftssystem aus politisch-ideologischen und wehrwirtschaftlichen Gründen (vgl. ebd.: 12): „Wenn diese Umsteuerung intendiert war, was schwer zu widerlegen ist, müsste man den Nationalsozialisten einen erheblichen Steuerungserfolg zugestehen“ (ebd.: 12). Hierfür seien, aus systemtheoretischer Interpretation heraus, vor allem Prozesse der Selbst- und der Kontextsteuerung verantwortlich, sowohl durch entsprechende Steuerungsformen, die das Ende der Weimarer Republik überdauert hatten als auch durch von den Nationalsozialisten geschaffene (vgl. ebd.: 13). Dazu zählt Herbst u. a. den (nationalsozialistisch geprägten) gesellschaftlichen Konsens (s. o.), welcher logischerweise erst mit der propagandistisch begleiteten Verfestigung der NS-Herrschaft eintrat, Handlungsautonomie durch den Führerabsolutismus sowie intermediäre korporative Verbände (vgl. ebd.: 13).

Tatsächlich dürfte hier die gesellschaftliche Dominanz der NSDAP und ihrer zahlreichen Unterorganisationen, die letztlich Berufsverbände, eine Einheitsgewerkschaft und vieles mehr umfasste, in beträchtlicher Weise zur politischen Steuerungsleistung beigetragen haben, indem durch diese der allgemeine politische NS-Konsens in einzelne berufliche, wirtschaftliche, sozioökonomische und kulturelle Milieus hineingetragen wurde. Allein etwa die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) war gewissermaßen ein Musterbeispiel der – für allerlei Diktaturen nicht untypischen – subtilen und gerade dadurch umso wirksameren „lebensweltlichen“ Verankerung der NS-Ideologie in weiten Teilen der Bevölkerung. In Einparteiensystemen dienen die jeweiligen großen Massenparteien mit ihren entsprechenden Apparaten zumeist genau dazu. Diese subtile Konsensherstellung über die Dominanz des Alltagslebens ließe sich in der Tat durchaus als eine Form hoch wirksamer Kontextsteuerung begreifen, die direktive, intervenierende Steuerungsmaßnahmen in vielerlei Fällen unnötig gemacht haben dürfte. Folglich wäre dort, wo sich derlei vorfinden lässt, nicht mehr von funktionaler Entdifferenzierung zu sprechen, was den weiteren Fokus auf eben jene Fragen des Systemverhältnisses von Politik und Recht im Dritten Reich lenkt, wo die oben genannten Formen der Selbst- und der Kontextsteuerung trotz allem nicht ausgereicht haben, um Politisierung zu erreichen (was allerdings eher die Regel als die Ausnahme war). Diese Abgrenzung legt nun den Grundstein für die weitere Analyse und verfeinert damit gewissermaßen unsere Beobachtungskriterien.


Literatur

Herbst, Ludolf (2005). Steuerung der Wirtschaft im Nationalsozialismus? Systemtheoretische Aspekte. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. 3-13.

Willke, Helmut (1992). Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Willke, Helmut (1993). Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation (2. Aufl.). Weinheim / München: Juventa.

Willke, Helmut (2001). Systemtheorie III: Steuerungstheorie (3. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius.

Willke, Helmut (2006). Systemtheorie I: Grundlagen (7. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

„Christliches“ Abendland?

Die plötzlich Verhärmte

Zwischen Distanzeritis und Dämonisierung