Die globale Systemfrage

…und daher mehr als „nur“ Geopolitik


Derzeit überschlagen sich im rechts-publizistischen Spektrum die Artikel zur Rückkehr zur Geopolitik. Keine namhafte Publikation im rechten Spektrum unterlässt es momentan, den Ukraine-Krieg und dessen internationale Implikationen aus der Theoriebrille klassischer Geopolitik zu betrachten, deren Autoren man inzwischen wiederentdeckt hat. Friedrich Ratzel, Karl Haushofer und natürlich Carl Schmitts „Land und Meer“ sowie seine „Völkerrechtliche Großraumordnung“ sind in aller Munde. (Fast hat man ein wenig den Eindruck, es sei unter Rechten „in“ geworden, auf diese zu verweisen. Assoziativ hat man eine Reihe von schnauzbärtigen Herren mit staatstragenden, ernsten Gesichtsausdrücken vor Augen, die sich in wilhelminischen Generalsuniformen um einen Tisch mit Kartenmodell scharen und auf diesem kleine Spielzeug-Panzer und -Schiffchen hin und her schieben. Man verzeihe dem Autor diesen – nicht böse gemeinten – szeneinternen Spott.)

Um auch hier nicht falsch verstanden zu werden: Ratzel und Haushofer können einem in geopolitischen Belangen eine Vielzahl faszinierender Einblicke liefern, insbesondere in historischer Hinsicht, aber nicht nur. Schmitts Werk umfasst sogar noch weitaus mehr, geradezu geniale Perspektiven eines (nicht nur juristischen) Universalgelehrten, dessen „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ in der Tat auch heute noch eine wichtige politische Positionierung für geostrategische Fragen bildet, die sich Rechte zu eigen machen können und sollten. Jedoch: Man geht das Risiko der Unterkomplexität ein, wenn man sich in sozialwissenschaftlichen Fragen – und die Frage von Krieg und Frieden ist so eine – auf monokausale Erklärungen einschießt, mögen sie auch noch so „hip“ oder innerhalb des eigenen politischen Spektrums anschlussfähig sein. Denn wir haben es nicht nur mit einer geopolitischen Frage zu tun – sondern mit einer globalen Systemfrage.

Bipolar – unipolar – multipolar

In vielerlei Hinsicht ist Geografie in der Tat ein (natürlich gegebenes) Schicksal, wie es die Schule der Geopolitik postuliert. Landesgrenzen bringen unterschiedliche militärische Möglichkeiten oder Einschränkungen (Seezugang, Bergland etc.) mit sich, und sie schaffen aus klimatischen und geologischen Gründen teils massive Unterschiede in den ökonomischen Potenzialen, die eine Nation genießt oder eben nicht genießt. Man kann also mit Recht sagen: Geografie ist schicksalhaft, und sie spielt vermutlich in so gut wie jeden politischen Konflikt der Welt in irgendeiner Weise mit rein, mal mehr, mal weniger, aber immer irgendwie beteiligt. Gleichzeitig gilt es jedoch auch anzuerkennen, dass das geografische Schicksal lediglich ein – wenn auch wesentliches – Element bildet, einen größeren Mosaikstein in einem jedoch großen Puzzle aus verschiedenen natürlichen, aber eben auch sozialstrukturellen Faktoren, die in ebenfalls nicht geringer, teilweise sogar noch stärkerer Form ihren Einfluss auf weltpolitisch relevante Konfliktlagen entfalten. Wissenschaftstheoretisch bedeutet diese Erkenntnis: Die Frage von Krieg und Frieden ist allein aus geopolitischer, sprich aus rein politikwissenschaftlicher Perspektive heraus nicht umfassend zu beleuchten. Es braucht immer auch die soziologische „Brille“, um sozialstrukturelle – und dadurch mittelbar: ideologische – Einflüsse kenntlich zu machen. Und diese sind – auch und gerade im Falle Ukraine – beträchtlich.

Und dabei geht es um mehr als nur den immer wieder, wenn auch zurecht kolportierten Wandel von erst bipolarer, dann zu unipolarer und schließlich zu multipolarer Weltordnung (ebenfalls Schlüsselworte, die derzeit in so gut wie jedem Geopolitik-Artikel auftauchen). Ja, es ist richtig: Wir haben es seit 1945 mit drei Phasen zu tun: Die Phase der bipolaren Weltordnung bis 1990, die geprägt war von den zwei Blöcken des kapitalistischen Westens und des „realsozialistischen“ Ostens, USA/NATO versus UdSSR/Warschauer Pakt; die seit einigen Jahren zu Ende gehende Phase der unipolaren Ordnung unter der Supermacht USA (von Francis Fukuyama Anfang der 90er Jahre fälschlich und beschönigend als demokratisch-neoliberal-globalisiertes „Ende der Geschichte“ eingestuft); und schließlich der Beginn einer multipolaren Ära mit mehreren Großmächten, die miteinander rivalisieren (USA, Russland, China usw.). Das alles sind jedoch typisch politikwissenschaftliche und dadurch in gewisser Weise triviale Erkenntnisse, die über die tatsächliche Qualität – und daher auch über nötige Positionierungen „von rechts“ innerhalb dieser neuen Ordnung – noch nicht viel aussagen und daher erheblich konkretisierungsbedürftig sind. Denn auf rechter Seite in Deutschland reicht es nicht aus, hier immer nur auf Bismarcksche Realpolitik zu verweisen und sich selbst irgendwie eine dazwischen stehende Rolle zuzurechnen, die mal hier, mal dort für das Verfolgen deutscher Interessen eintritt, ohne klare Verortung.

Wir sind nicht souverän

Ein solches Vorgehen ist allein schon deswegen zum jetzigen Zeitpunkt illusionär, da die Bundesrepublik faktisch, wie schon Wolfgang Schäuble öffentlich zugegeben hatte, seit ihrem Bestehen nie hundertprozentig souverän gewesen ist und dies auch heute nicht ist. Das direkte Handeln gegen erhebliche eigene ökonomische Interessen im Zuge des laufenden Konfliktes ist der beste Indikator dafür – neben auf deutschem Boden stationierten westlichen Truppen, neben auf deutschem Boden stationierten Atomwaffen der westlichen Supermacht, neben NSA-Abhöraktionen gegen deutsche Regierungspolitiker und Bürger, denen nie jemand ernsthaft entgegengewirkt hat usw. usf. Angesichts einer solchen Lage von deutscher Interessenpolitik zu reden ist ungefähr so, als wenn sich ein lebenslang verknackter Häftling hinter Gittern Gedanken über einen Hawaii-Urlaub macht. Diese Erkenntnis gilt es zunächst anzuerkennen, bevor man über weitere Optionen redet. Wer souverän sein will, muss zunächst seine Ketten abwerfen, in diesem Fall die Ketten des transatlantischen Denkens.

Bereits der erste Kalte Krieg war weit mehr als eine geopolitische Auseinandersetzung, auch wenn er dieses zweifellos auch war. Es war der Konflikt zwischen zwei ideologischen Modellen, zwischen zwei Regierungssystemen und – nicht zuletzt – auch zwischen zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen! Der Unterschied von Kapitalismus und Marxismus war nicht einfach irgendein politischer Mantel, den man sich zeitweise umgehängt hat, sondern er war ein Unterschied zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten, Politik und Gesellschaft zu denken und zu ordnen. Dieses kann, wer sich den Unterschied zwischen den Regierungsformen sowie Wirtschaftsordnungen in West und Ost bis 1990 anschaut, kaum wer ernsthaft bestreiten.

Individualismus vs. Kollektivismus, Universalismus vs. Partikularismus

Der Westen setzt sein liberal-individualistisches Gesellschaftsmodell gegen das heute konservativ-kollektivistische Gesellschaftsmodell des Ostens. Und dies hat, entgegen der westlichen Propaganda-Rhetorik, weniger etwas mit dem Unterschied von Demokratie und Autokratie zu tun: Man kann durchaus hinterfragen, wie demokratisch eigentlich ein Wahlsystem wie das US-amerikanische ist, wo faktisch nur Besserverdienende am Ende die Kapazitäten haben, politische Karriere zu machen und wo Washingtoner Lobbyisten und Thinktanks am eigentlichen demokratischen Souverän vorbei massiven Einfluss auf den Gesetzgeber entfalten – ein Phänomen, das in der EU zumindest im letzteren Falle genauso vorzufinden ist. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat dieses Phänomen treffend mit dem Begriff der „Postdemokratie“ umschrieben. Ferner: Was echter Systemopposition in der Bundesrepublik blüht, muss man innerhalb des rechten Spektrums niemandem mehr erklären. Auch Zensur ist dank „Big Tech“ in der westlichen Welt längst Alltag geworden, nur eben mittels privater anstatt staatlicher Akteure – im Ergebnis kaum ein Unterschied. Zu postulieren, im Westen würden also „Freiheitlichkeit, Demokratie und Rechtsstaat“ gelebt, während nur Russland, China und Co die Sphäre der Autokratien sei, kann man insofern nur als eine Phrase westlicher Propaganda umschreiben.

Das eigentliche „geistige Schlachtfeld“ zwischen beiden Blöcken besteht in der Frage von Individualismus versus Kollektivismus und, damit zusammenhängend, Universalismus versus Partikularismus. Die westliche Welt ist eine Welt der moralischen Selbstüberhöhung, in der das Individuum mehr zählt als die Kollektive, in die es eigentlich eingebettet ist / wäre (Familie, Kommune, Religion, Volk, Nation). Diese Sichtweise wird radikal universalisiert; sie muss, am besten am Ende mittels globalistischer Governance-Strukturen, der ganzen Welt aufoktroyiert werden, zur Not auch mit militärischen Mitteln (neokonservativer Ansatz), begleitet von neoliberalen ökonomischen Strukturen, die instrumentelle Organisationen wie Schwabs WEF über „soft power“ stark vorantreiben – eine Philosophie, die den Westen zu einem imperialistischen Block macht, der das Potenzial hat, eine Bedrohung für den Weltfrieden zu werden, wie auch die Waffenlieferungen an ein korruptes Regime in Kiew deutlich machen.

Die Bewertung Chinas

Russland als eine der Großmächte des konservativ-kollektivistischen Blocks verfolgt, im Sinne auch der Arbeiten eines Alexander Dugin, einen Kurs, den man als anti-globalistisch bezeichnen könnte. Doch in ähnlicher Weise gilt dies auch für die Volksrepublik China, die von vielen deutschen Konservativen interessanterweise oft noch immer kritischer gesehen wird als Russland – und das, obwohl China keinen Krieg begonnen hat, obwohl China auch nicht indirekt mit Nuklearwaffen gedroht hat, obwohl sich China zuletzt sogar, anlässlich des Besuches von Bundeskanzler Scholz, de-eskalativ zu Wort gemeldet hat – übrigens ein Zugeständnis, das auch ganz erheblich auch damit zusammenhängen dürfte, dass sich das Bundeskanzleramt dem Deal zum Hamburger Hafen nicht entgegengestellt hat. Genauso funktioniert Diplomatie: Geben und Nehmen. Eine Lektion, die alle zur Kenntnis nehmen sollten, die voreilig vor chinesischen Einflussnahmen auf deutsche Infrastruktur gewarnt haben. An die Macht, die die USA und so manche andere angebliche „Verbündete“ aus dem europäischen Osten mit Blick auf kritische Infrastruktur genießen, kommt die VR China mit ein paar Prozent Beteiligung am Hamburger Hafen in Jahren nicht heran (von der „freundschaftlichen“ Zerstörung von Pipelines ganz zu schweigen).

Allzu oft hat man den Eindruck, im hiesigen konservativen Spektrum dominieren, wie auch in anderen Feldern, manchmal noch immer die (inzwischen für jeden differenziert agierenden Beobachter nur noch entnervenden) assoziativen Reflexe der Kalten Krieger der 80er Jahre (NATO-Bundeswehr-Sozialisation?): „China = irgendwie kommunistisch = böse“. Dass die Realität eher so aussieht, dass China eine Art konservativ-kollektivistisches Bollwerk gegen den liberal-radikalindividualistischen Globalismus bildet, geht bei diesen anti-intellektuellen Affekten regelmäßig unter: In China jedenfalls sind liberale gesellschaftspolitische Exzesse wie Massenzuwanderung und LGBT-Fixierung politisch klar unerwünscht (im Gegensatz zu den USA). Wer in diesem – eigentlich entscheidenden – politischen Kampf nach internationalen Verbündeten sucht, sollte neben Russland also auch China nicht aus dem Auge verlieren.

Überdies gilt noch eine andere Erkenntnis: Weder Russland noch China sind in Deutschland Hegemonialmacht. Unsere Souveränität wird von westlicher Seite eingeschränkt, nicht vom Osten. Dem multipolar orientierten Kollektivismus Russlands und Chinas ist imperialistischer Universalismus, der seine eigene Ordnung universal ausdehnen will, nicht inhärent, ja sogar fremd. Innerhalb der in diesem Rahmen angestrebten non-interventionistischen Großraumordnung ist also die Möglichkeit einer freien kulturellen Entfaltung der Völker und ihrer Nationen letztlich eher möglich als in einer verwestlicht-globalisierten Welt, in der traditionelle Ordnungen atomisiert und die Menschen zu Marktkonsumenten degradiert werden.

Soziologische Perspektive und sozialstrukturelle Unterschiede

In wirtschaftspolitischer und -struktureller Hinsicht sind die Gräben zwischen West und Ost zwar nicht mehr ganz so tief wie noch zu Zeiten des ersten Kalten Krieges. Und dennoch zeigt die soziologisch-systemtheoretische Perspektive hier entscheidende Unterschiede auf, und diese liegen in der Frage der Gesellschaftsstruktur. Während der westliche Universalismus das Modell funktional differenzierter Gesellschaften lobpreist und vorantreibt, in denen das Primat des Politischen außer Kraft gesetzt ist (was im Ergebnis zu globalisiertem Kapitalismus ebenso führt wie zu einer allgemeinen Überhöhung des Individuums, selbst in seinen absurdesten sozialen Selbstdarstellungen), beinhaltet die chinesische Wirtschaftsordnung zwar nicht mehr das sowjetische Modell einer hochbürokratisierten Zentralplanwirtschaft, wohl aber ein effizientes Mischmodell aus plan- und marktwirtschaftlichen Elementen (je nach Branche und Betriebsform), aus Privat- und Staatseigentum. Mit anderen Worten: Hier bestehen ein politisches Primat über die Wirtschaft und damit auch einhergehende Steuerungsoptionen.

Dieser Unterschied ist sozialstrukturell, regierungssystemisch und ideologisch-weltanschaulich entscheidend, denn mittels politischer Steuerbarkeit bewahrt sich ein Staat die Möglichkeit, seine Wirtschafts-, aber eben auch seine Gesellschaftsordnung, seine gesamte nationale und kulturelle Identität gegen äußere Einflüsse effektiv zu verteidigen – kommen sie nun von anderen Staaten, von „Global Playern“ der Wirtschaft oder von globalen Institutionen wie dem WEF. Indem China sich diese Möglichkeiten bewahrt (und übrigens auch schon vor Xi Jinping immer bewahrt hat), schützt es seine nationalstaatliche Souveränität gegen globalistische Kräfte.

Kein Schicksal, sondern Systemfrage 
 
Der neue Kalte Krieg unterscheidet sich in weitaus geringerer Form von dem alten als es scheint. Beide Seiten haben sich technisch und gesellschaftlich zwar verändert: Der Westen ist noch ideologischer geworden und der Kapitalismus ist ein offensichtliches, woke-universalistisches Bündnis mit der linksliberalen Ideologie eingegangen (auch wenn sich die hiesige Boomer-Generation auch bei den Konservativen immer noch schwer damit tut, das endlich zu erkennen). Der Osten derweil hat sich vom marxistischen Universalismus verabschiedet, ist konservativ geworden und hat kollektivistisch-partikularistische Bastionen gegen den liberal-individualistischen Globalismus geschaffen. Wo sich souveränitätsorientierte Konservative in Europa dabei wiederfinden sollten, sollte eigentlich klar sein. Doch diese Erkenntnis hat man nicht, wenn man die Analysebrille zum Ukraine-Konflikt (oder auch zu Taiwan) auf rein geopolitische Aspekte reduziert. Militärische Fantasielosigkeit muss stets durch die strategische Brille der politischen und soziologischen Theorie kompensiert werden. Und diese besagt: Wir leben wieder in Zeiten, in denen die globale Systemfrage gestellt wird. Und diese ist kein natürlich gewachsenes „Schicksal“, sondern sie wird von uns selbst und unseren Staaten und Gesellschaften beantwortet werden.

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