Zwei Städte, zwei Welten

Dieser Text wurde vor genau drei Jahren, am 28. Februar 2020 verfasst - kurz vor Beginn der "Corona-Jahre".

 
Leben in Kontrasten
 
Man übertreibt nicht, wenn man Berlin quasi als das Gegenteil von Bielefeld bezeichnet. Berlin-Mitte zumindest ist - Achtung, ich gebrauche nun eine beliebte linksliberale Floskel - im wahrsten Sinne des Wortes "bunt". Nein, diese alten Klischees über die "dreckige", immer so etwas asoziale Stadt, mit unverschämten "Berliner Schnauzen", stimmen zumindest in Mitte so überhaupt nicht, trotz all der Baustellen. Aber über die muss man Einwohnern der "freundlichen Baustelle am Teutoburger Wald" ja auch nichts mehr erzählen. Soweit nichts Neues.

Berlin-Mitte ist bunt, und ich meine das nicht mal im Sinne des naiv-schwärmerischen "Multikulti" (das sicherlich auch irgendwie). Ich meine das im Sinne von Reizüberflutung. Es ist nicht nur hektisch - das sind alle Großstädte irgendwie, ob nun Düsseldorf, Essen oder Hamburg. Es ist flimmernd-glitzernd-bunt, voll von Angeboten für alle mit allem. Reize überall, sowohl für die Partylöwen und Gourmets als auch für die historisch oder politisch Interessierten. Selbst für Sextouristen: Bordsteinschwalben vor (wohlgemerkt alles andere als anrüchigen) Hotels sind nichts Ungewöhnliches.

Ein knalliger, bunter Strauß Blumen für jedermann. Laut, extrovertiert, geschäftig und: immer mit einem gewissen elitären Selbstverständnis. Ich betone: "Selbstverständnis". Klar, die echten, wirklichen Eliten sind auch da, aber, um diese herum wuselnd, eben auch ganz viele, die es sein WOLLEN. Konkreter: Hipster. Mit blau-kariert-gestreiften Hosen oder Anzügen, dem üblichen Look und einer Mischung von (vermutlich ziemlich unbegründetem) Snobismus und Dauergenervtheit in der Mimik. Überall laufen sie herum. Gehetzt. Konzentriert. Und vor allem: Wichtig. Gaaanz wichtig.

In seinem Hotelzimmer blickt man viele Stockwerke hoch über Berlin-Tiergarten, über andere Hotelgebäude, Firmengebäude, viele hochstöckige Bauwerke, die die Nacht hell erleuchten. Nacht? Nein, Nacht wird es hier nicht. Ich bin ein bekennender Nachtmensch, und ich kann klar sagen: So sieht eine "Nacht", die etwas auf sich hält, nicht aus. Das ist eher "Tag mit untergegangener Sonne". Ein bisschen weniger hektisch und flimmerig, etwas weniger voll von Reizen als der "Tag mit aufgegangener Sonne" - aber nicht allzu sehr. Und plötzlich, wenn man da so liegt, mit diesem zugebenermaßen tollen Blick auf das nächtlich erleuchtete Berlin, da wird sie einem klar, die Sozialpsychologie der Eliten: Es ist beinahe unausweichlich, dass jeder dieser "Anywheres", der sich fast nur noch in diesem Milieu aufhält, "abhebt", den Blick für die Alltagssorgen der "Somewheres" verliert, irgendwann nur noch verächtlich von "Dunkeldeutschland" spricht und ähnliche pseudokosmopolitische Manierismen zeigt, die im bodenständigen Bonn nie und nimmer so gewuchert wären wie in diesem glitzernden Mikrokosmos Berlin-Mitte.

Und dazwischen, zwischen all dem Glanz, zwischen all den Machtsymbolen des Regierungsviertels, all den Reizen und Angeboten, all den Nächten, die keine sind - dazwischen sitzen sie, die Verlorenen. Heimlich, still und leise. Mit einem von ihnen habe ich, als ich noch etwas Zeit hatte, bis mein Zug fährt, ein Gespräch geführt, nachdem ich ihm ein paar Euro zugesteckt hatte. Ein älterer Mann ohne Zähne, der öfters am Übergang der Spreebrücke vorm Hauptbahnhof sitzt, dick eingepackt in einen löchrigen Mantel und Mütze. Er erzählte mir, dass er, wenn es mit der Kälte gar nicht mehr geht, zum Glück einen Ort hat, wohin er gehen kann. Ich habe mir jetzt vorgenommen, meine eigene Hektik zu unterbrechen, wenn ich ihn sehe, und ihn zumindest immer zu grüßen, wenn ich ihm schon nicht jedes Mal was gebe. Er hat mehr Achtung und Anerkennung verdient als diese Frau, die - nur recht wenige Meter von ihm entfernt - seit 14 Jahren in diesem seltsamen Klotz sitzt und amtiert, den die Berliner "Waschmaschine" nennen. Sie würde ich nicht mehr grüßen.

Tja, und dann ist man abends wieder zurück in der Stadt, die es nicht gibt. Bielefeld ist erreicht. Man rollt aus dem Bahnhofsgebäude zur U-Bahn. Es regnet. Natürlich. Oh, nicht gussartig; wir sind ja wieder in der Stadt der Unscheinbarkeit. Hier nieselt es. Und die Menschen wirken plötzlich wie dieser Nieselregen. Unauffällig. Introvertiert. Nicht übermäßig freundlich (wir sind ja schließlich nicht im Rheinland), aber auch alles andere als aufdringlich. Berlin, dann Bielefeld. Es ist so, als habe man drei Tage lang in eine Discokugel geblickt - und als schaue man nun auf eine weiße Tapete. Ein leeres, weißes Blatt. Korrektur: Ein leeres graues Blatt. Unspektakulär. Fast wie nicht vorhanden. Aber für mich in diesem Moment fast von einer meditativen Ruhe. Eine Ruhe, in der man beginnt, langsam und tief ein- und auszuatmen und zu entspannen. Ich weiß: Ich bin wieder zuhause. Da, wo ich hingehöre, wenn der Tag endet. Da, wo es noch Nacht wird.

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