Entdifferenzierung VII: Organisationsgesellschaften und organisierte Gesellschaften

Ein Ansatz, der durchaus nicht wenige Parallelen zu dem der Kriegsgesellschaft aufweist, aber die in ihm enthaltenen Thesen nicht über das Phänomen des Krieges, sondern eher über die Wirkmächtigkeit politischer Ideologie herleitet, ist der der Organisationsgesellschaft nach Detlef Pollack (1990a; 1990b; 1991; 1994), welcher sich in seinen genannten Arbeiten insbesondere für die Gesellschaftsstruktur der DDR bzw. deren Veränderungen in den Jahren 1989/1990 interessierte, dessen Modell aber aus unserer Sicht durchaus auch auf das Dritte Reich anwendbar ist.

Der „Aufhänger“ für Pollacks systemtheoretisch inspirierten und hergeleiteten Ansatz ist die oft geäußerte Kritik an eben jener Systemtheorie, dass diese gesellschaftliche Wandlungsprozesse nicht erklären könne, was Pollack zu der Zielsetzung veranlasst hat, ein Modell für die DDR-Gesellschaft vor ihrem Zusammenbruch zu entwerfen, mittels dessen der Übergang zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaftsstruktur erklärt werden kann (vgl. Pollack 1990a: 293). Damit wird zugleich auch deutlich, dass auch Pollack nicht von einer weltgesellschaftlichen Prämisse ausgeht, sondern Gesellschaft – zumal die Gesellschaft der DDR – als etwas national, territorial und damit politisch umgrenztes ansieht, was demnach sogar „zusammenbrechen“ kann (s. o.).

Pollack geht in seiner Beschreibung der DDR-Gesellschaftsstruktur von zwei zueinander gegenläufigen Prozessen aus, die er selbst als Differenzierung und Entdifferenzierung beschreibt: Im Zuge von Urbanisierung, Technisierung und Rationalisierung kam es auch in der DDR über die Jahre zu funktionalen Ausdifferenzierungsprozessen, welche jedoch mit einer politisch forcierten funktionalen Entdifferenzierung konkurrierten (vgl. ebd.: 293f.): Da die SED im Aufbau des Sozialismus das leitende gesellschaftspolitische Ziel sah (vgl. ebd.: 294), „benötigte sie zwar die Mitarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte, aller Betriebe, Institutionen, Parteien, aller Bürger. Die Steuerung und Kontrolle des gemeinschaftlichen Aufbauwerkes hatte sie allerdings sich selbst vorbehalten. Das aber bedeutete, daß alle gesellschaftlichen Teilsysteme der Herrschaft des politischen unterstellt und dadurch in ihrer Autonomie und in der freien Verwirklichung ihrer systemspezifischen Prinzipien eingeschränkt waren“ (Pollack 1990a: 294). Damit wurde letztlich die ganze Gesellschaft von der SED als ihre Organisation eingerichtet (vgl. ebd.: 294). Genau dies meint also der Begriff der Organisationsgesellschaft: Die gesamte (National-)Gesellschaft wird vom politischen System so beobachtet und gesteuert, als sei sie ein Organisationssystem – mit allem, was klassischerweise dazugehört: Mit Mitgliedern, Programmen, Hierarchie und formalisierter Entscheidungskommunikation. Im Unterschied zum Konzept der Kriegsgesellschaft sehen wir an dieser Stelle allerdings, dass die politisch forcierte Entdifferenzierung über die ideologischen Prämissen der SED erklärt wird, nicht über einen militärisch-faktischen oder auch nur einen „politisch-mentalen“ Kriegszustand.

In dieser organisationssystemisch üblichen Weise ging also auch die SED-Führung mit der DDR-Gesellschaft um: Sie behandelte „die gesellschaftlichen Teilbereiche als Subsysteme, die Bürger als Mitglieder und deren Handlungen als Entscheidungen“ (ebd.: 294). Dies alles erfolgte wohlgemerkt unter der alleinigen Maßgabe einer politischen Leitunterscheidung: „Alle Ereignisse, alle Handlungen, auch die unverdächtigsten und harmlosesten, wurden daraufhin überprüft, ob sich in ihnen Zustimmung oder Ablehnung zum Programm des Sozialismus, zur sozialistischen Gesellschaftsstruktur und zu den führenden Vertretern des Systems ausdrückt“ (ebd.: 294). Anders gesagt: Vorherrschend war eine zwar (im Gegensatz zum Nationalsozialismus) nicht biologistisch-rassistisch, aber politisch-ideologisch definierte Freund-Feind-Unterscheidung im Sinne Carl Schmitts (2015), die alle anderen Funktionscodes verdrängte, jedenfalls dann, wenn eben jene, oben beschriebene politische Überprüfung stattfand.

Diese Leitdifferenz determinierte auch die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion in der DDR-Gesellschaft (vgl. Pollack 1990a: 294). Im Gegensatz zu den im vorigen Unterabschnitten skizzierten Ansätzen zur Kriegsgesellschaft verfolgt Pollack eine Stoßrichtung, die letztlich auf modernisierungstheoretischen Prämissen beruht. So macht er nicht nur eine Gegenläufigkeit der Prozesse von Differenzierung und Entdifferenzierung aus, sondern bewertet diese beiden Formen von Wandlungsprozessen und die aus ihnen resultierenden Strukturen auch ganz klar mit Blick auf ihre Effizienz für die moderne Gesellschaft und formuliert dabei eine klare Präferenz für die funktionale Differenzierung, welche sich aus seinem empirischen Beobachtungsobjekt DDR herleitet, dessen Untergang sich zum Zeitpunkt von Pollacks Veröffentlichung (1990) gerade vollzog (weswegen seine Einschätzung hierzu nicht allzu verwunderlich ist). Nach Pollack kollidierten hier Effizienzgesichtspunkte (Differenzierung) mit politisch-ideologischen Faktoren (Entdifferenzierung) – die Abschottung der DDR und deren Grenzschließung wird hieraus abgeleitet: Da man funktionale Differenzierung aus machtpolitischen Erwägungen heraus nicht zulassen konnte, mussten die „Mitglieder“ am Austritt aus der bürokratischen Organisationsgesellschaft gehindert werden (vgl. ebd.: 295).

Die Entdifferenzierung durch gesellschaftsweit versuchte Politisierung hatte laut Pollack zugleich drastische Folgen für die Beobachtungskapazitäten des politischen Systems, weil die Parteispitze „ihre Umwelt nicht wahrzunehmen [brauchte], da es keine Instanz gab, die sie dazu zwingen konnte (…). Mit Hilfe der sozialistischen Ideologie wurde die gesamte Wirklichkeit über den dualen Code sozialistisch/antisozialistisch interpretiert und damit ein der Geschlossenheit des gesellschaftlichen Systems genau entsprechendes geschlossenes Weltbild geschaffen, das die Vielfalt der Wirklichkeit auf die codierte Alternativität reduzierte und alles, was nicht sozialistisch war, als antisozialistisch entwertete“ (ebd.: 296). Dies führte zwar zunächst zur Systemstabilisierung, indem es Widerspruch und Opposition erschwerte bis unmöglich machte, führte aber langfristig über die unvermeidliche Komplexitätsreduktion, die Reduzierung der sozialen Umwelt auf eine einzige, politisch-ideologische Leitunterscheidung, zur inneren Aushöhlung und dadurch Destabilisierung (vgl. ebd.: 296, Fn. 9). Zwar ist es auch für Funktionssysteme in funktional differenzierten Gesellschaften normal, dass diese ihre Umwelt einzig aus der Maßgabe der ihnen eigenen Leitdifferenz heraus beobachten, allerdings kann in diesen infolge der differenzierten Systemverhältnisse und daraus generierten strukturellen Kopplungen beständige Irritation des politischen Systems entstehen, welche in der politisch-ideologisierten DDR-Organisationsgesellschaft so nicht möglich war. Die Folge war, dass auf Veränderungen von außen kaum reagiert werden konnte und dass im Innern versucht wurde, die bestehenden Verhältnisse gewissermaßen dauerhaft einzufrieren (vgl. ebd.: 296).

Pollack sieht aber eben auch differenzierte Systemverhältnisse in der DDR-Gesellschaft vorliegen, wenn auch entgegen dem Willen der SED-Führung. Die verschiedenen Initiativen aus der demokratischen Opposition bzw. der sogenannten Zivilgesellschaft jener Zeit werden dort verortet, und da diese durchaus bestand und nicht gänzlich kriminalisiert werden konnte (u. a. behütet durch die Kirchen), blieben deren Aktivität nicht ohne Auswirkungen für die Gesellschaftsstruktur – und am Ende brachten sie die DDR gar zu Fall. Daraus zieht Pollack die Schlussfolgerung, dass sich eine moderne Gesellschaft gar nicht hierarchisch organisieren lässt, sondern grundsätzlich auf funktionale Spezialisierung angewiesen sei (vgl. ebd.: 296f.). Pollack macht bei der DDR-Gesellschaft eine „Hemmung der gesellschaftlichen Evolution“ (ebd.: 297) aus und attestiert dabei ausdrücklich, dass die organisationsgesellschaftliche Struktur nicht nur eine weltferne politische Vorstellung bzw. Programm, sondern auch sozialstrukturelle Realität war (vgl. ebd.: 297, Fn. 12). Gleichwohl war das administrative System auf eine funktionale Differenzierung ein Stück weit angewiesen und war gezwungen, zu seinem eigenen Überleben auf dieses zurückzugreifen – eben jenes beständige Spannungsverhältnis, jene inneren Widersprüche waren es, die die DDR aus Pollacks Sicht langfristig scheitern lassen mussten (vgl. ebd.: 297).

Die oben genannte, sich in modernisierungstheoretisches Denken relativ nahtlos einfügende These, dass sich moderne Gesellschaften nicht hierarchisch organisieren lassen, muss derweil – insbesondere auch aus der kriegsgesellschaftlichen Perspektive heraus – mit Vorsicht genossen werden. So mag es, gerade unter kriegsgesellschaftlichen Bedingungen durchaus Dynamiken geben, im Zuge derer auch eine moderne Gesellschaft hierarchisch geführt werden kann und diese Konstellation im Rahmen der Umstände durchaus effektiv ist. Der modernisierungstheoretische Einschlag, der bei Pollacks ansonsten treffenden Analysen offenkundig wird, muss jedoch in gewisser Weise auch als Phänomen des damaligen politischen und auch sozialwissenschaftlichen Zeitgeists gewertet werden, der sich aus dem damals alles dominierenden Ende des Kalten Krieges und dem globalen Sieg des Kapitalismus zu jener Zeit speiste. Das wohl prominenteste Produkt jenes „Siegestaumels“ im Kontext der Geisteswissenschaften war das Werk „Das Ende der Geschichte“ des (damals) neokonservativen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama (1992), der darin eine Art liberale Utopie vertrat. Die heutigen weltpolitischen Verhältnisse lassen jedoch mindestens Zweifel an den darin dargelegten Diagnosen und Prognosen aufkommen.

Pollack sieht die Abschottung der DDR, die der Stabilisierung der politisierten Organisationsgesellschaft dienen sollte, gewissermaßen wieder aufgelöst durch die Rolle der westlichen Medien, die dazu führte, dass „das intern entworfene Bild der Innen/Außen-Differenz durch die extern konstituierte Innen/Außen-Differenz ständig in Frage gestellt wurde“ (Pollack 1990a: 297). Ein Übriges tat die von Pollack (1994) umfassend untersuchte Rolle der Kirche, die über die Möglichkeit eines „diskursiven Schutzraums“ für Oppositionelle zu einer Art Ersatzöffentlichkeit wurde (vgl. Pollack 1990a: 298), die als Forum für Regimekritik immer wichtiger und für die SED zunehmend gefährlicher wurde. Der Perestrojka-Gedanke schließlich brach das Eis des „real existierenden Sozialismus“, indem er die komplexitätsgeminderte DDR-Gesellschaft von außen – und vor allem: vom Osten her und dadurch umso erfolgreicher – mit gesteigerter Kontingenz versah, denn „es war der Raum des Vorstellbaren, des Denkbaren, des Möglichen, der sich immens erweitert hatte“ (ebd.: 299).

Hierbei handelt es sich jedoch um Phänomene, die zwar in der DDR bzw. zu ihrem Ende hin unzweifelhaft vorlagen, welche aber für das Dritte Reich so schwerlich festgestellt werden können. Im Nationalsozialismus waren die Massenmedien nach kurzer Zeit durch Goebbels‘ Reichspropagandaministerium gleichgeschaltet, und ausländische Medien aus West und Ost waren für diese schon allein aus sprachlichen Gründen, aber wohl auch einfach aufgrund des technischen Standards jener Zeit kaum eine Konkurrenz. Erst im Krieg wurde das Hören von „Feindsendern“ über Radios für die NS-Regierung zu einer Bedrohung, die 1939 mit der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“, welche eben derlei „Rundfunkverbrechen“ unter Strafe stellte, beantwortet wurde. Auch die Kirchen im Dritten Reich bildeten kaum „Ersatzöffentlichkeiten“ wie in der DDR: Zwar gab es in der Katholischen wie auch in der Evangelischen Kirche partielle Widerstände, aber im Großen und Ganzen war die erstere durch das sogenannte Reichskonkordat von 1933 „ruhiggestellt“, während in der letzteren schwere Auseinandersetzungen zwischen den nationalsozialistischen Deutschen Christen (DC) und deren innerkirchlichen Gegnern stattfanden und sie faktisch lähmten.

Der grundlegende Ansatz, Gesellschaften unter der Prägung totalitärer oder mindestens autoritärer Regimes in einem systemtheoretischen Sinne mit einer „organisationssoziologischen Brille“ zu betrachten, geht nicht allein von Pollack aus. In leichter terminologischer Abwandlung spricht etwa Nicolas Hayoz (2007) mit Blick auf die Staaten des realsozialistischen Ostblocks von „organisierten Gesellschaften“, da der Begriff der Organisationsgesellschaft auch schon dann verwendet wird, wenn, in einem sehr basalen Sinne, die gestiegene Bedeutung von Organisationssystemen – im Sinne einer „Gesellschaft von Organisationen“, welche selbige durchdringen und prägen – dargestellt werden soll (vgl. Hayoz 2007: 163f.; Kühl 2010: 3). Diese terminologische Modifikation erscheint sinnvoll, da auch andere, teils recht modische Begriffe von „Wissensgesellschaft“, „Mediengesellschaft“, „Risikogesellschaft“ etc. – von Stefan Kühl als „Ein-Wort-Gesellschaften“ (Kühl 2010: 9; Fn. 16) bezeichnet – nicht automatisch insinuieren, dass in diesen bereits ein absolutes Primat der Wissenschaft oder der Massenmedien bestünde.

Auch Hayoz spricht in diesem Zusammenhang von Entdifferenzierung, rechnet diesem Konzept aber innerhalb der systemtheoretischen Perspektive auf derlei – stets (welt-)regionale – Phänomene zwei verschiedene Bedeutungen zu. Zum einen finden wir auch bei seinem Verständnis des Begriffes jene Interpretation wieder, die auch wir in dieser Arbeit verwenden, nämlich gewissermaßen den „Umkehrschluss“ aus der Theorie der funktionalen Differenzierung, die funktionale Entdifferenzierung zwischen zwei oder mehr gesellschaftlichen Teilsystemen (vgl. Hayoz 2007: 164). Zum anderen, und dies ist in diesem Rahmen ein neuer Aspekt, begreift er das Organisieren der Gesellschaft als eine Entdifferenzierung zwischen Gesellschaft und Organisation, also zwischen zwei verschiedenen sozialen Systemebenen (vgl. ebd.: 164). Hayoz ist aus der hier dargelegten Sichtweise heraus hierbei zuzustimmen: In der Tat lässt sich auch im Falle des Dritten Reiches sagen, dass das politische Programm jener Zeit eine Organisierung der Gesellschaft vorsah – letztlich sogar in einem doppelten Sinne, nämlich einerseits in einem soziologischen (s. o.) und andererseits in einem biologistischen, der die nationalsozialistische Volksgemeinschaft eben tatsächlich als etwas Organisches bzw. eine Art kollektiven Organismus ansah. Allerdings kann diese These an dieser Stelle nur insoweit bestätigt werden, als dass ein entsprechender Versuch seitens des politischen Systems im Dritten Reich gewiss vorlag und nicht nur Teil von dessen Selbstdarstellung war (vgl. ebd.: 170). Der Frage nachzugehen, ob dieser Versuch einer wirklich umfassenden Organisierung der deutschen Gesellschaft jener Zeit auch gelungen bzw. ob eben eine Entdifferenzierung zwischen Gesellschaftssystem- und Organisationssystem-Ebene auch wirklich in umfassender Weise eingetreten ist, würde hier jedoch den Rahmen sprengen, da hierfür auch andere versuchte funktionale Entdifferenzierungen bzw. entsprechende Systempolitisierungsphänomene außerhalb von Politik und Recht ausführlich in den Blick genommen werden müssten. An dieser Stelle lässt sich lediglich empfehlen, dieser Frage in einem anderen Rahmen weiter nachzugehen (dies gilt umso mehr, weil im Zuge einer solch äußerst umfassenden Untersuchung dann auch geklärt werden müsste, wie denn eine solche „Systemebenen-Entdifferenzierung“ mit der dann unvermeidbaren Kollision von Funktionscodes – als maßgebliche Leitunterscheidungen zur Konstruktion systemischer „Realitäten“ – einerseits und konkreten Organisationszwecken andererseits umgeht).

Hayoz zeigt in diesem Zusammenhang auch auf, wie sich derlei Entdifferenzierungen auf die Frage von Inklusion und Exklusion auswirken, denn jeder „Versuch, Einheit zu schaffen, schafft neue Differenzen oder Dissens“ (Hayoz 2007: 165). Organisierte Gesellschaften werden vor diesem Hintergrund zu Gesellschaften, die aus Mitgliedern, nicht aber aus „Bürgern“ im klassischen Sinne bestehen (vgl. ebd.: 165). Es kann nicht jeder dazugehören, die Inklusion der einen leitet sich direkt aus dem Exklusionsgrund der anderen ab, wie die rassistisch definierte Volksgemeinschaft zeigt, und die Exklusion der einen bestärkt den Inklusionsgrad der anderen: Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird gestärkt durch die gemeinsame Abgrenzung – auch hier wieder im Sinne der Freund/Feind-Unterscheidung Carl Schmitts (2015).

Und noch ein anderes systemtheoretisches Modell findet bei Hayoz‘ Interpretation autokratischer Regimes Beachtung. So greift er das Konzept des Machtkreislaufs auf und nimmt an, dass in autoritären Regimes kein informeller Machtkreislauf mehr stattfindet, sondern höchstens noch ein formeller: Die Politik entscheidet, die Verwaltung setzt um und das Publikum ist lediglich Untertan, quasi reduziert auf die Rolle des passiv Hinnehmenden (vgl. Hayoz 2007: 167). Allerdings: Da in derlei Gesellschaften demokratische Wahlen auch nicht oder eben nur verfälscht stattfinden, ist selbst der formelle Machtkreislauf an der Schnittstelle zwischen Publikum und Politik faktisch unterbrochen und damit im Grunde nicht mehr vorhanden.

Wie auch schon Wiebke Loosen (2007: 69) macht Hayoz auch eine Entdifferenzierung auf der Ebene der Strukturen eines Funktionssystems aus, die im Zuge autokratischer politischer Herrschaft entsteht und sich vor allem auf organisationssystemischer Ebene niederschlägt: Hier tritt eine Form der Entdifferenzierung ein, „die das, was die Komplexität und die Variationsbreite, des politischen Systems ausmacht, nämlich den Pluralismus des politischen Systems auf bürokratische Weise eliminiert oder kanalisiert. Staatliche „Klone“ setzen sich an die Stelle derjenigen Organisationen, Bewegungen und Medien, die politische Veränderungen oder jedenfalls mehr demokratische Freiheiten einfordern“ (Hayoz 2007: 167). Eine ähnliche Entwicklung lässt sich im Falle des Dritten Reiches durchaus erkennen. So zeigt hier insbesondere Ernst Fraenkels fast legendär gewordenes Werk „Der Doppelstaat“ plastisch auf, wie sehr im Nationalsozialismus exekutive Doppelstrukturen bestanden, die nicht selten miteinander scharf konkurrierten und sich aus klassischer Ministerialbürokratie einerseits und neuen NSDAP-Konkurrenzstrukturen andererseits zu teilweise den gleichen Politikfeldern zusammensetzten (vgl. Fraenkel 1984). So gesehen mündete jene oben beschriebene systemstrukturelle Entdifferenzierung letztlich aber immer auch in neuer systemstruktureller Differenzierung (vgl. Hayoz 2007: 167), was die Ambivalenz der betreffenden Entwicklung zumindest auf der soziologischen Meso-Ebene aufzeigt.

Hayoz fügt dem Spektrum an möglichen Entdifferenzierungen jedoch noch eine weitere Dimension hinzu, da er – aus unserer Sicht zu Recht – davon ausgeht, dass auch innerhalb von Organisationen, also bis hinunter zur Mikro-Ebene, in derlei Fällen Entdifferenzierung auftritt, wenn etwa „Personalisierung, Netzwerke mit der entsprechenden Korruption den Leistungsbereich von Organisationen unterwandern“ (ebd.: 171). Zwar kann über Korruptionsfälle im NS-Regime an dieser Stelle keine Aussage getroffen werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass der NS-Führerstaat, der ja buchstäblich auf dem Prinzip politischer Personalisierung basierte, auch von eben jenem Phänomen der „Mikro-Entdifferenzierung“ durch Personalisierung und Netzwerkbildung stark geprägt war. Beides sind zwar auch Phänomene, die ebenso in liberalen Demokratien zu beobachten sind, jedoch ist hier ihr – eben nicht so selbstverständliches – Potenzial, formalisierte Organisationsstrukturen gegebenenfalls auszuhebeln, entscheidend. Hier ließe sich etwa vermuten, dass insbesondere die Netzwerkbildung über die NSDAP und ihre zahlreichen Unterorganisationen maßgeblich zu einer informellen Macht beitrug, die die formalen organisationalen Strukturen „sabotieren“ konnte, welche durch das Führerprinzip mitunter ohnehin schon faktisch übergangen werden konnten, wenn die jeweilige Organisationsspitze dies für nötig hielt.

Die teils funktional entdifferenzierte „organisierte Gesellschaft“ funktioniert nicht nur als Organisation, sondern vor allem auch über Organisationen, die als Kontrollinstrumente dienen, wie Hayoz in seinem Beitrag nochmal abschließend verdeutlicht: „Das läuft vor allem von Organisation zu Organisation: also staatliche Organisationen, die Organisationen innerhalb oder außerhalb der Politik kontrollieren. Eine Rehierarchisierung der Politik (…) benötigt an der Spitze parallele Strukturen, also die genannten Netzwerk mit eigenen Organisationsstrukturen, die teilweise über die Staatsverwaltung gestellt sind, teilweise mit dieser in einem „symbiotischen“ Verhältnis leben“ (ebd.: 170f.). Hier zeigt sich wieder der Fraenkelsche Doppelstaat (s. o.), der im Nationalsozialismus – über das dortige Einparteiensystem und dessen (sub-)organisationaler Ausgestaltung – genau dieses gewährleistet hat. Organisationen, die in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft als Instanzen struktureller Kopplung zwischen Funktionssystemen dienen können, können hierfür gewissermaßen zu nicht nur strukturellen, sondern operativen Kopplungen mutieren, welche eine operative Steuerung über die eigentliche Funktionssystemgrenze hinaus, hineinintervenierend in ein anderes gesellschaftliches Teilsystem, bewirken können. Organisationssysteme sind insofern nicht nur beim Blick auf systemstrukturelle Entdifferenzierung auf Mikro- und Meso-Ebene interessant, sondern auch hinsichtlich der für diese Arbeit zentralen funktionalen Entdifferenzierung zwischen gesellschaftlichen Subsystemen. Sie spielen in all diesen Formen der Entdifferenzierung eine Schlüsselrolle.

Stefan Kühl schließlich verbindet in einigen Anmerkungen das organisationsgesellschaftliche Konzept mit dem kriegsgesellschaftlichen Ansatz, wenn er feststellt, „dass im Krieg auch marktwirtschaftlich ausgerichtete, parlamentarisch-demokratische Staaten dazu tendieren, zu „Organisationsgesellschaften“ zu werden, weil sie im Verlaufe eines Krieges versuchen, fast alle Prozesse über eine zentrale staatliche Organisation zu steuern“ (Kühl 2010: 7; Fn. 11). Aus seiner Sicht hat es „Versuche der ‚Organisierung des nicht Organisierten‘“ (ebd.: 7) nicht nur im „real existierenden Sozialismus“ des Ostblocks gegeben, sondern auch im italienischen Faschismus Mussolinis sowie im deutschen Nationalsozialismus, wobei das dafür verwendete Instrument des letzteren der Führerstaat gewesen sei (vgl. Kühl 2010: 7f.). Die Gesellschaft sollte in eine „Mega-Meta-Organisation“ (ebd.: 8) – passend dazu: Luhmanns Begriff des Metacodes – transformiert werden, wobei Kühl jedoch deutlich davon ausgeht, dass derlei Versuche niemals in Gänze realisiert werden können, wie auch die genannten historischen Beispiele zeigten, in deren Gesellschaften sich Teilbereiche dem Organisierungsversuch entzogen haben, wie etwa – sowohl im Realsozialismus der DDR (vgl. Pollack 1994) als auch im Nationalsozialismus (s. o.) – das Religionssystem oder sogar Teile des Wirtschaftssystems in sozialistischen Staaten (vgl. Kühl 2010: 8). Kühl führen diese Beispiele zu dem Fazit, dass „Gesellschaften (…) nicht organisierbar [sind]“ (Kühl 2010: 8). An diesem Punkt müsste man möglicherweise widersprechen bzw. präzisieren, dass sie womöglich niemals in Gänze organisierbar sind, wie dies soziologische Begriffe wie „Organisationsgesellschaft“ oder „organisierte Gesellschaft“, aber etwa auch politikwissenschaftliche Konzepte wie das des „Totalitarismus“ terminologisch nahelegen. Die im letzten Teil dieser Reihe dargelegten Ansätze zur Kriegsgesellschaft zeigen durchaus empirisch fundiert, dass entsprechende Transformationsprozesse eben auch in vielen Fällen zu weiten Teilen umgesetzt worden sind, wenn die äußeren Rahmenbedingungen dies begünstigten, etwa durch einen Krieg oder die umfassende gesellschaftliche Mobilisierung zu einem solchen. Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist zweifellos komplexitätsgesteigert und schwer politisch steuerbar, jedoch wirken Krieg und Kriegsmobilisierung unweigerlich komplexitätsreduzierend, hin zur gesellschaftsweiten Dominanz einer einzigen – politischen – Leitunterscheidung.


Literatur

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.

Fukuyama, Francis (1992). Das Ende der Geschichte. München: Kindler.

Hayoz, Nicolas (2007). Regionale „organisierte Gesellschaften“ und ihre Schwierigkeiten mit der Realität der funktionalen Differenzierung. In: Soziale Systeme 13, S. 160-172.

Kühl, Stefan (2010). Gesellschaft der Organisation, organisierte Gesellschaft, Organisationsgesellschaft. Überlegungen zu einer an der Organisation ansetzenden Zeitdiagnose. Working Paper 10/2010.

Loosen, Wiebke (2007). Entgrenzung des Journalismus: empirische Evidenzen ohne theoretische Basis? In: Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Heft 1 / März 2007, 52. Jg., S. 63-79.

Pollack, Detlef (1990a). Das Ende der Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR. In: Zeitschrift für Soziologie, 19. Jg., Heft 4, S. 292-307.

Pollack, Detlef (1990b). Wer leitete die ‚Wende‘ ein? Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR aus systemtheoretischer Perspektive. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 13 / 1990, S. 167-177.

Pollack, Detlef (1991). Von der Organisationsgesellschaft zur Risikogesellschaft. Soziologische Überlegungen zu den gesellschaftlichen Transformationsprozessen in Ostdeutschland. In: Berliner Journal für Soziologie 1 / 1991, S. 451-455.

Pollack, Detlef (1994). Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR. Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer.

Schmitt, Carl (2015). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 (9., korrigierte Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

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