Mitleid mit Haltbarkeitsdatum

Darf man sich an Krieg gewöhnen?

Mitte Mai 2022. Ich hatte es mir seit Kriegsbeginn seit fast drei Monaten zur spätabendlichen Tradition gemacht, den Liveticker der Tagesschau zum Ukraine-Krieg durchzulesen. Zum letzten Mal gehörte ich im Frühjahr 2020 zu den Liveticker-Lesern: Zu jener ungewissen Zeit, als Corona noch etwas Neues, etwas Beunruhigendes war, zu dem ich – sowohl als politischer als auch als Privatmensch – so viele Informationen wie möglich gewinnen wollte. Zwar verzichte ich seit Jahren aus psychohygienischen Gründen darauf, Krankheiten zu googeln (zu schnell erklärt Dr. Google einen einfachen Schnupfen zum Nasentumor – das Ding begünstigt Hypochondrie! Ohne mich.). Aber mit Beginn der Corona-Ausbreitung war es dann doch mal nötig. Warum?

Die Liveticker-Phase

Sicherlich auch, weil der Mensch mit Gewissheiten, also Informationszugewinn besser leben kann als mit dem großen Unbekannten. Hinzu kam natürlich noch das Interesse des Soziologen und des Politikers. Aber – so ehrlich muß man sein, und dies betrifft sicherlich nicht nur mich – irgendwo, tief drin, war da auch so ein Gefühl wie beim Anschauen eines Gruselfilms, Krimis oder Thrillers: Man sah eine globale Krise anrollen, wie man sie – scheinbar – sonst nur aus Filmen kannte. Das war politisch herausfordernd und soziologisch interessant, aber es war irgendwie auch so eine Art Seuchenthriller in Echtzeit, ein mehrmonatiger Real-Blockbuster. Irgendwann stoppte ich dann die Liveticker-Lektüre, erneut aus psychohygienischen Gründen, nachdem ich merkte, daß es mir nicht guttut, tagtäglich so viel echte oder – vor allem – vermeintliche Horrormeldungen zu lesen, die zumeist auf medialer und politischer Panikmache basierten, die ihre ganz eigenen Zwecke verfolgte. Übrigens eine Form der Psychohygiene, die sich zu viele Leute nicht gegönnt haben, was diese dann in eine ausgesprochene kollektive Hypochondrie trieb. Unter anderem darin mündend, daß man Männer und Frauen im jüngeren Alter allein an frischer Luft mit FFP2-Maske umherspazieren sieht. Wohl zu viel Liveticker-Genuß. Naja.

Jedenfalls: Ab dem 24. Februar dieses Jahres war es dann bei mir wieder so weit, diesmal wegen einer Krise, die ihren Namen auch verdient. Beunruhigt, gespannt, interessiert und fasziniert verfolgte der Privatmensch, der Politiker und der Soziologe in mir die Eskalation, die bis heute anhält und weitergeht. Man las die Atomwaffendrohungen, die russische Alarmbereitschaft, die Raketentests, die Drohungen, die Warnungen, die ernsthaften Befürchtungen eines Atomkriegs durch niemand Geringeren als den deutschen Bundeskanzler. Kein apokalyptisches Verschwörungsszenario diesmal, sondern blutiger Ernst. Ein blutiger Ernst, der Millionen Menschen plötzlich ermöglichte, schlagartig zu wissen, wie das Gefühl im Herbst 1962 gewesen sein muß, während der Kuba-Krise, als Menschen vor nicht weniger Angst hatten als der Zerstörung von… allem. Dem Ende. Explosion, Zerstörung, Fallout, Strahlung, Krankheit, Tod. Was man vorher nur aus schaurig-guten Filmen wie „The Day After – Der Tag danach“ kannte, wurde plötzlich wieder reelle Gefahr, ist es bis heute und wird es wohl auch erst einmal bleiben.

Grund genug für mich zu versuchen, jeden Tag auf dem Laufenden zu bleiben, über den normalen Nachrichtenkonsum hinaus. Nicht direkt „live“ verfolgend – so viel Zeit hat man dann doch nicht – aber wenigstens abends, als Rückblick auf das Tag Geschehene. Seit dem 24. Februar, täglich, bis Mitte Mai: Liveticker. Und dann – wurde etwas anders.

Spürbare Redundanz

Ich bemerkte Redundanz. Nachrichten wiederholten sich. Schlimme Nachrichten, ja, aber im Kern die gleichen: Rußland vermeldet Zerstörung eines Munitions- oder Treibstoffdepots. So und so viele hunderttausend Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Rettungskorridor mal wieder gescheitert. Schröder immer mehr isoliert. Der „Apokalyptische Hofreiter“ und die Möchtegern-Hamm-Brücher aus der FDP wollen noch mehr Waffen liefern, Melnyk beschimpft wieder irgendwen, Scholz wägt ab. Medwedjew droht, Lawrow beruhigt; Peitsche und Zuckerbrot. Putin befiehlt und ordnet an. Selenskyj im militärgrünen T-Shirt. Man wußte irgendwann, was man lesen wird. Wenn sich was Neues ergab, las man es sowieso an anderer Stelle. Der Liveticker war unnötig geworden.

So weit, so gut. Das allein kennzeichnet nur einen Vorgang dazugewonnen politischen Wissens, der bestimmte Informationsquellen weniger nötig macht. Doch es ist eben nicht nur das. Es ist noch mehr. Ich habe mich, wir haben uns an die Nachrichten gewöhnt.

Der Anfangsschock ist vorüber. Der Einschnitt, die Zäsur, der Thrill – er ist durch. Das Sterben in der Ukraine ist zu etwas Normalerem geworden; etwas, das sich vollzieht, an das wir aber nicht mehr pausenlos denken. Immerhin haben „wir“ ja auch unserem Gewissen vermeintlich Genüge getan, nicht wahr? Wir liefern nun Waffen, schwere Waffen. Solidarität und so, westliche Werte, Freiheit, Demokratie; man kennt die ganze Lyrik.

Nur noch Statistiken?

Und doch leiden Menschen dort jetzt nicht weniger, während wir uns daran gewöhnt haben. Das Verletzt-Werden, das Sterben geht weiter. Ist es nicht kalt, rücksichtslos, ja vielleicht typisch für das dekadente Wohlstandsdeutschland dieser Tage, angesichts dessen selbst wieder mehr zur Routine überzugehen? Sich nicht mehr damit zu befassen, weil einem die Nachrichten über das Leid jetzt nur noch bekannt vorkommen, weil jetzt wirklich, frei nach einem berühmten Stalin-Zitat, keine Tragödien mehr stattfinden, sondern nur noch Statistiken?

Nun, seien wir vorsichtig damit, vorschnell den Stab über uns selbst zu brechen. Man kann immer wieder erstaunt sein, an was sich Menschen tatsächlich alles gewöhnen können – Menschen, die anpassungsfähigste und dadurch „fitteste“ Spezies dieses Planeten, jedenfalls bis dato. Seien es körperliche Gebrechen, Verluste geliebter Angehöriger, harte körperliche oder geistige Arbeit, exotische Tiere in der Wohnung – Gewöhnung kennt nur wenige Grenzen, selbst wenn es Herausforderungen betrifft, denen wir uns selbst stellen müssen. Entsteht daraus nicht irgendwo auch das Recht, auf die Herausforderungen, Probleme und Tragödien anderer mit Gewöhnung zu reagieren?

Es ist, so viel steht fest, eine hochgradig abstrakt-moralische Diskussion. Pragmatiker würden ohnehin erwidern, daß es für den einzelnen Ukrainer wenig Unterschied macht, ob da irgendein verkopfter Deutscher viele, viele Kilometer entfernt gedanklich mitleidet oder nicht. Doch für einen selbst ist sie eben durchaus bedeutsam: Scheint sie doch irgendwo auch zu implizieren, daß Mitleid ein Haltbarkeitsdatum hat, daß ab dem Zeitpunkt der Gewöhnung ein Schulterzucken einsetzt, das den Prolog bilden könnte zu einer Abwendung und am Ende völliger Ignoranz.

Ratio statt Affekt

Doch genau dieser Punkt lehrt uns eben wohl auch etwas anderes: Es ist gut, daß wir Menschen nicht nur aus Affekten bestehen, aus kurzfristigen Emotionen und Impulsen, sondern auch aus Ratio, Verstand und Gedächtnis – aus der Befähigung, uns im Augenblick des Verblassens eines Affektes darauf aufmerksam zu machen, daß nicht jener affektive Impuls entscheiden sollte, wem wir welche Haltung auf welche Weise entgegenbringen, sondern die kühle Ratio, der Sachverstand und das ganzheitliche Abwägen vor dem Hintergrund perspektivischer Entwicklungen. Mit anderen Worten: Genau das, was so viele an der derzeitigen Ukrainepolitik des Westens vermissen. Ich verzeihe mir meine, ich verzeihe uns unsere Gewöhnung an die Nachrichten. Weil ich weiß: Die Gewöhnung erst schafft die Fähigkeit zum analytischen Blick, zur Emanzipation vom aktionistischen Bauchgefühl, zum langfristig-strategischen Denken, das auf konkrete Ergebnisse ausgerichtet ist anstatt auf Befriedigung kurzfristiger Impulse. Messen wir uns doch lieber am Ergebnis danach – nicht am psychischen Zustand währenddessen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

„Christliches“ Abendland?

Die plötzlich Verhärmte

Zwischen Distanzeritis und Dämonisierung