Systemtheorie X: Entdifferenzierung

Einen ausgearbeiteten, für die Systemtheorie gar verbindlichen Entdifferenzierungsbegriff gibt es bei Luhmann nicht; stattdessen setze Entdifferenzierung aus seiner Sicht begrifflich das voraus, was er (angeblich) eliminiere (vgl. Loosen 2007: 72): „Insgesamt lesen sich Luhmanns Äußerungen zu Entdifferenzierung fast immer auch als Schelte seiner Kritiker, welche die Möglichkeiten der Systemtheorie seiner Ansicht nach nicht voll zur Kenntnis nehmen“ (Loosen 2007: 72). Dies mag aus unserer Sicht zwar auf einzelne Stellungnahmen Luhmanns zutreffen (vgl. Luhmann 1993: 143), allerdings lässt sich bei genauerer Recherche ein durchaus vielschichtiges Bild dazu ermitteln. Gleichwohl: Im Zentrum des Interesses stand das Phänomen der Entdifferenzierung bei Luhmann in der Tat nie. Dies dürfte weniger durch fehlendes Interesse seinerseits begründet sein als vielmehr mit seiner Herleitung des Differenzierungsbegriffes, welche jedenfalls in seinem Spätwerk in gewisser Weise kompromisslos, weil – durch ihre Bezugnahme auf die System-Umwelt-Differenz als systemkonstitutives Element – strikt dichotomisch ist: „Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. (…) In diesem Sinne ist Grenzerhaltung (…) Systemerhaltung“ (Luhmann 2018b: 35).

Begreift man Differenzierung auf diese Weise, erklärt man die klare Grenzziehung für systemkonstitutiv, läuft dies hinsichtlich der Frage nach Differenzierung versus Entdifferenzierung auf ein „Entweder-oder“ hinaus (vgl. Luhmann 2018a: 757): „Ein System ist entweder autopoietisch oder nichtautopoietisch. Es kann nicht ein bisschen autopoietisch sein. (…) Hier gilt ein Entweder-oder. (…) Das bedeutet, dass das Autopoiesiskonzept kein gradualisierbares Konzept ist“ (Luhmann 2004: 116). Entdifferenzierung ist demnach, im Rückschluss, nur als völlige Grenzenlosigkeit denkbar, als Nicht-Differenz, als komplett fehlende System-Umwelt-Differenz, was im Zuge der oben beschriebenen Herleitung dann logischerweise auch die klare Nicht-Existenz eines Systems bedeutet. Dort, wo Entdifferenzierung vorherrscht, gibt es aus dieser Sichtweise heraus auch keine Systeme. Diese Folge tritt demnach, gemäß dieser Herleitung, auch dann zu Tage, wenn eine Hierarchisierung von Funktionssystemen einsetzt, es also (wieder) ein Primat des politischen Systems gäbe, eine herausgehobene Stellung gegenüber anderen Subsystemen der Gesellschaft, da dies eine Intervention seitens der Politik in diese und damit fehlende operative Geschlossenheit letzterer bedeuten würde: „Man kann eine funktional differenzierte Gesellschaft nicht auf Politik zentrieren, ohne sie zu zerstören“ (Luhmann 2011: 20f.).

Es liegt in gewisser Weise auf der Hand, dass sich unser Ansatz von dieser Sichtweise absetzen und emanzipieren muss, um den Begriff der Entdifferenzierung für eine Theorie fruchtbar zu machen, die das Postulat von sozialen Systemen zum Hauptinhalt hat. Der derart strikten Dichotomie eines „Entweder-oder“ hinsichtlich der System-Umwelt-Grenze folgen wir an dieser Stelle also bewusst nicht. Stattdessen gehen wir forschungspragmatisch von einem gradualisierbaren und damit evolutionäre und prozessuale Entwicklungen sichtbar machenden Verhältnis von Differenzierung und Entdifferenzierung aus, von einer Skala, an deren Enden sich die beiden Pole befinden, zwischen denen sich aber sehr vieles abspielen kann – jeweils in verschiedenen Zeiträumen, zwischen verschiedenen sozialen Systemen, mit verschiedenen Tendenzen mal in die eine, mal in die andere Richtung.

Damit folgen wir der Auffassung Gunther Teubners (1989), der sich von der Auffassung Luhmanns lösen will, dass Autopoiese eine „unbiegsame Härte“ (Luhmann 1985b: 2; zitiert nach Teubner 1989: 43) habe bzw. dass es „keine halb autopoietischen, halb allopoietischen Systeme“ (Luhmann 1987a: 318; zitiert nach Teubner 1989: 43) gebe, und stattdessen postuliert, dass Autonomie als gradualisiertes Konzept vorstellbar und es analytisch nützlich ist, sie als kumulatives Auftauchen von selbstreferenziellen Verhältnissen zu verstehen (vgl. Teubner 1989: 43). Diese Position teilt er mit Gerhard Roth: „Selbstreferentialität und Autonomie sind nicht notwendig Alles-oder-Nichts-Zustände, d. h. sie können abgestuft vorhanden sein und während der Entwicklung des Systems zu- und abnehmen“ (Roth 1987: 400; zitiert nach Teubner 1989: 43). Dieser Einschätzung der Gradualisierbarkeit von Systemautonomie, welche auch schon an anderer Stelle Debatten ausgelöst hat (vgl. u. a. Loosen 2007: 66) und die auch von Rudolf Stichweh und Renate Mayntz (vgl. ebd.: 43) sowie von Uwe Schimank (2006: 76f.; 2007: 152, Fn. 23) vertreten wird, schließen wir uns an.

Erst auf diese Weise werden mitunter zentrale gesellschaftlich-strukturelle Wandlungsprozesse sichtbar, und erst eine solche Herangehensweise bietet eine ausreichende theoretische Grundlage für die Analyse eben solcher, auch wenn dies sicherlich nicht ohne Folgen bleibt für die – im positiven Sinne – radikal konsistente Theoriearchitektur, die Luhmann postuliert hat. In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass soziale Systeme – hier im Besonderen gesellschaftliche Funktionssysteme – ein höheres oder ein stärkeres Maß an operativer Geschlossenheit bzw. Offenheit zeigen können, determiniert durch – beispielsweise politisch bedingte – Überlagerungen von externen Leitdifferenzen, die womöglich auch nur zeitlich begrenzter Natur (Ausnahmezustand) oder als ständige, nur zeitweise genutzte Möglichkeit eines operativen „Durchgriffs“ auf das betreffende gesellschaftliche Subsystem angelegt sind.

Luhmann kann aufgrund seiner „starren“ Sicht auf Systemautonomie „Phänomene unterschiedlich starker Ausdifferenzierung des Rechtssystems nicht mehr im Autonomiebegriff unterbringen“ (Teubner 1989: 46). Gleichwohl: Trotz dieser von Luhmann mindestens implizit postulierten Unmöglichkeit von „Grautönen“ zwischen beiden Polen Differenzierung und Entdifferenzierung äußert er sich an anderer Stelle vorsichtiger, was etwa Regierungssysteme angeht, denen man in ähnlicher Weise Erscheinungen von funktionaler Entdifferenzierung unterstellen könnte wie dem nationalsozialistischen. So begreift er etwa das im „realsozialistischen“ Ostblock dominant gewesene Gesellschaftssystem als eine Art versuchte Fusion zweier sozialer System-Typen: „In der Kongruentsetzung von Gesellschaft und Organisation – und nicht im schlechterdings unerläßlichen Vorgang sozialer und ökonomischer Planung – liegt denn auch der Differenzpunkt östlicher und westlicher Gesellschaftspolitik. (…) Entscheidend ist, daß weder die Möglichkeiten der Entwicklung des Gesellschaftssystems und seiner funktionalen Differenzierung noch die Möglichkeiten der organisationstechnischen Rationalisierung voll ausgeschöpft werden können, wenn beide Systemtypen zu einem verschmolzen werden sollen“ (Luhmann 2011: 95f.).

Dass Luhmann damit die Gesellschaftsform des sogenannten real existierenden Sozialismus als funktional differenziert bezeichnet und jene Gesellschaftsstruktur bzw. deren Entwicklungspotenzial dadurch lediglich nicht voll ausgeschöpft werden kann, wirft Fragen auf, ebenso wie auch die Tatsache, dass er in der Dichotomie von Marktwirtschaft und Planwirtschaft keinen gesellschaftsstrukturellen Unterschied auszumachen scheint. Immerhin bedeutet letztere eben nicht lediglich „Planung“ – die man zweifellos auch innerhalb marktwirtschaftlicher Strukturen wiederfindet –, sondern eine Unterordnung ökonomischer Abläufe unter politisch determinierte Bedarfe, was den Schluss einer Überlagerung wirtschaftlicher Unterscheidungen durch politische Leitdifferenzen nahelegt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des politischen und eben vor allem auch ökonomischen Zusammenbruches des Ostblocks ist von einer Gesellschaftstheorie mit universellem Erklärungsanspruch zu erwarten, dass sie derlei tiefgreifende strukturelle Unterschiede analytisch erfassen kann. Dies gilt umso mehr, da die politisch versuchte Gleichsetzung von Gesellschaft und Organisation, wie sie im Ostblock wie auch im Dritten Reich angestrengt wurde, nahelegt, dass funktionale Differenzierung über gesellschaftliche Hierarchisierung mindestens eingeschränkt werden soll. Das politische System entspricht aus dieser Sichtweise eine Art gesellschaftlich-organisationalen Leitungsinstanz, was im Ergebnis ein Primat des Politischen bedeutet. Hier tritt demnach das ein, was Luhmann zufolge eigentlich zur Zerstörung der funktional differenzierten Gesellschaft führen müsste (s. o.), welche er aber dennoch für den Ostblock nicht postuliert hat. Hier zeigt sich ein inhärenter Widerspruch.

Auch dies zeigt, wie viel weiter man in analytischer Hinsicht kommt, wenn man Differenzierung und Entdifferenzierung als zwei Pole einer Skala begreift: In diesem Fall müssten – diese Hypothese ließe sich historisch begründet formulieren – für die Sowjetunion wohl jeweils verschiedene Phasen funktionaler (Ent-)Differenzierung attestiert werden: Ein hohes Maß an Entdifferenzierung zur Zeit des „Kriegskommunismus“ bis 1921 und während der Ära des totalitären Stalinismus, ein geringeres Maß zur Zeit der liberaleren Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) während der 20er Jahre (vgl. Kruse 2015: 182f.) und vor allem in der Ära Gorbatschow in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Nun hat diese Arbeit nicht die gesellschaftsstrukturelle Entwicklung der UdSSR zum Thema, weswegen Erörterungen dazu sich auf kurze beispielhafte Thesen dieser Art beschränken und an dieser Stelle ihr Ende finden müssen. In jedem Fall aber dürfte das Beispiel deutlich machen, dass das analytische Potenzial der soziologischen Systemtheorie in vielerlei empirischen Feldern besser ausgeschöpft wird, wenn man von streng-orthodoxen Dichotomien, die aus der – prinzipiell richtigen und wichtigen – System-Umwelt-Unterscheidung heraus vorgenommen werden, Abstand nimmt.

An anderer Stelle von Luhmanns umfangreichem Werk scheint dieser, wenn auch nur thesenartig und in aller Kürze, eine Art Ersatzkonzept einzuwerfen, das jene Entwicklungen und Prozesse, die wir auch im Rahmen dieser Arbeit untersuchen wollen, mit dem Begriff der „Schrumpfung“ von Funktionssystemen zu fassen versucht, und hierfür beispielhaft Demonetarisierungen und Deregulationen nennt (vgl. Luhmann 2018a: 757). Man kann vermuten, dass hiermit eben jene Entwicklungen, die wir mit dem Begriff der Entdifferenzierung greifbar zu machen versuchen, gemeint sind, allerdings lässt Luhmann dieser Idee an der besagten Stelle keine weiteren Ausführungen folgen, was die Beantwortung der Frage, wie demnach eine „Schrumpfung“ von Funktionssystemen genau aussehen kann (und ob dies dann etwa auch bedeutet, dass die Umwelt wächst), stark erschwert. Daher werden wir dieser Idee im Folgenden nicht weiter nachgehen und es vermeiden, diese Begrifflichkeit im Zusammenhang mit der der funktionalen Entdifferenzierung zu verwenden.

Stärkere Beachtung (wenn allerdings auch keine grundlegende Ausarbeitung und Konzeptualisierung) erfährt der Begriff der Entdifferenzierung in Luhmanns ursprünglich bereits 1965 veröffentlichten Frühwerk „Grundrechte als Institution“ (2009), welches als frühe Perspektive auf die System-Grenzen von Politik und Recht und deren Verhältnis zueinander – unter besonderer Berücksichtigung dessen, was Luhmann in späteren Schriften als strukturelle Kopplung von beidem bezeichnet – für die hier vorgenommene Analyse zugleich auch ein Schlüsselwerk darstellt, welches viele jener Forschungsfragen aufgeworfen hat, derer wir uns an dieser Stelle annehmen wollen. Wir werden uns ihm daher im Folgenden nochmals in ausführlicherer Form zuwenden.

In dem Werk werden die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte ausdrücklich als Institution zur Verhinderung von Entdifferenzierung dargestellt, indem sie Expansionsbestrebungen des politischen Systems entgegenstehen und über die Gewähr von Freiheiten Kommunikationschancen generieren und schützen (vgl. Luhmann 2009: 23). Wie Luhmann in seiner bereits damals für interessante gesellschaftliche Paradoxien sensiblen Perspektive betont, ist dabei die „Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens, (…) in der gesellschaftlichen Emanzipation und Autonomsetzung des politischen Systems angelegt, ist mithin ein Merkmal des Differenzierungsprozesses selbst. Die ausdifferenzierte politische Ordnung weist Tendenzen zur Unstabilität auf“ (Luhmann 2009: 24). Die Ursachen dieser Tendenzen liegen Luhmann zufolge in der Autonomie des politischen Systems selbst und dem, was sie ausmacht, begründet, wozu er die Unbestimmtheit politischer Problematisierungen, die Zentralisierung und die Generalisierung politischer Macht, die politikeigene „Sprache“ und Rationalität (man könnte wohl, mit dem späten Luhmann gesprochen, auch sagen: Funktionslogik) sowie die Fluktuation (und damit wohl auch die Unberechenbarkeit) politischer Unterstützung im Zuge von sich veränderndem Wahlverhalten und damit zu erwartenden Machtwechseln zählt (vgl. ebd.: 24). Es lässt sich an diesem Punkt insofern das Zwischenfazit ziehen, dass Entdifferenzierung nicht denkbar ist ohne zuvor erfolgte Differenzierung – eine Feststellung, die zwar allein schon angesichts der sprachlichen Konnotation beider Begriffe zunächst trivial anmutet, die aber auch zeigt, dass funktionale Entdifferenzierung nicht als ein einfaches „Zurück zur Stratifizierung“ gedacht werden kann. 
 
Stattdessen stellt sie als gesellschaftlicher Prozess eine Art kollektive Abwehrreaktion gegen sozialstrukturelle Modernisierung dar, die ohne eben diese nicht gedacht werden kann. Konkreter auf den auch von Luhmann betrachteten Fall des politischen Systems bezogen: Wo politische Steuerung durch funktionale Differenzierung erschwert bzw. schlicht verhindert wird, weil etwa verschiedene funktionssystemische Rationalitäten (Codierungen) zu verschiedenen „Systemsprachen“ führen, die einen aufwändigen, ressourcen- und zeitintensiven „Übersetzungsvorgang“ erfordern, wo politische Unterstützung im Zuge der Unsicherheiten demokratischer Wahlen und Machtwechsel nicht immer dauerhaft gewährleistet ist, da steigt das Bedürfnis des politischen Systems, jene Ziele auf andere Weise (wieder) erreichbar(er) zu machen und zu versuchen, über die eigenen Systemgrenzen hinaus zu expandieren, also die gesellschaftliche Umwelt zu politisieren und funktional zu entdifferenzieren. Differenzierung begünstigt Entdifferenzierung. Diese Erkenntnis ist natürlich auch für den empirischen Fall des Dritten Reiches von großer Relevanz: Mit der funktionalen Ausdifferenzierung der deutschen Nationalgesellschaft, die mit dem Ende des Kaiserreiches und der Herausbildung der Weimarer Republik eintrat, wurden auch die anti-modernen Widerstände dagegen stärker, die auf eine „politisch herbeigeführte Kontingenz- und Komplexitätsreduktion“ hinarbeiteten und diesen angestrebten Zustand über die Errichtung einer Diktatur abzusichern versuchten.

Luhmann macht in der Gewaltenteilung, in der Trennung von Politik und Verwaltung und vor allem und primär in den Grundrechten jene gesellschaftlichen Institutionen aus, welche die Erhaltung der sozialen Differenzierung gewährleisten, Entdifferenzierung verhindern (vgl. ebd.: 24) und vor Politisierung schützen (vgl. ebd.: 188f.; 197; 200). Letztere garantieren demnach die funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur, indem sie die Autonomie der Funktionssysteme gegenüber dem politischen System schützen und politische Interventionsversuche in diese verhindern, beispielsweise in Form des Schutzes der Massenmedien über die Pressefreiheit, der Kunst über die Kunstfreiheit oder der Wissenschaft über die Freiheit von Forschung und Lehre. Zieht man nun den Umkehrschluss aus dieser für den Aufbau der soziologischen Systemtheorie zentralen These Luhmanns, die er auch in späteren rechtssoziologischen Publikationen noch so vertreten hat (vgl. Luhmann 1990: 193), so führt dies zu der Annahme, dass der Abbau eben jener Institutionen, wie er auch im Dritten Reich u. a. im Zuge von Ermächtigungsgesetz und Reichstagsbrandverordnung eingetreten ist, auch das Eintreten von funktionaler Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht mindestens stark begünstigt bzw. sehr wahrscheinlich macht. Allerdings: „Die Grundrechte erhalten nicht nur, wie wir bisher betont haben, die Trennung der Kommunikationssphären der Gesellschaft; sie werden auch durch diese Differenzierung selbst erhalten“ (Luhmann 2009: 184). Im systemtheoretischen Denken ist wenig Platz für einseitige Kausalitäten; stattdessen muss von einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis ausgegangen werden – auch in diesem Fall. Im Zuge systemtheoretischer Konklusionen in Hinsicht auf zu erwartende gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen sollte man sich also vor gesetzmäßigen Automatismen („Wenn X, dann Y“) grundsätzlich hüten. Und dennoch: In Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen zu denken – also etwa hinsichtlich der Frage, was passiert, wenn etwa eine Verfassung außer Kraft gesetzt wird – ist nicht nur sozialwissenschaftlich legitim, sondern auch notwendig.

Bei alldem gilt jedoch stets die Einschränkung, dass selbst verfassungsrechtlich „gesetzte“ Institutionen wie die Grundrechte ohne ausreichenden gesellschaftlichen Rückhalt ihre differenzierungsstabilisierende Funktion kaum einhalten können, wie Luhmann am Beispiel des Endes der Weimarer Republik (!) deutlich macht: „Keine Institution kann den Menschen von der Handlungsverantwortung gänzlich und auf die Dauer freistellen. Verbote können infolge schwacher Institutionalisierung, Rationalitätsbedingungen durch mangelnde Voraussicht unwirksam werden. Beide Schwächen haben, zusammentreffend, das Weimarer System zusammenbrechen lassen“ (ebd.: 185, Fn. 33). Das Rechtssystem bzw. das, was Luhmann später als strukturelle Kopplung dessen mit dem politischen System bezeichnen würde, bestehen nicht im luftleeren Raum, sondern immer nur getragen durch gesellschaftliche Prozesse und Zustände – und können somit eben auch mit genau diesen verändert werden oder gar im Zuge dieser verschwinden.

Entscheidend – und zugleich zutiefst soziologisch – ist bei der Diagnose, dass Grundrechte als Institution die funktionale Differenzierung absichern, daher „vor allem die Tatsache, daß die strukturelle Differenzierung der Sozialordnung Bedingung der Möglichkeit des Staates, nicht aber umgekehrt der Staat Entscheidungsinstanz für die Wahl des Strukturprinzips ist“ (ebd.: 72). Die typisch systemtheoretische Steuerungsskepsis (nicht nur) gegenüber politischen Akteuren, die in dieser Aussage zum Ausdruck kommt, liefert zugleich einen grundsätzlichen Erklärungsansatz für die zentrale Schwierigkeit einer jeden totalitären Autokratie: So liegt es in deren Natur, gesellschaftliche Strukturprinzipien nach ihrem Programm gestalten zu wollen, wodurch, anders gesagt, der Staat – oder eine ihn tragende Partei – eben doch als Entscheidungsinstanz hierfür fungieren soll. Dem steht regelmäßig die sich weiter funktional ausdifferenzierende Struktur der (Welt-)Gesellschaft entgegen. Vorsichtig ließe sich aus dieser Sichtweise heraus die These aufstellen, dass vor allem jene Autokratien als solche bestehen können, die in der Lage sind, sich an diese wenigstens teilweise und in den „entscheidenden“ Systemverhältnissen anzupassen, während die anderen letztlich zugrunde gehen (die Gegenüberstellung der planwirtschaftlichen Sowjetunion einerseits und der marktwirtschaftlichen Volksrepublik China andererseits, die mit Blick auf die Autonomie des Wirtschaftssystems im Gegensatz zu ersterer trotz sozialistischer Staatsdoktrin ein mehr als effektives Arrangement gefunden hat, wären recht eindrucksvolle Beispiele für diese These – dafür müsste man dann allerdings die Planwirtschaft als zumindest partielle funktionale Entdifferenzierung zwischen Politik und Wirtschaft begreifen!). Auch mit Blick auf den Fall des Dritten Reiches wird dieser Komplex im Folgenden nochmal eine gewichtige Rolle spielen, da auch hier die funktionale Entdifferenzierung in Form einer Politisierung der Gesellschaft als Ganzes Bestandteil der politischen bzw. der nationalsozialistischen Programmatik war. Die Untersuchung der Frage, inwieweit den Nationalsozialisten dies gelungen ist, vermag dann auch Schlussfolgerungen darüber zu liefern, ob und inwieweit der Staat bzw. eine diesen tragende Partei hier womöglich doch Entscheidungsinstanzen bei der Wahl des Gesellschaftsstrukturprinzips sein können – oder ob sie sich gewissermaßen übergeordneten gesellschaftlichen Zwängen „zu ergeben“ haben.

Doch auch gänzlich alternative Perspektiven sind in diesem Punkt möglich – etwa solche, die die strenge Dichotomie zwischen staatlichen Akteuren einerseits und gesellschaftlichem Strukturprinzip andererseits nicht zur entscheidenden Fragestellung erheben, sondern stattdessen im Falle von Erscheinungen funktionaler Entdifferenzierung von gesellschaftlichen „Abwehrreaktionen“ gegenüber Modernisierungsprozessen ausgehen, die in diesem Fall eben durchaus nicht nur politisch vorangetrieben, sondern Folgeerscheinungen evolutionärer gesellschaftsstruktureller Veränderungsprozesse selbst wären, deren Resultate – gestiegene Kontingenz und Komplexität durch funktionale Differenzierung auf (welt-)gesellschaftlicher Ebene – zu Gegenbewegungen führen. Die Tatsache, dass Luhmann selbst Entdifferenzierung als etwas „simplifizierendes“ (vgl. Luhmann 2009: 135; 187), ja sogar als eine niedrigere Entwicklungsstufe (vgl. ebd.: 184; 198) ansieht, würde diese These, die auch durch das Argument, dass Deutschland mit seiner Entwicklung hin zu einem totalitären Regierungssystem in jener Zeit alles andere als ein Einzelfall war, zu plausibilisieren wäre, untermauern.

Zugleich zeigen derlei Einstufungen jedoch auch die klar erkennbare normative Komponente der soziologischen Systemtheorie im Sinne Luhmanns: So gilt diesem die Entwicklung hin zur funktional differenzierten Gesellschaft eben nicht nur als wertfrei betrachtete soziale Evolution, sondern dezidiert als eine Art kollektives Erklimmen der nächsthöheren Entwicklungsstufe, wie er über die oben dargelegten Aussagen mindestens implizit deutlich macht. Damit erhält die makrosoziologische Systemtheorie seiner Auslegung in gewisser Weise einen subtilen modernisierungstheoretischen Charakter.

Spürbar ist allerdings, dass Luhmann seine Haltung zum Potenzial staatlicher Gesellschaftssteuerung Mitte der 60er Jahre noch nicht grundlegend geklärt hatte. So formuliert er an anderer Stelle: „Wollte [der Staat] jegliche politische Bedeutung von Kommunikationen im voraus erfassen und lenken, müßte er die gesellschaftliche Differenzierung weitgehend aufheben und durch eine bürokratische Differenzierung des politischen Systems ersetzen. Manche Entwicklungsländer, in denen der Staat die gesellschaftliche Differenzierung (…) erst schaffen muß, scheinen diesen Weg zu gehen, allen voran die Sowjetunion mit ihrem Dualismus von Partei und Staatsverwaltung“ (ebd.: 99f.). Abseits der Tatsache, dass eine solche bürokratische Differenzierung wohl auch für damalige wie heutige liberal-demokratische Staaten attestiert werden müsste, impliziert diese Aussage doch auch einen Widerspruch zum weiter oben dargelegten Zitat aus demselben Buch, in dem Luhmann ausdrücklich bestreitet, dass der Staat Entscheidungsinstanz eines gesellschaftlichen Strukturprinzips sein könne. Folgt man nun dieser zweiten Aussage, so schien bzw. scheint er es in manchen Regionen der Welt eben doch sein zu können. Auch Luhmanns Positionierung, dass das System der Familie vor Politisierung, wie es ihm zufolge im Dritten Reich im Zuge der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik der Fall war, geschützt werden muss (vgl. ebd.: 105), zeigt auf, dass er dem politischen System letztlich durchaus das Potenzial zum Vorantreiben gesellschaftlicher Entdifferenzierung zugestand.

Im weiteren Verlauf liefert Luhmann auch eine kurze Soziologie des Einparteiensystems, wie es sich sowohl im Dritten Reich als auch im „realsozialistischen“ Ostblock manifestiert hat (vgl. ebd.: 149), und leitet daraus eine aufschlussreiche Konklusion ab: „[Das politische System] tendiert dazu, das gesamte Kommunikationswesen politisch zu infiltrieren, also politische Sphäre und gesellschaftliche Kommunikation zu verschmelzen, statt sich funktionsspezifisch so zu institutionalisieren, daß es sich im allgemeinen Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Kommunikationen leisten kann (…). Das alles sind Züge einer nicht vollständig durchgeführten gesellschaftlichen Differenzierung“ (ebd.: 149). Mit anderen Worten: In seinen frühen Publikationen ging Luhmann also noch nicht von einem „Entweder-oder“-Schema bei der Frage von Differenzierung versus Entdifferenzierung aus, sondern sah in der Empirie verschiedene Grade der gesellschaftlichen (Ent-)Differenzierung – eben etwa in Form einer „nicht vollständig durchgeführten Differenzierung“ – vorliegen. Wir halten diese Herangehensweise, wie oben bereits postuliert, für den klügeren Ansatz. Aus dieser Sichtweise heraus existieren Politik und Recht durchaus weiter als von ihrer jeweiligen Umwelt differenzierte soziale Systeme, allerdings nicht so differenziert, dass es kein hierarchisches Verhältnis zwischen diesen gäbe. Autokratischen Staaten wie damals auch der Sowjetunion fehlt demnach „das Vertrauen in die Möglichkeit, gerade das Recht zum Strukturträger der differenzierten Sozialordnung machen zu können; sie behandeln es als Mittel des politischen Systems unter anderen“ (ebd.: 183). Es herrscht in einem solchen Systemverhältnis also ein Primat des Politischen vor, aber ohne vollständige Auflösung – bzw. komplette Entdifferenzierung – des Rechtssystems (oder anderer Funktionssysteme).


Literatur

Kruse, Volker (2015). Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. München / Konstanz: UVK.

Loosen, Wiebke (2007). Entgrenzung des Journalismus: empirische Evidenzen ohne theoretische Basis? In: Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Heft 1 / März 2007, 52. Jg., S. 63-79.

Luhmann, Niklas (1990). Verfassung als evolutionäre Errungenschaft. In: Rechtshistorisches Journal 9 / 1990, S. 176-220.

Luhmann, Niklas (1993). Bemerkungen zu „Selbstreferenz“ und zu „Differenzierungen“ aus Anlaß von Beiträgen im Heft 6, 1992, der Zeitschrift für Soziologie. In: Zeitschrift für Soziologie, 22. Jg., S. 141-146.

Luhmann, Niklas (2004). Einführung in die Systemtheorie (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

Luhmann, Niklas (2009). Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie (5. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

Luhmann, Niklas (2011). Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München: Olzog.

Luhmann, Niklas (2018a). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. I & II) (10. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2018b). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (17. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Schimank, Uwe (2006). „Feindliche Übernahmen“: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft. In: Ders., Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung: Beiträge zur akteurszentrierten Differenzierungstheorie 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 71-83. 
 
Schimank, Uwe (2007). Theorien gesellschaftlicher Differenzierung (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Teubner, Gunther (1989). Recht als autopoietisches System. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

„Christliches“ Abendland?

Die plötzlich Verhärmte

Zwischen Distanzeritis und Dämonisierung