Systemtheorie VIII: Das Rechtssystem

Trotz Begriffen wie dem der „Rechtsstaatlichkeit“, die eine gemeinsame, aus Politik und Recht bestehende Entität anzudeuten scheinen, geht die Systemtheorie von zwei voneinander verschiedenen Funktionssystemen Politik und Recht aus, die sich gegenseitig über die strukturelle Kopplung Verfassung beobachten und sich von der (Selbst-)Beobachtung (selbst) irritieren lassen. Semantiken wie die des „Rechtsstaats“ sind als Selbstbeschreibung beider Systeme zu bewerten, die den soziologischen Beobachter jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass sie getrennt operieren (vgl. Luhmann 1995: 422ff.; Luhmann 2000: 390). Beide Systeme ziehen jedoch aus dem jeweils anderen einen unzweifelhaften Nutzen: Das politische System gewährleistet die kollektiv verbindliche Durchsetzbarkeit des Rechts über die ihm eigene Macht, während das Rechtssystem als eine Art Verwalter der Differenz von Recht und Unrecht dient (vgl. Luhmann 1995: 426) und dabei auch die Politik von den tagtäglich massenhaft anfallenden Einzelfallentscheidungen entlastet, diese also gewissermaßen entpolitisiert und damit weniger angreifbar macht (vgl. ebd.: 424). Die sich aus diesem institutionalisiert-harmonischen Systemverhältnis ergebende „Rechtsstaatsformel (…) bringt ein wechselseitig-parasitäres Verhältnis von Politik und Recht zum Ausdruck. (…) Mit „parasitär“ ist dabei nichts anderes gemeint als die Möglichkeit, an einer externen Differenz zu wachsen“ (Luhmann 1995: 426).

Das Rechtssystem gilt, wie auch die anderen modernen Funktionssysteme, als operativ geschlossen und als autonom, was durch die Gewaltenteilung und ihre Konsequenzen, wie etwa die Unabhängigkeit der Richter und der Anwälte, abgesichert wird (vgl. Luhmann 1995: 63). Auch rechtliche Kommunikation wird demnach natürlich definiert durch einen Code, in diesem Fall nämlich durch die Unterscheidung von Recht und Unrecht, von „rechtmäßig“ und „unrechtmäßig“ (vgl. ebd.: 67f.).

Ähnlich wie beim oben thematisierten Begriff des Rechtsstaates existiert auch im Falle des Rechtssystems durchaus eine Differenz zwischen soziologischen Beobachtungsergebnissen einerseits und systemeigenen Selbstbeschreibungssemantiken andererseits. So bedeutet die besagte code-determinierte, also nach Recht und Unrecht unterscheidende Kommunikation des Systems trotzdem immer auch Kontingenz. Der am rechtlichen Verfahren teilnehmende Laie – sei er nun Kläger, Angeklagter oder Beklagter – weiß in den meisten Fällen jedenfalls nicht sicher, wie es ausgehen mag: „Selbst Verfahren werden daher, und alles wird getan, um dies zu bestätigen, als Prozessieren von Ungewißheit erlebt. (Die juristische Gegendarstellung lautet: Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richters.)“ (Luhmann 1995: 68f.). Der Begriff der „Gegendarstellung“ macht bereits deutlich, dass es sich dabei in mancherlei Fällen durchaus um Semantik, um talk handeln mag – jedoch eben um einen, der auf der Mikro-, auf der Interaktionsebene vorherrscht, der für das System als Ganzes jedoch vermieden werden muss, da alles andere den Autonomieverlust des Systems bedeuten würde. Das Beispiel ist insofern aufschlussreich von Relevanz, als dass demnach fehlende Unabhängigkeit und fehlende Unparteilichkeit eines Richters – die beispielsweise auch aus politischen Positionierungen desselben herrühren mag – noch kein zwingendes Indiz für fehlende funktionale Differenzierung zwischen Politik und Recht sein müssen, sondern auch einfach auf einen partiellen „Defekt“ auf der interaktionssystemischen Mikro-Ebene hindeuten können, der aber noch nichts über gesellschaftsstrukturell produzierte Systemverhältnisse auf der Makro-Ebene aussagen muss. Das besagte Beispiel setzt folglich die theoretischen Hürden, die überwunden werden müssen, um tatsächlich eine funktionale Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht zu identifizieren, höher.

Während das politische System immer wieder zur Expansion, zur Hegemonie, zur Intervention, zur Überregulierung, zur Steuerung, zur Politisierung seiner Umwelt und damit zum Versuch der Entdifferenzierung tendiert und gerade in dieser Tendenz von der strukturellen Kopplung zum Recht, der Verfassung, gebremst werden soll, genügt sich das Rechtssystem selbst: „Es verfolgt kein imperialistisches Interesse, möglichst viel Kommunikationen anzuziehen und im System zu behalten. Es ist kein attraktives System. Es sagt nur: Wenn Recht in Anspruch genommen wird, das heißt: wenn über Recht und Unrecht disponiert werden soll, dann nach meinen Bedingungen“ (ebd.: 72). Eine vom Rechtssystem selbst ausgehende „Systemexpansion“, eine Art „versuchte Verrechtlichung der Gesellschaft“ ist in der Tat schwer vorstellbar. Dies gilt erst recht natürlich dort, wo das Recht selbst entsprechende Begrenzungen setzt, also in liberalen Demokratien, wo das jeweilige (Verfassungs-)Recht damit vor allem dem politischen System Einhalt zu gebieten versucht. Eine solche Unwahrscheinlichkeit expansionistischer Tendenzen des Rechtssystems schließt gleichwohl nicht aus, dass – meistens politische – Semantiken einen gegenteiligen Eindruck erwecken, etwa wenn unter Bezugnahme auf verschiedenste, echte oder vermeintliche politische Rechtsbrüche die Forderung von Parteien oder Politikern aufkommt, „das Primat des Rechts wiederherzustellen“. In die systemtheoretische Terminologie übersetzt wäre damit dann freilich jedoch immer noch nicht ein Primat gemeint, sondern lediglich die intakte operative Geschlossenheit und Autonomie des Rechtssystems, welches sich damit bekanntlich in keiner hierarchisch herausgehobenen Position innerhalb der Gesellschaft befindet, wie es der Begriff des Primats impliziert, sondern als ein gesellschaftliches Subsystem neben vielen anderen innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur besteht.

Wie schon im Falle des politischen Systems gilt es auch für das Rechtssystem zu klären, wo eigentlich genau die Grenze verläuft zwischen dem System und seiner Umwelt, d. h. wo rechtliche Kommunikation beginnt und wo sie aufhört. So liegt der Gedanke, dass Gerichte, Staatsanwaltschaften sowie Rechtsanwälte bzw. ihre Kanzleien rechtlich kommunizieren, freilich nicht fern, ebenso wie auch Verwaltungen und Parlamente, sofern sie in ihrer Rolle als Gesetzgeber, auf den rechtlich Bezug genommen werden kann, agieren, Rechtskommunikation betreiben können. Doch wie sieht es darüber hinaus aus? Luhmann betont an dieser Stelle, „daß nicht jede Erwähnung der Codewerte Recht/Unrecht die Kommunikation zu einer rechtssysteminternen Operation macht. Man kann zum Beispiel im Rechtsunterricht über Rechtsfälle reden oder in der Presse über Gerichtsverhandlungen und -urteile berichten, ohne daß die Kommunikation über Rechtswerte disponiert. Sie liegt in einem erkennbar anderen Funktionskontext“ (ebd.: 72f.). Hier ist also auch im Falle des Rechtssystems säuberlich zu differenzieren.

Gleichwohl – und dies ist genauso relevant – bedeutet dies nicht, dass nicht auch Laien rechtlich kommunizieren könnten, denn „jedermann hat das Recht auf Inklusion in das Recht; also auch das Recht auf Verwendung der Rechtssymbole“ (ebd.: 74). Entscheidend ist, dass – und sei es eben auch „nur“ in einer alltäglichen Interaktion – zwischen Recht und Unrecht unterschieden wird. Dabei braucht es jedoch eben keine Professionsrolle, aus der heraus das zu geschehen hat, sondern es ist durchaus möglich, als juristischer Laie an der Rechtskommunikation zu partizipieren. Eine Einschränkung gilt es allerdings zu machen: Es kann verbindliches rechtliches Entscheiden nur mit Hilfe der machtbasierten „Drohkulisse“ des politischen Systems geben, welches dessen Durchsetzbarkeit gewährleistet (vgl. ebd.: 74). Ohne diese könnte Recht kein Recht sein. An diesem Punkt zeigt sich erneut, dass die Autonomie eines Funktionssystems eben nicht Autarkie bedeutet: Politik und Recht mögen als gesellschaftliche Subsysteme autonom und operativ geschlossen, also nicht für äußere Interventionen und Steuerungsversuche offen sein, aber sie operieren keineswegs vollkommen unabhängig voneinander – und damit auch nicht autark (vgl. Schimank 2006: 74).

Der Code des Rechtssystems ist auch stets abzugrenzen von dem der Moral, die über die Unterscheidungen gut/schlecht oder gut/böse funktioniert und gerade dadurch eine gänzliche andere Differenz darstellt. Daraus ergibt sich auch, dass moralische und / oder auch religiöse Kommunikation zwar eine Art Inspirationsquelle für das Recht sein kann, dass die jeweiligen moralischen Prinzipien dann aber immer im Sinne der Unterscheidung von Recht und Unrecht aufgegriffen werden müssen und letztlich nur auf diese Weise im System kommunikativ anschlussfähig gemacht werden können (vgl. Luhmann 1995: 85). Im Strafgesetzbuch ist aus gutem Grund nicht von „Du sollst nicht töten!“ die Rede, sondern Mord und Totschlag sind als Straftatbestände in Form einer Wenn-dann-Regelung formalisiert. Hierin zeigt sich zugleich auch, dass Gesetze – solche des Strafrechts und auch der anderen Rechtsbereiche – in der systemtheoretischen Terminologie Programme darstellen (vgl. ebd.: 93), die gewissermaßen den Code des Systems operationalisieren, ihn ergänzen und mit Inhalt füllen (vgl. ebd.: 204), also es ermöglichen, die Maßgabe seiner Unterscheidung in kommunikativ anschlussfähige Operationen des Systems umzusetzen. Die Programmierung „ergänzt die Leitunterscheidung des Systems durch eine zweite Unterscheidung: die der richtigen bzw. falschen Anwendung von Kriterien für die Zuteilung von Recht und Unrecht“ (Luhmann 1995: 207). Neben Rechtsnormen gewährleisten dies auch „andere Entscheidungsprämissen des Rechtssystems, etwa (…) Selbstbindungen durch Präjudizien in der Gerichtspraxis. (…) Auf der Ebene der Programmierung kann dann festgelegt werden, in welchen Hinsichten das System aus welchen Anlässen Kognitionen zu prozessieren hat“ (ebd.: 93).

In der Tat nehmen im Rechtssystem auch Gerichtsurteile und rechtliche Präzedenzfälle eine ähnliche Funktion ein, setzen sozusagen die konkrete Grenze des Systems nach außen, bestimmen also die Systemgrenze für den konkreten Fall, nachdem der Code die abstrakte Grenze gesetzt hat. Dessen zwei Seiten bedingen einander, wie bei jedem Funktionscode der Fall: Recht kann erst beobachtet werden dadurch, dass klar ist, was Unrecht ist – und andersherum. Die binäre Codierung erst gewährleistet das Verhindern eines „tautologischen Zustandes“ und begründet dadurch die Identität des Systems (vgl. ebd.: 184). Er schafft die „Brille“, mit der das System seine Umwelt beobachtet – und zwar ausschließlich beobachtet: „Alles, was der Fall sein kann, ist entweder Recht oder Unrecht“ (ebd.: 185). Hieraus ergibt sich logischerweise ein Ausschluss – also etwa die Unmöglichkeit, die Umwelt nach politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Erwägungen zu beobachten. Abstrakt gesehen ist dies die Grundlage funktionaler Differenzierung zwischen dem Recht einerseits und eben den betreffenden anderen gesellschaftlichen Subsystemen andererseits. Konkret wird diese Grenze u. a. aufrechterhalten durch die strukturelle Kopplung der Verfassung, anhand derer das Rechtssystem und das politische System eben jene Grenze beobachten können.

Auch im Rechtssystem ist eine Binnendifferenzierung in Zentrum und Peripherie bzw. – konkretisiert betrachtet – in Rechtsprechung und Gesetzgebung (vgl. ebd.: 302) zu beobachten. Analog zum politischen Zentrum, in dem kollektiv bindend entschieden, also über Macht politisch verbindlich kommuniziert wird, sind es die Gerichte, die das Zentrum des Rechtssystems bilden. Auch sie bilden verbindlich kommunizierende, entscheidende und von persönlichen Präferenzen vollends entkoppelte Organisationen (vgl. ebd.: 321), die genau aufgrund dieser Eigenschaften für diese anspruchsvolle Rolle geeignet sind und eben dadurch auch Legitimität erzeugen. In der Peripherie lässt sich der Gesetzgeber ausmachen, also die Legislative bzw. Parlamente, die über ihre Entscheidungen Recht setzen, sowie im weiteren Sinne auch die Exekutive bzw. Regierung und Verwaltung, die diese Rechtsetzungen über Durchführungsverordnungen und ähnliche hochformalisierte Verwaltungsakte im Gesetzesvollzug spezifizieren, konkretisieren und umsetzen. So wie Parteien und Interessenverbände die peripheren Zulieferungsdienste für das politische Zentrum bilden, sind jene oben genannten Akteure die Zulieferungsdienste für das Zentrum des Rechtssystems in Form der Rechtsprechung. Das liefert zugleich die Erkenntnis, dass jene Instanzen, die im politischen System dem Zentrum zugerechnet werden müssen, im Rechtssystem zumindest in Teilen die Peripherie abbilden.

Derlei „Doppelrollen“ schließen einander in der Systemtheorie nicht aus: Entscheidend ist, unter der Maßgabe welcher Leitunterscheidung vorangegangene und auch Anschlusskommunikationen stattfinden. So kann ein jüngst beschlossenes Gesetz sowohl aus der Perspektive des politischen Systems als auch aus jener des Rechtssystems beobachtet oder thematisiert werden, was regelmäßig dazu führt, dass dabei zuweilen sehr unterschiedliche Elemente als relevant bewertet werden. So wird sich die Politik eher für die Machtverhältnisse und die Motive des Zustandekommens des Gesetzes interessieren – und durchaus auch für den Vollzug dessen. Das Rechtssystem bzw. dessen Zentrum hingegen wird es, dem ihm eigenen Code entsprechend, gegebenenfalls eher auf Legalität bzw. Verfassungsmäßigkeit hin prüfen und, im Falle eines positiven Ergebnisses, Einzelfälle darauf basierend entscheiden. Akte der Gesetzgebung können auch zeitgleiche (!) Anschlusskommunikationen in beiden Funktionssystemen nach sich ziehen, ohne dass Politik und Recht deswegen ein einziges System wären, ebenso wie auch die Vorgeschichte etwa eines Gesetzes einerseits eine politische und andererseits eine rechtliche Seite haben kann, die jeweils von einer entsprechend unterschiedlichen Leitunterscheidung geprägt worden ist (vgl. ebd.: 435): „Daß ein Beobachter hier ein Ereignis als Einheit identifizieren kann, besagt (…) nichts für die Einheit der Systeme. Sobald man die rekursive Vernetzung der betreffenden Operationen mit anderen in Betracht zieht, löst sich die Einheit des Einzelaktes wieder auf. Sie ist nur eine fiktive Einheit ohne Rücksicht auf Zeit“ (ebd.: 434f.).

Doch die Gesetzgebung ist im Rechtssystem nicht alleiniger Teil der Peripherie: Auch privatrechtliche Kommunikationen wie etwa Vertragsschlüsse sowie andere nicht-gerichtliche Arbeitsbereiche des Rechtssystems zählen dazu, denn sie kommunizieren zwar rechtlich – und in der Tat auch verbindlich –, aber ohne Operationszwang, ohne eine organisational zu erfüllende Pflicht zur Unterscheidung von Recht und Unrecht, wie sie dagegen bei Gerichten vorliegt (vgl. ebd.: 321). In der Peripherie „können Interessen jeder Art dargestellt und nach Kräften durchgesetzt werden, ohne daß es auf die Unterscheidung rechtmäßige/nichtrechtmäßige Interessen ankäme. Eben deshalb eignet sich die Peripherie als Kontaktzone zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft – sei es zur Wirtschaft, zum häuslichen Familienleben oder zur Politik“ (ebd.: 321f.). Ganz ähnlich der politischen Peripherie ist auch die periphere Zone des Rechtssystems eine Art Trichter, in den erst einmal ungefiltert und unsortiert Rechtsinhalte, seien es nun private Verträge oder die Ergebnisse der Gesetzgebung, „hineingegossen“ werden, ehe sie womöglich irgendwann vom Zentrum behandelt werden müssen, falls es zum Konflikt kommt. Dieses ist aber eben nicht zwingend der Fall, und genau in dieser Freiheit zum Nicht-entscheiden-müssen liegt die Autonomie des Rechtssystems (vgl. ebd.: 322). Zugleich dient die Peripherie der Konsensbeschaffung für Rechtsinhalte, etwa durch der Gesetzgebung vorangegangene demokratisch-politische Meinungsbildung (vgl. ebd.: 322f.). Die Differenzierung des Rechtssystems in Zentrum und Peripherie ist damit ebenso wenig wie jene des politischen Systems eine hierarchische Unterscheidung: Beide Seiten bedürfen einander, keine Seite ist wichtiger als die jeweils andere (vgl. ebd.: 323).

Klar ist, dass Recht nicht denkbar ist ohne vorangegangene Operationen innerhalb anderer Funktionssysteme, wie eben dem politischen System. Denn selbst wenn parlamentarische Entscheidungen über die Zurechnung „Gesetzgeber“ theoretisch auch als periphere Vorgänge des Rechtssystems fassbar sind, so wird etwa das der kollektiv bindenden politischen bzw. gesetzgeberischen Entscheidung vorangegangene politische „Geplänkel“, das sich in der Peripherie des politischen Systems abgespielt hat und im Zuge dessen die politischen Inhalte des später verabschiedeten Gesetzes diskutiert wurden, nicht dem Rechtssystem zugeordnet, zumal es in der Funktionslogik der Unterscheidung von Recht und Unrecht auch keine Rolle spielt, sofern durch den politischen Streit nicht gerade Rechtsnormen verletzt worden sind. Schaut man darüber hinaus weiter, in welchen und in wie vielen anderen Funktionssystemen noch Grundlagen für rechtliche Kommunikation geschaffen werden – man denke hier exemplarisch an die moralischen und ethischen Prämissen vieler Gesetze, die vom Religionssystem ausgehen, oder auch Erkenntnisse innerhalb des Wissenschaftssystems, die Gesetzesänderungen bewirken oder gar unausweichlich machen –, so könnte im ersten gedanklichen Impuls die Frage aufkommen, wie weit es mit der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems hier überhaupt wirklich gediehen ist bzw. ob dies nicht Indizien dafür sind, dass Recht ständig an nicht-rechtliche Kommunikationen anschließt und daher eben kein autonomes Subsystem der Gesellschaft ist.

Luhmanns Antwort hierauf ist noch sehr eindeutig – und wir stimmen ihm an dieser Stelle und an diesem Punkt auch noch ausdrücklich zu: „Es handelt sich in all diesen Fällen nicht um Belege für die These der Entdifferenzierung und auch nicht um Indikatoren für einen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Rechts, sondern um einen Fall von Interpenetration. Das soll heißen: Das Recht setzt voraus, daß die Umwelt Komplexität strukturiert und reduziert hat und benutzt seinerseits dann das Resultat, ohne dessen Zustandekommen zu analysieren (und wenn: dann unter rein rechtlichen Gesichtspunkten)“ (ebd.: 90). Systemtheoretisch sind hier also Fälle von strukturellen Kopplungen mit anderen Funktionssystemen auszumachen, die aber demnach eben einzig und allein aus der Perspektive der codierungsbedingten Differenz von Recht und Unrecht beobachtet werden, nicht aber aus der Maßgabe politischer, moralischer, religiöser, wissenschaftlicher oder anderer Unterscheidungen heraus. Das Recht interessiert sich nicht für die Machtverhältnisse oder einzelne politische Motive, die zur Verabschiedung eines bestimmten Gesetzes geführt haben, ebenso wenig wie es sich für die Frage interessiert, ob dieses als moralisch gut oder schlecht gelten kann. Insofern schließt Rechtskommunikation auch nicht an eine wie auch immer geartete nicht-rechtliche Kommunikation an, sondern beobachtet nicht-rechtliche Kommunikationen aus der ihr eigenen Unterscheidung heraus, lässt sich von dieser gegebenenfalls (selbst) irritieren und begründet eigene weitere Kommunikationen ausschließlich auf der Basis eben jener (Selbst-)Irritation.



Literatur

Luhmann, Niklas (1995). Das Recht der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2000). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 
 
Schimank, Uwe (2006). „Feindliche Übernahmen“: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft. In: Ders., Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung: Beiträge zur akteurszentrierten Differenzierungstheorie 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 71-83.

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