Systemtheorie I: Funktionale Differenzierung


Kennzeichnend für die makrosoziologische Systemtheorie nach Luhmann ist die Ausgangsthese gesellschaftlicher Evolution, welche den Dreiklang der segmentären über die stratifikatorische hin zur funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung beinhaltet. Nicht zu verwechseln mit notgedrungen „feineren“ geschichtswissenschaftlichen Kategorien wie etwa jener der „Ständegesellschaft“ etc., sollen mittels dieses Dreiklangs grundlegende Schritte im menschheitsgeschichtlichen Wandel von Gesellschaftsstrukturen analysiert und demonstriert werden.

Am Anfang stehen die Stammesgesellschaften, die Luhmann als Form einer segmentären Differenzierung übersetzt (vgl. Luhmann 2000: 413): Die einzelnen Stämme bilden dabei gesellschaftliche Segmente, die durch ein noch deutlich geringeres Ausmaß an Arbeitsteilung gekennzeichnet sind und in denen die Position des Häuptlings die spätere politische Funktion des Herstellens kollektiv bindender Entscheidungen übernimmt. Als evolutionären Schritt hin zur nächsten Form gesellschaftlicher Differenzierung wird hier vor allem „die Zunahme von Konflikten, die die tribale Ordnung überforderten“ (Luhmann 2000: 414) ausgemacht. In diesem Zusammenhang sind politische Zentralisierung ohne Angewiesenheit auf Verwandtschaftsbeziehungen, Zentrum/Peripherie-Differenzierungen in der Form von Stadt- oder Reichsbildung sowie Stratifikation unausweichlich geworden (vgl. ebd.: 414). In die letztere Kategorie ließen sich sowohl die mittelalterliche Stände- und Feudalgesellschaft als auch bereits antike Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens, in denen etwa die hierarchische Unterscheidung von Plebs und Patriziat ausschlaggebend ist, einordnen. Es versteht sich von selbst, dass die Übergänge von der einen in die andere Gesellschaftsform räumlich und zeitlich diffus sein können und sie – eben in Form jener zuvor genannten Zentrum-Peripherie-Differenzierungen (Stadt / Dorf) – nebeneinanderher existiert haben (vgl. ebd.: 414). An diesem Punkt der gesellschaftlichen Evolution sieht Luhmann den Beginn des Politischen, wobei er für jenen Zeitraum noch nicht den modernen Begriff des Staates, sondern zunächst jenen der Herrschaft verwendet sehen will, da dieser den stratifikatorischen Gesellschaftskontext besser insinuiert (vgl. ebd.: 416f.). Ein Ansatz, der allerdings auch schon angesichts des erst im 19. Jahrhundert einsetzenden Prozesses zunehmender globaler Rationalisierung und Bürokratisierung sinnvoll erscheint, da derlei Erscheinungen eng an das gekoppelt sind, was heute unter moderner Staatlichkeit verstanden wird. Die Anwendung des Staatsbegriffes auf politische Entitäten im Rahmen stratifikatorischer Gesellschaftsdifferenzierung wäre also mitunter irreführend.

Mit dem Übergang hin zur funktionalen Differenzierung, den man weder als in irgendeiner Form gezielt geplante Umstellung begreifen kann (vgl. Luhmann 2018a: 710) noch als Ergebnis partnerschaftlicher Aushandlung (vgl. Schimank 2006: 73), sondern der als evolutionärer Vorgang, als Ergebnis heftiger Auseinandersetzungen zwischen den späteren gesellschaftlichen Teilsystemen einzustufen ist (vgl. ebd.: 73), ist man schließlich in der die Moderne charakterisierenden Gesellschaftsform angekommen, welche sich ausdifferenziert hat in mehrere gesellschaftliche Sub- bzw. Funktionssysteme, die klar voneinander differenziert sind. Hierbei wären vor allem die Funktionssysteme Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien, Erziehung, Gesundheit, Religion, Kunst, Sport und Familie zu nennen. Diese gesellschaftlichen Subsysteme nehmen also jeweils eine bestimmte Funktion ein, welche für diese stets unbedingte Priorität hat und alle anderen möglichen funktionalen Erwägungen verdrängt (vgl. Luhmann 2018a: 747), so dass diese von wiederum anderen Funktionssystemen übernommen werden.

Im Zuge eines exemplarischen Blickes etwa auf das Verhältnis von Politik und Religion werden zentrale Unterschiede hinsichtlich stratifikatorischer und funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung deutlich: Während beide im Mittelalter noch in einem diffusen Verhältnis zueinander standen, im Zuge dessen weltliche und geistliche Herrschaft bzw. die Herrschaft des Monarchen und des Adels einerseits und jene von Papst und Klerus andererseits nicht selten verschwammen (sichtbar an den nicht wenigen Konflikten wie auch an den Bündnissen und Allianzen zwischen diesen beiden herrschenden Gruppen), finden wir hier heute in der Regel eine strikte Trennung vor (und liegt sie nicht vor, wie etwa in sogenannten „theokratischen“ Staaten, stößt dies weltgesellschaftlich eher auf Ablehnung). Die gesellschaftlichen Subsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft stehen ferner in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander: Sie „ist eine Gesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum“ (Luhmann 2011: 19), obwohl sich die Funktionssysteme jeweils im Verhältnis zu anderen regulär überschätzen – allerdings ohne diese Selbstüberschätzung verbindlich machen zu können (vgl. Luhmann 2018a: 748). Damit einher geht seitens der Systemtheorie auch die Ablehnung der traditionellen Unterscheidung von Staat einerseits und Gesellschaft andererseits, welche insbesondere im Staats- und Verfassungsrecht vorherrschend ist und nach der die Gesellschaft als eine Art „Zivilgesellschaft“ gedacht wird, die gewissermaßen die nationale Umwelt des Staates bildet. Im systemtheoretischen Sinne ist der Staat als Teil des politischen Systems hingegen stets Teil der Gesellschaft, Teil eines ihrer Funktionssysteme – und ihr somit nicht übergeordnet. Da Gesellschaft in dieser theoretischen Lesart stets als Gesamtheit aller Kommunikationen verstanden werden muss, ist eben staatliche bzw. politische Kommunikation auch immer „nur“ als Teil dieser anzusehen (vgl. Luhmann 2011: 17f.). Diese oben dargelegte These bedeutet freilich noch keine Auflösung gesellschaftlicher Schichtung generell: „Geändert hat sich aber, daß dies[e] nun nicht mehr die sichtbare soziale Ordnung der Gesellschaft schlechthin ist, nicht mehr die Ordnung, ohne die überhaupt keine Ordnung möglich wäre“ (Luhmann 2018a: 772).

Mit herkömmlichen Gesellschaftsbegriffen muss im systemtheoretischen Rahmen auch insoweit aufgeräumt werden, als dass die logische Konsequenz der Prämisse von Gesellschaft als Gesamtheit der Kommunikationen ist, dass diese letztendlich nur als Weltgesellschaft gedacht werden kann (vgl. Luhmann 1975: 61; Luhmann 2005: 12). Dies gilt zwar umso mehr in Zeiten einer globalisierten Welt, in der rund um den Globus kommunikative Erreichbarkeit und dadurch die Verwischung sozialer Räume und Milieus gegeben ist, aber trotzdem nicht erst seitdem: Globale Kommunikation beginnt beim weltumsegelnden Schiff und damit, geschichtlich gesehen, weitaus früher als Digitalisierung, Industrialisierung und Modernisierung. Doch für Luhmann beginnt Weltgesellschaft im weiteren Sinne noch eher, da „jede Gesellschaft (…) eine Welt konstruiert und das Paradox des Weltbeobachters dadurch auflöst“ (Luhmann 2018a: 156). Zudem geht es um die umwälzende Rolle von Verflechtung und Interdependenz, welche durch Anschlusskommunikation ermöglicht wird, die auf weltweite Verflechtungen hinauszulaufen vermag (vgl. Wobbe 2000: 41). Anders gesagt: „Die notwendige Bedingung für Weltgesellschaft ist nach Luhmann erst dadurch gegeben, daß jede Kommunikation weitere Anschlüsse ermöglicht und somit sozial relevant wird“ (Wobbe 2000: 41). In diesem Zusammenhang werden auch Funktionssysteme weltgesellschaftlich gedacht: So kann das Recht als globale rechtliche Kommunikation verstanden werden, die Wirtschaft als weltwirtschaftliche Kommunikation usw. Das weltpolitische System organisiert sich zwar nicht selbst als Staat, ist aber – neben u. a. supranationalen Weltorganisationen wie UN, Weltbank, IWF etc. – segmentär in Territorial- bzw. Nationalstaaten differenziert (vgl. Wobbe 2000: 52ff.). Aus diesem Modell gehen allerdings auch unweigerlich theoretische Probleme hervor: So wirft dies die Frage auf, wie plausibel in einer Welt, in der demokratische Rechtsstaaten – und damit eine klare Differenzierung zwischen Politik, Recht, Religion und anderen Funktionssystemen – alles andere als die Regel sind, die These einer (wenn auch nur primär) funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur eigentlich noch sein kann.

Funktionale Differenzierung als moderne Gesellschaftsstruktur (vgl. Luhmann 2018a: 617) muss in der Systemtheorie als evolutionäre Reaktion auf die gestiegene Komplexität und Kontingenz des Sozialen verstanden werden. Es liegt auf der Hand, dass im Zuge von Modernisierung, Industrialisierung, zunehmender Arbeitsteilung, Urbanisierung und technischem Fortschritt bis hin zur Digitalisierung die Freiheitsgrade von Individuen und auch Organisationen gestiegen sind. Von sozialen Aufstiegsmöglichkeiten über individuelle Wahlmöglichkeiten bis hin zu organisationalen Entscheidungsspielräumen gilt heute: Die soziale Welt ist so offen wie nie, aber auch so ungewiss und unübersichtlich wie nie. Die Systemtheorie konzeptualisiert diese kausal miteinander verketteten Phänomene nun mittels der Begriffe Komplexität und Kontingenz.

Ersterer Begriff „verweist darauf, dass aufgrund bestimmter Entwicklungsbedingungen moderner Gesellschaften viele soziale Verhältnisse nicht mehr einfach und überschaubar, sondern vielschichtig und verwickelt geworden sind: statt Ackerbau Hochindustrialisierung, statt Tradition positiviertes Recht, statt Schicksal Wissenschaft“ (Willke 2006: 19). Er ist also zu verstehen als „Unüberschaubarkeit der Möglichkeiten“ (vgl. Martens / Ortmann 2006: 428). Komplexität lässt sich damit zugleich als eine direkte Folge dessen begreifen, was Max Weber als „Entzauberung der Welt“ verstanden hat – den Wandel hin zu Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung, Rationalisierung (vgl. Kieser 2006: 67ff.).

Der Begriff der Kontingenz steht demgegenüber für die daraus folgende, gestiegene Anzahl an Freiheitsgraden, was für Luhmann aber stets auch eine riskante Angelegenheit ist: „Unter Kontingenz wollen wir verstehen, dass die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens auch anders ausfallen können als erwartet wurde; (…) Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken“ (Luhmann 1972: 31; zitiert nach Willke 2006: 31). Kontingenz steht somit für Ungewissheit und Unsicherheit.

Funktionale Differenzierung als aus systemtheoretischer Sicht evolutionäre gesellschaftsstrukturelle Antwort auf die besagten Phänomene (vgl. Willke 2006: 235) hat nun die Funktion, Kontingenz und Komplexität zu reduzieren, obgleich sie selbst auch den Komplexitätsgrad der Gesellschaft erhöht – Systemdifferenzierung (bzw. die Differenzierung zwischen System und Umwelt) vollzieht also beides zugleich (vgl. Luhmann 2018b: 262). Die Gesellschaft differenziert sich aus in Subsysteme, die, jeweils eigenen, spezifischen Funktionslogiken und Rationalitäten folgend, spezialisierte Antworten und Problemlösungen liefern, die soziale Welt dadurch berechenbarer, bestimmter, sicherer und gewisser zu machen, was mit nicht an die Kontingenz und die Komplexität der modernisierten Gesellschaft angepassten Gesellschaftsstrukturen – wie eben etwa Stratifikation oder segmentärer Differenzierung – so nicht möglich gewesen war. Beispielsweise das mittelalterliche Religionssystem Europas hat sich eben in der Tat als zu unterkomplex (!) erwiesen, um die Komplexität wissenschaftlichen Fortschritts angemessen zu erfassen und ideologisch mittragen zu können. Die Inquisition seitens der Katholischen Kirche gegenüber „Ketzern“ lässt sich somit als eine Art Versuch übermäßiger Komplexitätsreduktion als Antwort auf gestiegene Umweltkomplexität verstehen. Dies machte schließlich die Ausdifferenzierung des Funktionssystems Wissenschaft notwendig, um eben dieser Umweltkomplexität Rechnung zu tragen. Ähnliche Beispiele ließen sich für die Industrialisierung und das Wirtschaftssystem und andere gesellschaftlich-evolutionäre Zusammenhänge finden.

Funktionale Differenzierung erhöht somit auch die Pluralität gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen, was die moderne Gesellschaft flexibler, aber eben auch unübersichtlicher macht. Das Primat einer bestimmten – z. B. religiösen – Weltsicht macht im Zuge der Modernisierung Platz für eine gesellschaftliche Diversität der Realitäten, die keiner externen Steuerung mehr ausgesetzt sind. Vor diesem Hintergrund sind sogar die rezipierten Unterschiede in Sachen Wirklichkeitskonstruktion selbst unterschiedlich: „Durch funktionale Differenzierung wird (…) die Differenz der verschiedenen Bezugsprobleme betont; aber diese Differenz sieht vom Standpunkt der einzelnen Funktionssysteme aus verschieden aus, je nachdem, auf welche Differenz von Funktionssystem und gesellschaftsinterner Umwelt sie bezogen wird“ (Luhmann 2018a: 746). Dies gilt umso mehr, als dass funktionale Differenzierung nun auch die Unterscheidung von Rollen und Personen mitbegründet; „und dies schon allein deshalb, weil Personen nicht mehr durch ihren sozialen Status und ihre invarianten Zugehörigkeiten identifiziert sind, sondern Berufe, Mitgliedschaften, präferierte Interaktionen wählen und in der Wahl identisch bleiben müssen“ (Luhmann 2018a: 771). Die Pluralität von Wirklichkeitskonstruktionen wurde durch die gesellschaftliche Evolution somit auch auf der sozialen Mikro-Ebene erhöht – eine Erkenntnis, die durchaus als Indiz für das Aufkommen einer durch wegbrechende Verbindlichkeiten definierten Postmoderne gesehen werden könnte, welches von Luhmann allerdings dezidiert bestritten wird (vgl. Luhmann 2018a: 1143).


Literatur

Kieser, Alfred (2006). Max Webers Analyse der Bürokratie. In: Alfred Kieser / Mark Ebers (Hrsg.), Organisationstheorien (6. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. S. 63-92.

Luhmann, Niklas (1975). Die Weltgesellschaft. In: Ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 51-71.

Luhmann, Niklas (2005). Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie. In: Ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft (5. Aufl.). Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 9-24.

Luhmann, Niklas (2011). Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München: Olzog.

Luhmann, Niklas (2018a). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. I & II) (10. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2018b). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (17. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2000). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Martens, Will / Ortmann, Günther (2006). Organisationen in Luhmanns Systemtheorie. In: Alfred Kieser / Mark Ebers (Hrsg.), Organisationstheorien (6. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. S. 427-461.

Schimank, Uwe (2006). „Feindliche Übernahmen“: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft. In: Ders., Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung: Beiträge zur akteurszentrierten Differenzierungstheorie 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 71-83.

Willke, Helmut (2006). Systemtheorie I: Grundlagen (7. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius. 
 
Wobbe, Theresa (2000). Weltgesellschaft. Bielefeld: Transcript.


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