Otto von Bismarck und die Realpolitik


Zum 150. Jubiläum der Reichsgründung


Am 18. Januar 2021 jährte sich der Tag der Gründung des Deutschen Reiches zum 150. Mal. Grund genug, um an dieser Stelle nochmal an die wichtigsten, ungewöhnlich vielfältigen und vielschichtigen politischen Erfolge und Akzente eines der wichtigsten Staatsmänner jener Ära zu erinnern: Reichskanzler Otto von Bismarck.

Die Existenz einer politischen Entität Deutschland wäre ohne das Wirken Bismarcks nicht denkbar. Der „Eiserne Kanzler“ hat maßgeblich dazu beigetragen, die deutsche Einheit und die Gründung des Deutschen Reiches in einer Weise herbeizuführen, die von innerer Stabilität und Ordnung geprägt war, was unter den damaligen Umständen wahrlich keine leichte Aufgabe darstellte.

Wie kaum ein anderer steht Bismarck zugleich für die Einführung der Grundlagen der deutschen Sozialstaatlichkeit: Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung stellten zur damaligen Zeit eine politische Innovation dar, die auf Bismarcks Konto ging. Nicht aus altruistischen Motiven, sondern aus strategischen: Auf diese Weise sollte der Sozialdemokratie die Anhängerschaft abgeworben werden. Was man aber auch von der kühl kalkulierenden Motivlage des Reichskanzlers halten mag: Die Effekte waren nachhaltig. Und sie schufen ein Modell, das in seiner Fortentwicklung bis heute globalen Einfluss entfaltet. Bismarck gelang es in kühner Weise, Kernanliegen von Konservativen und Nationalliberalen, aber eben auch von Sozialdemokraten in wesentlichen Ansätzen zu realisieren und dadurch eine innere Befriedung des neuen Reiches zu schaffen.

Der Schöpfer der „Realpolitik“

So kühl-strategisch und zugleich ausgleichend, wie er diese innenpolitischen Aufgaben anging, so begegnete er auch den (neu entstandenen) außenpolitischen Herausforderungen seines Jahrhunderts. Bismarck gehört mit zu den Pionieren dessen, was man unter „Realpolitik“ versteht. Gelingender Realpolitik.

Das, was die Politikwissenschaft als die „realistische Schule“ der Internationalen Beziehungen (IB) bezeichnet, beschreibt grob gesagt das rein interessengeleitete außenpolitische Handeln von Staaten, welches dem rein wertegeleiteten Handeln der „liberal-idealistischen Schule“ entgegensteht. In der politischen Praxis kommt es diesbezüglich natürlich bei nahezu allen demokratischen Staaten zu Vermischungen, da deren Regierungen – aufgrund etwa von Koalitionen wie auch aufgrund ihrer internen Differenzierungen in verschiedene zuständige Ministerien und Behörden, die unterschiedlich ausgerichtet sind – heterogen sind. So ist es nicht ungewöhnlich, dass Außenministerien traditionell „idealistischere“ Linien fahren als z. B. Verteidigungsministerien. Es obliegt dann den Regierungschefs, hier einen Ausgleich zu schaffen.

Gleichzeitig dient die Wertegebundenheit der Außenpolitik nicht selten als Semantik der Selbstdarstellung, die die eigene Interessenpolitik global anschlussfähig machen soll. Das Zusammenspiel beider IB-Schulen in dieser Form wurde von den USA perfektioniert. Man denke hierbei etwa an die Verfolgung geostrategischer Interessen unter dem Mantel des demokratisch-humanitären Idealismus.

Realismus versus Liberalismus

Die deutschen Bundesregierungen wurden vor dem geschichtlichen Hintergrund Deutschlands und im Gegensatz etwa zum europäischen Partner Frankreich bislang weitaus mehr der sogenannten wertebasierten Politik verpflichtet, wobei die Verfolgung eigener nationaler Interessen nicht selten zurückstehen musste. Die Einbindung in das sogenannte westliche Wertesystem, welches für die USA immer auch eine semantische Technologie zur hegemonialen Praxis darstellte, wurde von diesen gewissermaßen als alternativlos kommuniziert. Daraus resultierten nicht nur mehrere Kriegseinsätze und militärische Interventionen mit fragwürdigem Nutzen für die deutsche Sicherheit, sondern im Übrigen auch Parteinahmen in mehreren internationalen Konflikten von weltpolitischer Bedeutung: Etwa im Russland-Ukraine-Konflikt sowie im Israel-Iran-Konflikt.

In beiden Konflikten führte die vermeintlich so alternativlose Einbindung ins sogenannte „westliche Wertesystem“ dazu, dass Deutschland die Verfolgung seiner nationalen Interessen teilweise gravierend vernachlässigen musste: Die Erschließung neuer, eigentlich vielversprechender Märkte im Iran wurde für die deutsche Wirtschaft durch die Sanktionspolitik nahezu unmöglich gemacht. Gleichzeitig wurde sie auch durch die Sanktionen gegenüber Russland selbst empfindlich getroffen, welche dadurch für das bislang mit Russland wirtschaftlich verhältnismäßig eng verflochtene Deutschland zu einem Schuss ins eigene Knie mutieren.

Interessenpolitik und Souveränität

Der hegemoniale Druck der USA, der in Deutschland als „Einbindung in das westliche Wertesystem“ politisch und moralisch anschlussfähig gemacht werden soll, führt – im Zusammenwirken mit dem ebenfalls wertebasierten Grundsatz von der Bindung an Israel als „Staatsräson“ – demnach zu einer ganz konkreten, quasi mathematisch fassbaren Vernachlässigung eigener Interessen. Anhand von Beispielen wie der deutschen Nahostpolitik und den Russland-Sanktionen wurde oftmals deutlich, wie es um die außenpolitische Souveränität Deutschlands de facto bestellt ist.

Soweit eine Kritik aus der eher konservativen Perspektive einer notwendigen nationalen Interessenverfolgung. Doch selbst aus der eher „linken“ Sichtweise einer konsequenten, globalen Friedenspolitik erscheint die Einbindung deutscher Außenpolitik in das sogenannte westliche Wertesystem nicht weniger problematisch. Denn über eine solche geht ein wichtiges Potenzial Deutschlands, das sich schon allein aus seiner geografischen Position ergibt, verloren: Nämlich das eines Vermittlers zwischen den Konfliktparteien, welcher – gerade auch im Rahmen seiner nicht unbeträchtlichen Wirtschaftsmacht – imstande wäre, äußerst ausgleichend zu agieren, was für Deutschland deutlich angemessener, aber auch gewinnbringender wäre als vermeintlich alternativlose Einbindungen in semantische Werte-Blöcke oder unkritische Bindungen an einzelne Staaten aus Gründen der „Staatsräson“.

Bereits Otto von Bismarck hatte das Potenzial souveräner, interessengeleiteter Politik zu seinen Lebzeiten perfektioniert und als „Eiserner Kanzler“, der vor allem ein „sich eisern beherrschender“ Kanzler war, eine Form der Realpolitik betrieben, die gezeigt hat, wie effektiv die Verfolgung eigener Interessen mit der Herstellung internationaler Stabilität gekoppelt sein kann. Interventionistische bis imperialistische Abenteuer waren mit ihm nicht zu machen. Bismarck hatte das Deutsche Reich stets in einer anderen Rolle gesehen: „Die Vermittlung des Friedens denke ich mir nicht so, daß wir nun bei divergierenden Ansichten den Schiedsrichter spielen und sagen: So soll es sein, und dahinter steht die Macht des Deutschen Reiches, sondern ich denke sie mir bescheidener, ja – (…) – mehr die eines ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zustande bringen will“ (Bismarck in einer Reichstagsrede am 19. Februar 1878).

Interessenpolitik als Friedenspolitik 
 
Realpolitik bedeutet eine effektive Verquickung der Verfolgung nationaler Interessen einerseits und des Wirkens als ehrlicher Makler für die Stabilität internationaler Ordnungssysteme andererseits. Sie vermag nach außen friedenssichernd zu wirken, indem sie ihre machtpolitischen Optionen nutzt, aber auch ihre Grenzen kennt. Zugleich kann sie nach innen ausgleichend wirken, indem sie der eigenen Bevölkerung ihren interessengeleiteten Dienst erweist. Bismarck hat diesen Spagat auf bewundernswerte Weise verwirklicht, was mit ein Grund für seine lange Amtszeit war. Der erste „Kanzler der Einheit“ bietet auch heute noch eine positive Inspirationsquelle für all jene Außenpolitiker, deren Ziel eine realistische, interessengeleitete und souveräne deutsche Politik ist.

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