Mikroaggressionen – Die neue Opfersemantik


Ein Appell an die Mimosengesellschaft

Nach dem Tod von George Floyd und im Zuge der von „Black Lives Matter“ und der Antifa ausgehenden Krawallen in den USA dürfte es nun wieder so weit sein: Die Rassismus-Debatte wird wieder befeuert. Zahlreiche Gruppen und Minderheiten – längst nicht nur die der Afroamerikaner – werden sich sowohl in Nordamerika als auch in Europa wieder bemüßigt fühlen, all ihre vermeintlich erlebten Diskriminierungen zu thematisieren und dafür wahlweise die Weißen, die Männer, die Heteros, die jeweilige nationale Mehrheitsgesellschaft oder – nicht unwahrscheinlich – alles zusammen verantwortlich zu machen. Begleitet werden wird dies durch „Shitstorms“ in sozialen Netzwerken, durch Hashtags, durch „Aktionen“ und „Aktionstage“, durch staatstragend vorgetragene Kommentare in den linksliberalisierten Massenmedien, durch hörige linke Wissenschaftler, die schon jetzt an neuen Studien über „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und derlei mehr arbeiten dürften, um die bunte „Zivilgesellschaft“ in ihrem Kampf für die „Diversität“ zu unterstützen und hierfür die metapolitischen Grundlagen zu schaffen.

Soweit zunächst einmal nichts Neues. Neu, jedenfalls relativ neu, sind jedoch die Dimensionen, die die allgegenwärtigen Klagelieder über „Diskriminierung“, „Rassismus“ etc. mittlerweile annehmen. Ein wichtiges Stichwort in diesen neuen Entwicklungen ist hierbei das der „Mikroaggressionen“ – ein Konzept, das vor allem von den universitären Eliten der linksliberalen US-Ostküste geprägt wurde. Was hat es damit auf sich?

Wie man’s auch dreht und wendet…

Der eigentlich schon ältere, aus der Sozialpsychologie stammende Begriff beschreibt eher kurze Momente der Kommunikation bzw. der Interaktion, in denen eine vermeintliche Abwertung einer Seite erfolgt, die vorzugsweise einer gesellschaftlichen Minderheit angehört. Typisch für Mikroaggressionen sind aus der linksliberalen Sicht heraus vor allem angebliche „subtilere“ Abwertungen, etwa wenn eine Person mit offensichtlichem Migrationshintergrund anerkennend zu hören bekommt, sie spreche aber gut Deutsch.

Das Beispiel macht bereits deutlich, wohin hier die Reise geht: Mikroaggressionen sind demnach ein sehr diffuses Phänomen und ermöglichen es, in so gut wie jede Handlung, jede Kommunikation, jede nonverbale Geste Rassismus oder andere Abwertungen hineinzuinterpretieren, egal, ob derlei vom Sender der Botschaft tatsächlich so intendiert war oder nicht. Ein Weißer sagt zu einer dunkelhäutigen Frau, dass Rasse für ihn keine Rolle spiele? In dem Fall werden deren ethnische Identität bestritten und ihr ihre damit verbundenen Erfahrungen abgesprochen. Er sagt hingegen, dass Rasse für ihn ein entscheidendes Merkmal sei? In diesem Fall wird natürlich implizite Kategorisierung aufgrund der Hautfarbe ausgesprochen, was die Frau auf diese „reduziert“ und daher rassistisch ist. Er thematisiert es einfach gar nicht? In dem Fall wiederum liegt eine Mikroaggression vor, weil der besagte weiße Mann versucht, einen identitätspolitischen Diskurs zu unterdrücken. Er fragt, woher sie ursprünglich stammt? Mikroaggression, da implizite, unausgesprochene Exklusion aus dem Aufenthaltsland. Er fragt nicht danach, sondern erklärt sie für „deutsch“? Mikroaggression, da implizite Assimilation; maskuliner, ethnisch-hegemonialer Kommunikationsstil!

Instrumente der Selbstviktimisierung

Und so weiter und so fort. Die Beispiele ließen sich endlos, mit verschiedensten Randgruppen und verschiedensten Kommunikationsthemen, fortführen. Nur eine Seite bleibt immer gleich: Die des „Aggressors“ – der ist stets weiß, hetero, zumeist männlich und nicht-behindert. Das Konzept ermöglicht es zuverlässig, aus jeglicher Situation heraus eine Diskriminierung zu basteln, welche heutzutage, schreit man nur laut genug auf, ein ebenso zuverlässiger Generator moralischer Autorität ist. Eine bekannte Persiflage dessen bietet das Meme „Der Zentralrat der Fliesentischbesitzer ist empört“: Wer eine formalisierte Moralisierungsinstanz gründen kann, der hat es geschafft. Der beständigen Selbstviktimisierung steht nichts mehr im Wege. Wer Opfer ist, dem wird zugehört; koste es, was es wolle.

Im Mittelpunkt dieser Logik steht abermals der heute übliche psychologische Grundsatz „Mein Gefühl hat immer recht“: Sie fühlen sich diskriminiert? Egal, wie begründet dieser Eindruck sachlich betrachtet sein mag? Egal – Sie sind im Recht, wenn Sie dabei nur einer gesellschaftlichen Minderheit angehören. Solange Sie kein Vertreter der (vermeintlich) herrschenden Mehrheit sind, haben Sie grundsätzlich das Recht, sich über alles zu empören.

Nur allzu gern aufgegriffen wird derlei freilich von einem Personenkreis, der Aufmerksamkeit sucht – und dabei gar nicht merkt, wie er das, was er der schweigenden Mehrheit vorwirft, dadurch mittelbar wieder selbst forciert. Anders gesagt: Wer sich in seiner Kommunikation ständig selbst zum Opfer macht, wer sein eigenes Anderssein ständig wieder neu kommuniziert (und dies dann auch noch anklagend und larmoyant), der wird ganz automatisch auch immer mehr darauf reduziert werden, weil die soziale Umwelt irgendwann eben jene Thematik mit ihm oder ihr assoziativ verknüpft. Begleitet wird dieser Teufelskreis nicht selten von einer ausgemachten Mimosenhaftigkeit, im Zuge derer jeder flapsige Spruch eines Senioren an der Supermarktkasse sofort zu einem massiven Drama aufgebauscht wird. Doch anstatt zu versuchen, dazu eine lässige, dickfellige Haltung zu entwickeln, wie es schon allein aus Gründen der psychischen Gesundheit geboten wäre, richtet man den anklagenden Zeigefinger auf die vermeintlich „latent“ und „strukturell“ rassistische / ableistische / heteronormative (etc.) Gesellschaft, die einen tagtäglich wieder neu mikroattackiert.

Eine persönliche Empfehlung

Dabei kann das Leben so entspannt sein, wenn man es anders macht. Ein paar persönliche Bemerkungen in diesem Kontext: Der Autor dieser Zeilen erlebt als (recht aktiver) Rollstuhlfahrer mindestens wöchentlich Situationen, die die liberale US-Ostküste wohl zumindest zu einem hohen Anteil als „mikroaggressiv“ titulieren würde. Beginnend bei Mülltonnen, die den Bürgersteig versperren, über nicht barrierefreie Zugänge und öffentlichen Fernverkehr, institutionelle Unflexibilitäten, neugierige Nachfragen und Blicke, einen manchmal ungefragt und plötzlich schiebende Leute, im Weg stehende Menschen, starrende Kinder, teils mitleidige Blicke oder Sätze, durchaus (zu 99 % nicht böse gemeinte) Vorurteile (z. B. von Leuten, die glauben, als Rollstuhlfahrer müsse man zwingend den ganzen Tag depressiv zuhause sitzen), manchmal auch allzu intime Nachfragen.

Ja – manches findet man dumm oder auch nervig. Wirklich ärgerlich macht es mich jedoch höchst selten. Die meisten Erfahrungen finde ich amüsant und / oder soziologisch spannend, oder ich nehme sie kaum noch zur Kenntnis und vergesse sie nach ein paar Minuten wieder, weil mir meine Zeit und meine Nerven zu kostbar sind, mich noch länger damit auseinanderzusetzen. Doch oft frage ich mich wieder: Was für ein Nervenbündel muss man eigentlich sein, um derlei zum Anlass zu nehmen, deswegen ganze klageliedartige Bücher zu veröffentlichen, Kulturkämpfe auszurufen, absurdeste „wissenschaftliche“ Nischen-Ansätze zu konstruieren („Critical Whiteness“ etc.) und mehr? 

Hat man sich dagegen beigebracht, im richtigen Moment einfach mit den Schultern zu zucken, zu lächeln, abzuwinken und mit dem weiterzumachen, was man zuvor getan hat, kann vieles so harmlos sein. Liebe Opfergemeinde der Mikroaggressionen: Ihr glaubt gar nicht, wie zufrieden ihr durchs Leben gehen (oder *rollen) werdet, wenn ihr an eurer inneren Stärke, eurer Charakterfestigkeit und eurem Selbstbewusstsein arbeitet, anstatt immer nur auf andere zu zeigen und auf ein Mitleid zu hoffen, das ihr dann im nächsten Moment ohnehin wieder melodramatisch als die nächste Mikroaggression abtun würdet. Wer sich aus sich selbst heraus definiert anstatt immer nur aus den Fremdbeschreibungen anderer, erlangt eine innere Kraft, die niemand kleinkriegt.

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