Unitarischer Glaube in Seuchenzeiten

Viren, Bakterien und Tumore als Elemente des Göttlichen?

In Zeiten wie diesen, in Zeiten großer, mitunter globaler Krisen und Katastrophen, wie aber auch in Zeiten ganz persönlicher Krisen, ist es für Menschen zugleich am schwersten und doch am nötigsten und am tröstlichsten, sich dem Glauben und der Religiosität zuzuwenden. Wo das Leben in seinen grundlegendsten Festen erschüttert wird, wo Menschen um ihr physisches Wohl, um ihr Leben und ihre Gesundheit, mindestens aber um ihr materielles Auskommen fürchten, da wendet man sich eher wieder an Gott und jene religiösen Organisationen, die für sich in Anspruch nehmen, zu wissen, was im Sinne Gottes ist, was Gott tröstliches sagen würde, die dem, was ist, einem Sinn verleihen. In den Kirchen, in den monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam insgesamt, sind in derlei Momenten Gleichnisse von „Prüfungen“ beliebt, die man bestehen müsse, um sich für das himmlische Jenseits zu bewähren. Doch wie verhält es sich mit dem deutsch-unitarischen Glauben, mit Naturreligion in Zeiten einer globalen Seuche?

Religion des Lebens

Wir Unitarier können nicht einfach auf Erlösung hoffen. Wir können nicht auf ein paradiesisches Jenseits schauen und uns gegenseitig tröstend versichern, dass spätestens dort „alles besser“ sein wird. Dass wir bis dahin nur genug diesseitiges Leid durchhalten, nur genug Prüfungen bestehen, nur genug Sünden vermeiden, nur fromm genug leben müssen, um irgendwann zum ewigen Glück an der Seite eines liebenden, väterlichen, aber eben allzu oft auch strafenden Gottes zu gelangen. 

Unitarismus ist keine Erlösungsreligion. Unitarismus ist eine Religion des Lebens, der Herausforderungen des Lebens, ja des Lebenskampfes. Wir fühlen uns dem Göttlichen dort nah, wo wir sind; nicht dort, wo wir hoffen, irgendwann zu sein. Wir suchen unser Glück und das Glück anderer im Hier und Jetzt, weil wir glauben, dass eben das heilig ist – dass das, was wir um uns herum sehen, hören, fühlen, spüren, heilig ist; dass das Leben selbst göttlich ist. Als Unitarier sehen wir uns eingebettet in eine göttliche All-Einheit, die alles Natürliche und alles Lebende umfasst: Menschheit, Tierwelt, Pflanzenwelt, und alles, was zu diesen gehört. Wir leben im Göttlichen, wir fühlen und spüren das Göttliche, wir sind das Göttliche.

Das birgt, gerade in diesen Zeiten, wichtige Prämissen in sich, die einen zunächst einmal aufschrecken lassen. Denn wo alles Leben und wo alle Natur göttlich ist, da sind es auch Viren, Bakterien, ja sogar bösartige Tumore als Teile eben dieses Lebens! Viren, Bakterien und Krebs als Elemente Gottes? Wie kann das sein? Allenfalls eine Strafe Gottes, mag da der über Jahrhunderte christlich indoktrinierte Verstand sagen! Etwas, was „des Teufels“ ist, was über die Menschen kommt wie eine Plage, was das Böse, das Sündige, das Schuldhafte in sich trägt und bestraft.

An Herausforderungen wachsen

Doch, nein – diese Antwort greift uns zu kurz, ja ist uns gar zu naiv, zu untertänig, zu schicksalhaft-ergeben. Wir sagen: All diese Menschheitsgeißeln und Plagen, sie sind ein Teil von uns, der mit uns kommt, mit uns geht, uns auf unseren Wegen herausfordert und zu höchsten Leistungen antreibt! Wo wäre die Menschheit, hätte sie sich niemals den Herausforderungen von Seuchen, Krankheiten und physischem Martyrium stellen müssen? Wo wäre sie, wenn ihre Naturwissenschaften niemals von all jenen Plagen herausgefordert worden wären und diesen Kampf aufgenommen hätten, der ihr großen Fortschritt beschert hat? Wo wären viele unserer größten Köpfe, unserer stärksten Charaktere, hätten sie niemals den mentalen und oft auch körperlichen Stählungsprozess gesundheitlichen Leids durchlaufen? Man denke an Nietzsche, an Stephen Hawking und viele andere, deren Namen noch in den Geschichtsbüchern leuchten werden, wenn die Corona-Krise längst Geschichte ist!

Erst der, der Leid erfahren und durchlebt hat – sei es nun physischer oder auch psychischer Natur –, der weiß zu schätzen, wofür er und andere leben, der entwickelt sich charakterlich, der wächst mit den Herausforderungen, die er bewältigt hat. Eben jener Lebenskampf ist es, der uns – so abgedroschen das klingen mag – zu dem gemacht hat, was wir sind. Und an eben diesem werden wir weiter wachsen; gestern, heute und morgen. Dies gilt für einzelne Personen ganz genauso wie für ganze Völker, ganze Kulturen. Und dies ist sie, eben jene Erkenntnis, die der unitarische Glaube all jenen Religionen voraus hat, die Erlösung vom passiv ertragenen Leid predigen, anstatt dessen entschlossene Bekämpfung und Bewältigung.

Was ist der Tod?

Aber manchmal verlieren wir diesen Kampf trotzdem, mag nun manch einer einwenden – manchmal müssen wir uns den Gewalten, die die so winzigen Viren und Bakterien für uns mitunter darstellen, oder der Heimtücke, die ein Tumor repräsentiert, irgendwann ergeben. Manchmal führen Krankheiten unweigerlich zum Tod, so sehr man auch gekämpft hat.

Doch auch hier vermögen all jene, die an die Göttlichkeit der All-Einheit glauben, einzuwenden: Was ist denn der Tod anderes als der stetige Übergang von Daseinsformen in einer immer lebendigen Natur? Das Ende unserer menschlichen Existenz, das der Tod verkörpert, ist niemals das Ende der Existenz des Göttlichen – und damit auch niemals ein komplettes, vollumfängliches, universelles Ende. Unser Bewusstsein, wie wir es jetzt kennen, mag enden, doch das Leben, in das wir eingebunden sind, endet nie. Viren, Bakterien und Tumore sind insofern tatsächlich ebenfalls Elemente des Göttlichen, ja vielleicht sogar „Vollstrecker“ – doch sie sind Vollstrecker eines Übergangs, nicht eines Verlustes, so sehr uns ihre Vollstreckungen oft schmerzen und quälen.

Und auch kulturell und gesellschaftlich sind sie Vollstrecker eines Übergangs. Seuchen und Epidemien, ja erst recht globale Pandemien sind – diese Zeilen schreibe ich ohne jeden Zynismus – Botschaften des Göttlichen, die uns Lektionen unseres Lebens übermitteln. Was ist denn die Corona-Krise anderes als eine gewaltige Lektion planetaren Ausmaßes über die Gefahren einer globalisierten, hektischen und hyperbeschleunigten Welt, die keine Grenzen mehr kennt, die sich überdehnt, die auch wichtige Strukturen ihrer Gesundheitssysteme dem Sparzwang und ökonomischen Erwägungen geopfert hat? Was ist die Corona-Krise anderes als die Botschaft, dass wir wieder Rücksicht auf andere und gemeinschaftliche Solidarität lernen müssen, dass wir lernen müssen, innezuhalten, Einkehr zu halten, bewusst und reflektiert, ja auch ökologisch zu leben? Schauen wir genau hin – und schon sehen wir dutzende Lektionen, die uns diese winzigen und doch so gefährlichen Elemente des Göttlichen da übermitteln.

„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“

Es ist die Stärke eben jenes unitarischen Glaubens, dass er es uns ermöglicht, dies zu erkennen, anstatt uns passives Leiden und ein Leben in gottesfürchtiger Angst aufzubürden, angesichts der Krise wieder das Schauermärchen vom irdischen Jammertal bestätigt sehen zu müssen. Wir wissen: Egal, wie es ausgeht – für uns selbst, für unser Volk, für die Menschheit: Wir stehen das gemeinsam durch. Und am Ende werden wir stärker sein als zuvor.

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