Ausnahmezustand: Die Rückkehr des Politischen


Über die gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise

Liebe Leser! Auch auf die Gefahr hin, dass Sie weitere Beiträge zum bösen C-Wort langsam nicht mehr sehen können: Es gibt inzwischen allerhand dazu zu sagen, denn die Implikationen der Krise, als wie berechtigt man die Ängste und die Maßnahmen dazu auch ansehen mag, sind nun einmal gewaltig. Für Soziologen wie den Autor dieser Zeilen stellt sich unsere Welt derzeit wie ein einziges großes Forschungsobjekt dar, denn wir erleben derzeit eine Gesellschaft im Umbruch. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass 2020 einst in einer Reihe stehen wird mit Zäsuren wie 1945, 1968, 1989 und 2001. Auch soziologische Laien spüren längst: Es ändert sich gerade gewaltig etwas in unserer bequem, ja dekadent gewordenen Wohlstandsgesellschaft. Zwar weiß noch keiner so genau, was da gerade passiert und was sich da verändert, aber dass es geschieht – daran hat kaum jemand noch Zweifel. Über die (sozialen, nicht medizinischen) Ursachen der Krise, die vor allem im Komplex der Globalisierung und der daraus generierten Weltrisikogesellschaft (Ulrich Beck) zu verorten sind, haben wir bereits an anderer Stelle geschrieben, weswegen wir dazu hier nicht mehr allzu viele Worte verlieren wollen. Anstatt der Vergangenheit widmen wir uns an dieser Stelle nun der Gegenwart – und der Zukunft. Was passiert um uns herum eigentlich gerade?

Die (post-)moderne Gesellschaft

Einmal mehr tauchen wir zum Zwecke der Analyse ein in die wohlig-nüchternen Sphären der soziologischen Theorie, die uns in diesen coronafiebrig-hitzigen, hysterischen Zeiten stets etwas abzukühlen imstande sind und Ordnung in das Chaos zu bringen vermögen. Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann liefert, wie auch immer man in normativem Sinne zu ihr stehen mag, eine gültige Diagnose der modernen Gesellschaftsstruktur bis ins Jahr 2020 hinein. Luhmanns Theorie stützt sich auf die These der funktional differenzierten Gesellschaft, welche, im Gegensatz zur (segmentär differenzierten) Stammesgesellschaft und zur (stratifizierten) Ständegesellschaft eine Struktur hat, die nicht mehr länger als hierarchisch oder auch nur als organisiert bezeichnet werden kann. 

Inzwischen gilt: Es steht weder ein bestimmter Stand über allem noch ein bestimmtes System. Das Primat der Religion, das im europäischen Mittelalter zu beobachten war, gibt es ebenso wenig wie eines der Politik. Einher geht diese Entwicklung mit einer hochausdifferenzierten Arbeitsteilung, die in Spezialisierung und, in heutigen Zeiten, buchstäblich in „Fachidiotentum“ mündet. Die Gesellschaft spaltet sich auf in gleichberechtigte, miteinander wetteifernde Funktionssysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Massenmedien, Sport, Erziehung, Religion und Gesundheit. Keines dieser Systeme steht über dem anderen; selbst die Politik hat nun mehr nur noch eine „regulierende“, „ordnende“ Funktion inne, aber keine herrschende oder steuernde. Nicht umsonst wird der (oft auch normativ verstandenen) Systemtheorie aus diesem Grunde eine Art neoliberaler Charakterzug unterstellt: Wo die Politik eine derart zurückgedrängte, reduzierte Funktion hat, wo Steuerungsmöglichkeiten im Großen und Ganzen verneint werden, da operiert eben auch die Wirtschaft autonom, kann die Politik ebenso beeinflussen wie die Politik sie. Eine Diagnose, die man angesichts der Folgen einer anderen großen, globalen Krise unserer Zeit, der Finanzkrise ab 2007, schwerlich als falsch bezeichnen kann – aber eben nicht als wünschenswert.

Luhmann sollte insofern auch als Diagnostiker gelesen werden, nicht als politischer Theoretiker. Konservative, die den heute umso mehr aktuellen Diagnosen eines anderen großen Differenzierungstheoretikers, nämlich Carl Schmitt, etwas abgewinnen können, müssen folglich zwar die Diagnosen Luhmanns anerkennen können, sollten demgegenüber aber nicht dessen normative Schlussfolgerungen dazu teilen. Nach Luhmann ist die funktional differenzierte Gesellschaft ein quasi unausweichliches Produkt stetiger gesellschaftlicher Evolution; eine soziale Ordnung, die sich aufgrund der modernen Erfordernisse durchgesetzt hat, wie die Arbeitsteilung in der industrialisierten Wirtschaft, und die deswegen gewissermaßen die beste und effektivste Antwort auf die komplexen Erfordernisse der Moderne darstelle. Auch wenn Luhmann es in seinen Werken nie „laut“ sagte und er es auf entsprechende Nachfrage hin vermutlich bestritten hätte: Recht häufig klingt bei ihm an, dass er die komplexitätsgesteigerte funktional differenzierte Gesellschaft für die beste Gesellschaftsform hält.

Das Primat des Politischen kehrt zurück

Andere Zeiten, andere Konklusionen: Das differenzierungstheoretische Gegenmodell lieferte Carl Schmitt (noch Jahrzehnte vor Luhmann), der – wenn auch ohne von „Systemen“ zu sprechen – ebenfalls von gesellschaftlichen Teilbereichen wie dem Politischen, dem Ökonomischen, dem Ästhetischen etc. ausging und diesen, wie auch später Luhmann, binäre Leitunterscheidungen zuschrieb: Das Politische ist laut Schmitt dadurch politisch, dass es das, was es wahrnimmt, nach Freund und Feind unterscheidet; das Ästhetische unterscheidet zwischen schön und hässlich usw. Anders als Luhmann sah Schmitt das nicht-hierarchische Verhältnis zwischen jenen Sphären kritisch, im Sinne einer Entpolitisierung, was ihn konsequenterweise zum Liberalismus-Kritiker machte. 

Liberalismus-Kritik war jedoch nur eine Facette des umfassenden Werkes des konservativen Staatsrechtlers. Kennzeichnend für Schmitts (eher rechtswissenschaftlich und weniger soziologisch inspirierte) Staatstheorie war nun das besondere Interesse für den Ausnahmezustand: Das berühmte Schmitt-Bonmot „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ machte deutlich, dass eben jener Zustand die Rückkehr, ja die erneute hierarchisch hervorgehobene Stellung, anders gesagt: das Primat des Politischen markiert. Im Ausnahmezustand verdrängt die politische Leitunterscheidung alle anderen Unterscheidungen. Konkreter und an einem Beispiel gesprochen: Befindet sich ein Staat im Krieg, so dominiert dieser sämtliche anderen gesellschaftlichen Sphären. Der Sieg, oder zumindest das Überleben ist wichtiger als die Schönheit oder Hässlichkeit eines Gemäldes. Die Wirtschaft ist nur noch insoweit wichtig, als dass sie den Rüstungserfordernissen dient; Luxusgüter stehen hinten an. Und so weiter. Nun, entdecken Sie bereits gewisse Parallelen?

In der Tat: Auch der Seuchenfall ist natürlich ein Ausnahmezustand par excellence, mit allem, was auch staats- und gesellschaftstheoretisch dazugehört. Was sich viele im bisherigen postmodernen Zeitalter des Radikalindividualismus, der Spaß- und Konsumgesellschaft, der offenen Grenzen und des „Alles muss für jeden immer und überall möglich sein“ kaum noch vorstellen konnten, ist eingetreten: Mitten in der liberalen Demokratie herrschen plötzlich (sogar sehr gravierende) Freiheitseinschränkungen und Grundrechtseinschnitte. Grenzen schließen sich, es herrschen (mal offizielle; mal inoffizielle, aber „faktische“) Ausgangssperren und Kontaktverbote. Geschäfte für „Luxusgüter“ (also solche, die gesellschaftlich nicht unbedingt notwendig sind) werden über Wochen hinweg geschlossen, die Wirtschaft wird auf das Nötigste beschränkt. So wie in Kriegszeiten alle möglichen, eigentlich militärfernen Wirtschaftszweige auf rüstungsindustrielle Produktion umgestellt werden, produzieren nun Unternehmen, die ursprünglich gar nicht mit Gesundheitsartikeln assoziiert werden, Produkte, die für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems unerlässlich sind. Die Bundeskanzlerin formuliert in ihrer Rede an die Nation, wir stünden vor der größten Herausforderung für unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg.

Merkels drastische Äußerung ist insofern nicht übertrieben, als dass die Corona-Krise mit diesem eine große Parallele hat, die selbst die Zäsuren von 1968, von 1989 und von 2001 nicht aufbieten konnten: Sie betrifft wahrlich jeden, irgendwie. Keiner kann sich ihr mehr entziehen. Den Studentenprotesten der 68er und ihren Inhalten musste man keine Beachtung schenken. Der deutschen Einheit zumindest in Westdeutschland ebenso wenig – am „eigenen Leib“ spürte man die Veränderung primär über das Steuerrecht. 9/11 manifestierte sich in zeitweiligen, aber für die große Mehrheit wenig konkreten Ängsten; mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr hatte Otto Normalverbraucher nicht wirklich etwas zu tun und auch die überwachungsausbauenden Anti-Terror-Gesetze „spürte“ man nie wirklich selbst. 

Erheblich anders nun bei Corona: Vom WC-Papier bis hin zu privaten Freizeitaktivitäten, vom regelmäßigen Gang zum Friseur bis hin zu der zuvor hoch banalen Frage, was man in einem öffentlichen Verkehrsmittel berührt und ob man sich danach ins Gesicht fasst, neben wem man in welchem Abstand sitzt oder wer wann wo wie stark hustet – die Krise ist ganz nah an uns dran und prägt unser Leben. Im Bundestag wirkt sie sich auf nahezu allen Politikfeldern und in allen Ausschüssen aus. Selbstständige und Unternehmer werden in teils existenzielle persönliche Krisen gestürzt; der psychische Zustand selbst von Normalbürgern ist angesichts der erzwungenen Stubenhocker-Existenz zunehmend labil. Menschen werden zunehmend neurotisch und neigen zu hypochondrischen Charakterzügen. Die Krise ist „totalitär“ – und sie zeigt auf, dass auch liberale Demokratien durchaus imstande sind, das Primat des Politischen wiederherzustellen, wenn der Ausnahmezustand es gebietet. Corona hat es geschafft: Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur wurde, wenn nicht vollends außer Kraft gesetzt, so doch zumindest stark hierarchisiert und unter ein Primat des Politischen gestellt – zumindest zeitweilig.

Was bringt die Zukunft?

Lange schon kennen Demoskopen den Effekt, der sich stets bei größeren Krisen zeigt, und der sich auch in diesen Tagen abermals deutlich manifestiert: Die Menschen neigen wieder dazu, die Regierenden zu stützen. In Zeiten der Angst, der (scheinbar) existenziellen Bedrohung strebt man nach Muttis Rockzipfel: CDU/CSU steigen in den Umfragewerten auf bislang kaum noch erwartete Höhen; die kleineren Oppositionsparteien (AfD, FDP, Linke) verlieren spürbar an Zustimmung. Diese haben letztlich nur die Wahl, die Regierungspolitik staatstragend-zustimmend zu begleiten (was nicht hilft, da das Original immer mehr profitiert als die Kopie) oder als zeternd-emotionalisierter Meckerfritze rezipiert zu werden (was aber dem Sicherheitsbedürfnis verängstigter Menschen entgegensteht). Als Oppositionspartei kann man in solchen Zeiten so gut wie nicht gewinnen – zumindest solange, bis die Regierung offensichtlich etwas gravierend falsch macht.

In der akuten Krise streben die Menschen, wie schon infolge anderer Katastrophen, nach Sicherheit: Keine Experimente! Doch, Achtung: Auch wenn uns die Corona-Krise selbst gewiss noch einige Monate lang begleiten wird; sie wird enden – und durch eine ganz andere Krise ersetzt werden, die vermutlich noch weitaus tiefgreifender wirken wird. Die aktuellen Maßnahmen, aber auch das weltwirtschaftliche Wetterleuchten, das bereits davor zu beobachten war, werden einschneidende Folgen für unsere Wirtschaft haben, und die internationalen Kettenreaktionen, die aus den noch dramatischeren Situationen in den mediterranen Staaten resultieren, werden ebenfalls nicht auf sich warten lassen. Spätestens ab diesem Moment wird die existenzielle Angst der Bevölkerung durch (oft nicht minder existenzielle) Wut ersetzt werden: Die Zustimmung für die Regierenden wird schwinden; die Opposition wird profitieren. Konservative Kräfte sollten für diese Zeit programmatisch gerüstet sein.

Generell jedoch haben, und dies ist das explizit soziologisch Spannende an diesen Zeiten, all diese drastischen Entwicklungen schon jetzt eben nicht nur politische und (sozio-)ökonomische, sondern eben auch massive gesellschaftliche Folgen. Wir spüren – bedingt durch den Ausnahmezustand und auch in der Zeit danach – eine Rückkehr des Politischen. Genauer gesagt: Eine Rückkehr des originär politischen Akteurs, nämlich des Nationalstaates. Es dominiert wieder das nationale Interesse, und es ist der Nationalstaat (und nicht übergeordnete supranationale Einrichtungen wie die EU), der das Zepter des Handels in die Hand nimmt, und die Menschen spüren – nach Jahren der hyperindividualisierten „Ich kann alles schaffen, was ich will, und bin mir selbst der nächste“-Dekadenz –, wie sehr sie ihn im Notfall dann doch wieder brauchen. 

Hoffnungsvoll stimmen auch die zahlreichen Anzeichen für einen neuen Zusammenhalt. Wir erleben ein Revival der Solidargemeinschaft: Es ist von Nachbarschaftshilfe die Rede; davon, unsere älteren Mitbürger vor den aktuellen Gefahren zu schützen. Wir erleben ein neues gesellschaftliches Miteinander, das nicht nur die Rückkehr des Nationalstaates, sondern sogar die Rückkehr des Volkes (anstatt: der „Bevölkerung“) bedeuten kann, da man intuitiv die Notwendigkeit der vor kurzem noch ach so antiquierten kollektiven Identitäten erfasst. Die allgemein erwartete physische Distanzierung führt zu einer neuen Wertschätzung zwischenmenschlicher Bindungen: Zum Partner, zur Familie, zu Freunden. Das öffentliche Leben im hyperschnell gewordenen, globalisierten und entgrenzten Spätkapitalismus wird mit einem Mal urplötzlich entschleunigt: Wir werden gezwungen zum Innehalten, zur Besinnung, zum In-uns-gehen. Zugleich bekommen wir wieder ein Gespür dafür, wie es ist, Not zu leiden, existenzielle Sorgen zu haben. Das macht uns – mehrheitlich; Ausnahmen gibt es immer – solidarischer, nachdenklicher, demütiger, weniger oberflächlich und weniger materialistisch.

Trotz der einschneidenden gesundheitlichen und ökonomischen Folgen der Krise gilt: Es ist durchaus möglich, langfristig gesehen auch positive Aspekte in ihr zu entdecken. Es ist die falsche Zeit für apokalyptischen Kulturpessimismus – der aber leider nicht zuletzt im konservativen Spektrum allzu beliebt ist und dann wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt, indem er positive Ansätze zur konservativen Umgestaltung der Gesellschaft paralysiert. Dieser Versuchung sollten wir nicht erliegen, sondern lieber die Möglichkeiten nutzen, einige Dinge künftig grundlegend anders zu handhaben.

Die Krise als Chance

Noch ist nicht abzusehen, wohin uns diese Reise, die mit der Corona-Krise erst ihren Anfang nimmt, führen wird. Es gibt jedoch durchaus Anzeichen dafür, dass mit ihr und infolge einer gesellschaftlich noch anstehenden, schonungslosen Ursachenanalyse, die die Negativfolgen der globalisierten und grenzenlosen Postmoderne auf den Tisch bringt, unsere Gesellschaft einen Weg einschlagen könnte, der zum Wert kollektiver Identitäten, zur Nationalstaatlichkeit und zur Solidargemeinschaft zurückführt. Jede Krise, so schlimm und so übel sie auch immer sein mag, birgt auch stets die Chance zu etwas Besserem in sich. Nutzen wir sie. Ohne Angst – aber dafür mit Mut, Tatkraft und viel Optimismus im Herzen.

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