Zur Mär von der „Behindertenfeindlichkeit“ der AfD
Eine Kritik der schulischen Inklusion
Als der Autor dieser Zeilen 2016 im Rahmen
einer Inklusionsforscher-Tagung einen kritischen Vortrag zur schulischen
Inklusion hielt, ließen die empörten Reaktionen einiger linksgerichteter
Zuhörer (also anderer „Forscher“) nicht lange auf sich warten. Im Anschluss daran entschloss ich mich, meine Kritik nochmal
schriftlich auszuarbeiten, und veröffentlichte 2017 einen soziologischen Fachartikel zur schulischen Inklusion im Tagungsband der Konferenz. Die folgenden Argumente basieren lose auf den darin enthaltenen Thesen.
Das neue Narrativ, das aus der
UN-Behindertenrechtskonvention hervorgeht, ist das der „Teilhabe“. Dieses ist
in vielerlei Lebensbereichen auch notwendig: Man denke hier etwa an den
Nachholbedarf in Sachen architektonischer Barrierefreiheit, den mobilitätseingeschränkte
Menschen immer wieder zu spüren bekommen. Das Problem beginnt dort, wo es in
Deutschland so häufig beginnt, nämlich da, wo aus dem im Grundsätzlichen
erstrebenswerten Ziel eine Art kollektive Zwangsneurose wird, die dazu führt,
dass manche politische Akteure aus der Zielsetzung ein Dogma machen, das auf
ausnahmslose alle Lebensbereiche und kleinste soziale Einheiten ausgedehnt
werden soll – bis hin zu Schulklassen. In so manchen Fällen auch nicht ohne
weiterführende politische Hintergedanken: So ist die schulische Inklusion eben
auch ein praktischer Schritt der linken Parteien auf dem Weg dahin, endlich das
verhasste dreigliedrige Schulsystem zu beseitigen und durch die Einheitsschule
für alle – das rot-rot-grüne Prestigeprojekt – zu ersetzen (welche am Ende
freilich darin münden würde, dass die Kinder der Eliten Privatschulen besuchen – also nur sozial ungleichheitsverstärkend
wirken würde).
Die gerade in Deutschland über
viele Jahrzehnte hinweg bewährten Förderschulen, die sich um die Förderung
behinderter Schüler verdient gemacht haben, werden im Zuge dieses Prozesses
Schritt für Schritt eliminiert. Es kommt zu einem gefährlichen Aktionismus, der
nicht nur die Situation der Kommunen, sondern auch das Gebot missachtet,
angesichts der Vielfältigkeit und extremen Heterogenität des Komplexes
„Behinderung“ besonnen und ohne falsche Hast vorzugehen. Lehrer werden ohne
genügend Fortbildungsangebote und Standards für Klassengrößen vor vollendete
Tatsachen gestellt, Kommunen bei der Umsetzung, die sie in vielen Bereichen
maßgeblich mit verantworten müssen, im Regen stehen gelassen.
Fatale Konsequenzen für die psychische Entwicklung
Die individuellen Konsequenzen
für Schüler mit Behinderung können dabei fatal sein. Nicht nur, dass das
Schließen von Förderschulen im ländlichen Raum zu plötzlichen
Erreichbarkeitsproblemen aufgrund zu hoher Entfernungen führen kann. Zugleich
wird die individuelle Situation der Betroffenen nicht in ausreichendem Maße
berücksichtigt, wenn diese in eine altersmäßig verfrühte Gleichmacherei-Anstalt
gezwungen werden, die in diesem Stadium der Persönlichkeitsentwicklung eher
schadet als nützt.
So ist zwar jede Klasse bzw.
Gruppe anders und der in ihr vorhandene Grad an Harmonie und „guter Chemie“
steht und fällt mit der Dynamik, die wiederum von zahlreichen Faktoren (Person
des Lehrers, Alter der Schüler, Ort der Schule etc.) abhängt. Dennoch sollte
nicht vergessen werden, welch fatale Wirkung es auf einen jungen Menschen haben
kann, wenn dieser innerhalb einer Gruppe, in der er sich – wie jeder, behindert
oder nicht-behindert – fortlaufend mit dem Rest vergleicht und daraus sein
Selbstwertgefühl und seine soziale Identität ableitet, immer und immer wieder
eigene körperliche und / oder geistige Einschränkungen vorgeführt bekommt,
unter denen andere nicht zu leiden haben.
Leistungen, die für den Maßstab
des Betroffenen Erfolge wären, werden somit durch den sozialen Vergleich zu
Misserfolgen degradiert, denn Erfolgswahrnehmung ergibt sich immer aus der
Abgrenzung zu anderen und deren Erfolgen oder Misserfolgen bei der jeweils
gleichen Aufgabe oder Herausforderung. Plastischer ausgedrückt: Wenn der
geistig behinderte Schüler A in der Gruppe feststellt, dass die
nicht-behinderten Mitschüler B, C und D dauerhaft komplexere Aufgaben zu lösen
vermögen als er, dann spielt es für A keine Rolle mehr, dass seine eigenen
Aufgabenlösungen für seine Verhältnisse ein großer Erfolg waren. Erst der
Vergleich mit den anderen generiert die Erfolgs- und die Selbstwahrnehmung und
daher auch das Selbstwertgefühl. Und dieses wird in diesem Falle unvermeidlich
leiden.
Selbst, wenn die anderen der
Gruppe sich im besten Willen alle aufrichtige Mühe geben, den Betreffenden zu
akzeptieren und ihm offen und integrativ (inklusiv?) entgegenzutreten, so wird
er oder sie, sofern es kein fachliches oder soziales „Kompensationsfeld“ gibt,
darunter langfristig psychisch zu leiden haben. Wohin dies, zusätzlich zu einer
Behinderung, gerade bei jungen, womöglich sich in der Pubertät befindenden
Menschen führen kann, muss hier wohl nicht weiter ausgeführt werden.
Auch Experten sehen schulische Inklusion kritisch
Der obige Hinweis auf die Frage
nach dem Kompensationsfeld ist bei der individuellen Entscheidung über den
Bildungsweg eines Schülers mit Behinderung von hoher Relevanz. So hat ein
lediglich körperlich behinderter Schüler sicherlich eher die Möglichkeit, seine
rein physische Einschränkung mit Leistungen auf anderen Gebieten (ob nun
fachlich oder auch sozial, innerhalb der Gruppe) zu kompensieren, dadurch auch
persönliche Erfolge zu erleben und somit zu einer stabilen
Persönlichkeitsentwicklung zu kommen, die sich durch eine sichere Identität und
Selbstbewusstsein auszeichnet. Im Falle einer geistigen oder gar einer Mehrfach-Behinderung
jedoch liegt in nicht wenigen Fällen eine gänzlich andere Situation vor, die
aus den oben dargelegten Gründen endlich Berücksichtigung finden sollte.
Wenn sich die AfD vor dem
Hintergrund dieser komplexen sozialpsychologischen Dynamiken gegen die
schulische Inklusion ausspricht, so ist dies eben mitnichten
„behindertenfeindlich“, sondern das genaue Gegenteil. Es geht eben nicht nur um
den Schutz der nicht-behinderten Mitschüler wie der Lehrer von Regelklassen und
–schulen, die davor bewahrt werden sollten, durch aktionistische
Inklusionsexperimente überfordert (und im Falle der Mitschüler: in ihren
Leistungen gebremst) zu werden, sondern nicht zuletzt auch um das Wohl der
Schüler mit Behinderung selbst. Dass dies nicht nur irgendeine politische Privatmeinung
ist, sondern auch ernstzunehmende Wissenschaftler zuweilen ihre Zweifel am
Dogma der schulischen Inklusion haben, macht ein Zitat des bekannten
Inklusionsexperten und Soziologen Rudolf Stichweh deutlich, seines Zeichens
Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Direktor
des dortigen Forums Internationale Wissenschaft:
„Ob dafür das Personal zur
Verfügung steht, ist offen, und dies definiert eine anspruchsvolle und extrem
kostspielige Bedingung des Erfolgs. Wenn diese
Bedingung nicht erfüllt werden kann, ist die Möglichkeit nicht auszuschliessen,
dass individuelle Förderbedarfe weit weniger kommunikativ berücksichtigt werden
als dies in Sonder-/Förderschulen der Fall ist. Und dann droht im ungünstigsten
Fall die integrierte Klasse, die die inkludierende Exklusion der Sonderschulen
ersetzt, zu einem Ort der exkludierenden Inklusion zu werden, an dem das
formale Moment der Inklusion in ein und dieselbe Klasse faktisch durch
zunehmende Exklusion überlagert wird, weil die Abstände innerhalb der Klasse
von Jahr zu Jahr grösser werden und dann beim Übergang zur Sekundarschule das
Schulsystem erneut auf Sonderschulen zurückgreifen muss, die dann
möglicherweise unter ungünstigeren Bedingungen starten, als dies vor der
Behindertenrechtskonvention der Fall war“ (Stichweh 2013: 9).
Konservative denken differenzierter
Der Denkfehler der
Inklusionsdogmatiker liegt bei wissenschaftlicher Betrachtung also in der
fehlenden Klärung der Frage, wann
eigentlich in was inkludiert werden
soll und wie das am besten geschehen
kann. Der aktionistisch-ungeduldige, bauchgefühlige und undifferenzierte
Nicht-Verstand des Gewohnheitslinken will behinderte Kinder sozusagen in die
gesellschaftliche Teilhabe hineinpressen, indem er ihnen schon zu einem (zu)
frühen Zeitpunkt die Teilhabe am konventionellen schulischen
Organisationssystem (Regelschule) und seinen Gruppensystemen (Regelklassen)
aufzwingt. Das Resultat dürfte eine gestiegene Wahrscheinlichkeit für
gesellschaftliche Exklusion am Ende eben jener Schulzeit sein, da hier die negativen Spätfolgen jenes Aktionismus, die wir oben skizziert haben, zutage
treten werden.
Der konservative Ansatz, dem hingegen die
AfD folgt, ist differenzierter. In diesem Modell, das zu den
bewährten Förderschulen zurückkehren will, geht es darum, Kinder mit (geistiger
oder multipler) Behinderung während ihrer Schulzeit organisational (also schulisch) zu exkludieren, um daraus
hervorgehend am Ende dieser eine echte (!), d. h. gesamtgesellschaftliche Inklusion erreichen zu können. Anders
gesagt: Schüler mit entsprechenden Bedarfen sollen während ihrer Kindheit und
Jugend in einem notwendigen geschützten Raum lernen dürfen, um auf diese Weise
in einer für sie angemessenen Sphäre der schulischen Bildung auf das Leben
vorbereitet zu werden – ohne den oben beschriebenen Wettbewerb und ohne die
Mini-Ellenbogengesellschaft, die eine vorschnelle Inklusion in Regelklassen für
die betroffenen Schüler bedeuten und die ihnen Schaden zufügen würde.
Man kann es so klar sagen: Wenn
hier etwas „behindertenfeindlich“ ist, dann ist es die rücksichtslose
Inklusionsdogmatik der Linksgrünen, nicht aber der konservative Ansatz, der es
erlauben würde, betroffenen Schülern eine hochqualifizierte, individuelle,
geschützte und geduldige Förderung zuteilwerden zu lassen. Es empfiehlt sich,
dies nicht zu vergessen, und immer wieder deutlich zu machen, dass nicht die
Konservativen es sind, die sich des undifferenzierten Denkens schuldig machen. Wir
wissen: Wir haben die bessere Lösung.
Literatur
Sander, Florian (2017). System-Ebenen klären, Komplexitätsreduktion vermeiden – Voraussetzungen für einen inklusiven Leistungsbegriff aus systemtheoretischer Sicht. In: Birgit Lütje-Klose et al. (Hrsg.), Leistung inklusive? Inklusion in der Leistungsgesellschaft. Band I: Menschenrechtliche, sozialtheoretische und professionsbezogene Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. S. 64-71.
Sander, Florian (2017). System-Ebenen klären, Komplexitätsreduktion vermeiden – Voraussetzungen für einen inklusiven Leistungsbegriff aus systemtheoretischer Sicht. In: Birgit Lütje-Klose et al. (Hrsg.), Leistung inklusive? Inklusion in der Leistungsgesellschaft. Band I: Menschenrechtliche, sozialtheoretische und professionsbezogene Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. S. 64-71.
Stichweh, Rudolf (2013). Inklusion und Exklusion in der Weltgesellschaft – Am Beispiel der Schule und des Erziehungssystems. Working Paper, 02/2013.
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