Kiss - Die patriotischen Provokateure
Ein Porträt
Vielen ist die legendäre Glam-Metal-
und Hard-Rock-Band Kiss nur als exzentrische Gruppe schrill geschminkter
Entertainer ein Begriff, die mit der 1979er Disco-Single „I Was Made For Loving You“
ihren größten Hit hatten und insgesamt mehr durch ihre theatralische,
gigantomanische Show als durch ihre Musik prominent geworden sind. Doch so
einfach ist die Sache nicht: Kiss haben nicht nur ganze musikalische Genres von
Beginn an geprägt, sondern verkörperten auch stets – musikalisch und lyrisch –
eine eigene Lebensphilosophie, die man allerdings erst entdeckt, wenn man sich
wirklich auf die Band einlässt, sich mit ihren Akteuren beschäftigt und auch
ihren Stellungnahmen Aufmerksamkeit schenkt. Im Gegensatz zu vielen anderen,
gerade heutigen Metal-Bands fallen sie auf durch ihre flammende Lebensbejahung
und die ständige Aufforderung an sich selbst, ihre Fans und ihr Publikum, sich
stetig weiterzuentwickeln und weiterzukämpfen.
Manch ein Fan berichtet, wie ihm
die kraftvollen Songs von Kiss durch schwere Zeiten geholfen haben (was mit der
tiefgründigen, aber oft düsteren Musik späterer Heavy-Metal-Bands wohl
schwieriger möglich wäre). Kiss strahlen pure Energie aus: Zwar oft auch
finster und dämonisch (wie vor allem im Zuge der Bühnenshow von Gene Simmons,
der kurz vor dem stampfenden „God Of Thunder“
Kunstblut spuckt…), meist aber positiv, optimistisch, hell erleuchtend,
energisch. Wo ein Ozzy Osbourne und seine langjährige, nicht minder legendäre
Band Black Sabbath vor finsterer Kulisse nicht minder finstere Botschaften über
Tod, Verderben und Satan verbreiten, postulieren Kiss eine „Das Glas ist halb
voll und nicht halb leer“-Philosophie, die von einer grellen, (im wahrsten
Sinne des Wortes) flammenden und explosiven Show unterstützt wird. Nun
verabschieden sich Kiss aus Altersgründen mit der zwei- bis dreijährigen „End
Of The Road“-Tour von ihren Fans. Und selbst diese ist, wenn es nach Paul
Stanley geht, kein langsames „Vergehen“, sondern eine „Explosion, eine
Supernova“ – wie es typisch ist für Kiss.
Patriotismus und Einsatz für Veteranen
„Patriotism is cool. Loving your country is cool. (…) And for us, we’re proud supporters of the
military, and owe everything to them.”
Kiss-Frontmann Paul
Stanley
Doch Kiss sind noch mehr, wie das
Eingangszitat deutlich macht: Patrioten. Man mag von den US-Kriegen halten, was
man will – was aber für jeden Konservativen selbstverständlich sein sollte, ist
der Grundsatz, dass kein Staat, welche Politik er auch immer macht, seine
Veteranen nach dem Einsatz für sein Land allein lassen sollte. Kiss haben sich
insbesondere in den letzten 15 Jahren, nach dem Irakkrieg 2003, einen Namen
gemacht als Band, die sich intensiv für Veteranen einsetzt, für sie sammelt,
ihnen Jobs als Roadies verschafft, ihnen und auch aktiven Soldaten in der Kiss-eigenen
Restaurant-Kette „Rock & Brews“ freies Essen ermöglicht, Krankenhausbesuche
macht und auf andere Weisen hilft. Eine Haltung, von der sich so mancher
deutsche Popsänger, der bei Konzerten lieber wütende Ansprachen „gegen rechts“ hält,
etwas abschauen könnte.
Gene Simmons, der zusammen mit dem
kreativen Mastermind Paul Stanley das Führungsduo der Band bildet, gilt bei
vielen mittlerweile als eine Art „Donald Trump des Rock ‘n Roll“. Der
extrovertierte Geschäftsmann, durch seine zahlreichen Marketing-Aktivitäten
einer der reichsten Bassisten der Welt, hat sich auch durch so einige
politische Wortmeldungen einen Namen gemacht, von denen Sympathiebekundungen
für Trump und Kritik an Migranten, die nicht Englisch lernen wollen, wohl die
am meisten polarisierenden waren. Kiss gilt bei vielen mittlerweile eher als
Marke und als Konzern als als bloße Band, was besonders auf die Aktivitäten von
Gene Simmons zurückgeht, der als Comic-Fan, ganz im Stile Dagobert Ducks, gerne
mal Mützen trägt, die einen Geldsack mit einem Dollarzeichen darauf zeigen. Neben
der besagten Restaurantkette besaßen Simmons und Stanley ein eigenes
Football-Team („L. A. Kiss“) und führten bzw. führen zahlreiche Unternehmungen
im Musikgeschäft.
Das Spektrum an
Kiss-Merchandise-Produkten geht ins Unermessliche, von den obligatorischen
Action-Figuren, Comic-Serien und Computerspielen über Lunch-Boxen bis hin zu
Särgen, in denen sich der Kiss-Fanatiker, der etwas auf sich hält, sogar zur
ewigen Ruhe setzen / legen kann (das Magazin Rolling Stone titelte seinerzeit: „Bei Simmons liegen Sie
richtig“). Kiss sind durch ihren immer auch von Selbstironie durchzogenen
finanziellen und theatralischen Expansionsdrang vermutlich die sympathischsten
Kapitalisten Amerikas: Allzu ernst genommen haben sie sich selbst nie.
Drogenfrei, aber promiskuitiv
Und dennoch: Prinzipien haben
sie. So liegt wohl ein Grund dafür, dass Simmons und Stanley seit Anfang der
70er Jahre buchstäblich ununterbrochen touren können – und das unter
Bedingungen, die buchstäblich Schwerstarbeit bedeuten, wenn man an die schweren
und unhandlichen Kostüme plus Schminke denkt – darin, dass beide sich dem
Drogenexzess stets verweigert haben und für einen drogenfreien Lebensstil
stehen. Gene Simmons bekundet gar, in seinem Leben nie betrunken gewesen zu
sein. Die beiden Bandbosse gelten als disziplinierte Workoholics, frühere
Bandkollegen bezeichneten sie auch schon als autoritäre Kontrollfreaks. Hierin
dürfte der Grund dafür liegen, dass sich die Band seit bald fünf Jahrzehnten im
Show Business hält – mal mehr, mal weniger erfolgreich, aber immer aktiv und
ohne finanzielle Nöte.
Denkt man an das klassische „Sex,
Drugs & Rock ‘n Roll‘-Klischee, hat die zweite Komponente bei den beiden
Chefs also stets gefehlt. Nicht zu knapp kam allerdings der erste Teil: Beide,
Simmons und Stanley, gelten als ausgemachte Frauenhelden, und Simmons hatte in
der Folge der #metoo-Hysterie mit einigen Sexismus-Vorwürfen zu kämpfen. Was im
Falle von Kiss, deren Songs so manche lüsterne und schlüpfrige Aussage
beinhalten (man denke an „Love
Gun“ und anderes), allerdings erwartbar anmutet. Die Band und ihre
Mitglieder verkörpern vermutlich den lebendig gewordenen Albtraum einer jeden
Radikalfeministin: Maskulines Selbstbewusstsein, Promiskuität und Freude am
Leben.
Provokation und Satanismus-Verdacht
Kiss ging aus der Vorgänger-Band
Wicked Lester hervor und wurde 1973 gegründet. Die Performance der Band beruhte
auf einem damals neuen und provokativen Konzept: Man machte nicht nur Musik,
sondern kostümierte sich und verwandelte sich in mystische, comicähnliche
Figuren, die der Band eine eigene Identität, einen eigenen Mythos gaben, und zu
den individuellen Charakteristika ihrer Mitglieder passten. Horror-Fan, Bassist
und Sänger Gene Simmons wurde zum teuflischen „Demon“ (besonders bekannt für
seine stets herausgestreckte, überdurchschnittlich lange Zunge), der
charismatische Frontmann, Sänger und Rhythmusgitarrist Paul Stanley zum
überweltlichen Rockstar, zum „Starchild“.
Die Band wurde vervollständigt durch
Drummer Peter Criss, der die Rolle des „Catman“ einnahm, und den
Leadgitarristen Ace Frehley, der wegen seines exzentrischen, manchmal etwas
weltfremden Verhaltens zum „Spaceman“ wurde (von den Fans gern auch als „Space
Ace“ betitelt). Die Kostümierung wurde begleitet von einer über die Jahre und
Jahrzehnte immer ausgefeilter und aufwändiger gewordene, zirkusartige
Bühnenshow, bei der Simmons Kunstblut und Feuer spuckt, Stanley über das
Publikum hinweg fliegt und am Ende (in guter Tradition) seine Gitarre
zertrümmert, Frehleys Gitarre raucht und Raketen abfeuert und sich das Criss-Drumkit
in die Höhe hebt. Insbesondere Simmons‘ Auftritte führten in der Folge zu dem
fortlaufenden Gerücht, Kiss sei eine satanistische Band und der Name sei ein
Kürzel für „Knights in Satan’s Service“.
Mit Frehley und Criss wurden zwei
biografische, charakterliche und habituelle Gegenpole zu Simmons und Stanley
Teil der Band, was bereits früh zu den unvermeidlichen Konflikten führte, die
später in Bandaustritten mündeten. Während Simmons und Stanley bürgerlichen
Haushalten entstammten und akademisch sozialisiert waren, kamen Frehley und
Criss aus ärmeren Verhältnissen und legten ein anderes, „klassischeres“
Verständnis des Rockstar-Daseins an den Tag. Die Drug-Komponente begleitete
beider Leben viele Jahre lang, führte zu Eskapaden und behinderte die
Kreativität und die musikalische Entwicklung der beiden „bad boys“ der Band,
die deutlich weniger Songmaterial zu Kiss-Alben beisteuerten als Simmons und
Stanley. Trotzdem gilt Ace Frehley bis heute als unverwechselbarer
Leadgitarrist, der Generationen von (teils inzwischen selbst als Musiker prominenten)
Fans zum Gitarrenspiel inspiriert hat, und genießt als liebenswerter Chaot bei
vielen Fans Kultstatus, ebenso wie die zwar eher wenigen, aber
charakteristischen und beliebten Songbeiträge von ihm („Shock Me“, „Rocket Ride“) und Criss
(„Baby Driver“, „Hooligan“, „Dirty Livin‘“).
Das umstrittene Logo und interne Konflikte
Auch das ab 1980 in Deutschland
nicht mehr verwendete, allerdings nicht verbotene oder strafrechtlich
sanktionierte Logo der Band, dessen beiden Blitze an die doppelte Siegrune der
SS erinnern und das zu harschen Reaktionen seitens der deutschsprachigen Medien
geführt hatte (der Spiegel schrieb damals
von einem „faschistischen Gestus“ der Band, die Neue Zürcher Zeitung von „SS-Schergen des Rock n‘ Roll“), stammt
ursprünglich von Frehley, der in der Tat ein Faible für NS-Memorabilien hat.
Simmons und Stanley hingegen bestritten stets einen solchen Zusammenhang und
verwiesen dabei auf ihre jüdische Herkunft.
Auch in diesem Punkt kam es in
der Band zu Konflikten: So wird erzählt, wie Frehley einmal in voller SS-Montur
vor der Hotelzimmertür von Simmons auftauchte, um diesen – dessen Mutter eine
Holocaust-Überlebende war – zu schocken. Doch trotz solcher Vorkommnisse, die
in drastischer Weise die inneren Widersprüche der Band zu jener Zeit aufzeigen
(auch Stanley warf später Frehley und Criss in seiner Autobiografie [s. u.]
Antisemitismus vor), gelang es den vier so unterschiedlichen Bandkollegen
zunächst, weiter zusammenzuarbeiten – freilich ohne, dass sie je Freunde
wurden.
Nach drei nur mäßig erfolgreichen
Studio-Alben war der Band 1975 mit dem Live-Album „Alive!“ der Durchbruch
gelungen. Es folgten das aufwändige, glamouröse „Destroyer“ (1976), das
bodenständigere „Rock and Roll Over“ (1976), „Love Gun“ (1977) und das zweite
Live-Album „Alive II“ (1977), bis es schließlich zur Krise kam. Die
Rivalitäten, verhärtet durch die Fronten Simmons / Stanley vs. Frehley / Criss
nahmen überhand und man beschloss, dass jeder der vier zum selben Zeitpunkt ein
Solo-Album veröffentlichen solle, um kreativen Dampf ablassen zu können. Etwa
zur gleichen Zeit wurde der Kiss-Fernsehfilm mit dem deutschen Titel „KISS –
Von Phantomen gejagt“ produziert, in dem die vier Kiss-Mitglieder mit ihren
übermenschlichen Kräften gegen einen wahnsinnigen Wissenschaftler ankämpfen, der
in einem Vergnügungspark Menschen als Roboter nachbaut und mit ihnen die
Besucher terrorisiert. Sowohl die vier Solo-Alben als auch der Film erschienen
1978. Die Solo-Alben gerieten zum Flop; der Film wurde ein Quotenerfolg, wurde
aber von der Kritik restlos verrissen. Trash-Fans werden bei dem Film
allerdings ohne Zweifel ihre helle Freude haben.
1979 erreichte die Band mit dem
Album „Dynasty“ ihre opportunistische Phase: Man schwenkte, um des Charterfolgs
wegen, auf die Disco-Pop-Richtung ein und wurde mit dem Nummer-Eins-Hit „I Was Made For Loving You“
zunächst dafür belohnt. Schon mit dem ähnlich poppigen Folgealbum „Unmasked“
(1980) aber ging es bergab, und Criss‘ Drogenprobleme verschlechterten dessen
Schlagzeugspiel so weit, dass er auf „Dynasty“ nur noch bei einem Song und auf
„Unmasked“ schließlich gar nicht mehr spielen durfte und schließlich 1980 gefeuert
wurde. Seine Solo-Karriere in den 80er und 90er Jahren wurde zu einer
Geschichte von Flops. Criss‘ Nachfolger
wurde Eric Carr, der fortan die Figur des „Fox“ einnahm, und mit dem sich die
Band 1981 in die anspruchsvolle Kunst flüchtete: Das in jenem Jahr
veröffentlichte Konzeptalbum „(Music From) The Elder“ gilt als das untypischste
der Band – musikalisch äußerst anspruchsvoll, teils Musical-artig, eine
mythologische Geschichte über einen Kampf von Gut gegen Böse erzählend. Die
Band blickt bis heute mit Antipathie auf das – eigentlich gar nicht so
schlechte – Album zurück, das jedoch kaum zum Kiss-Image passte, gnadenlos
floppte und nicht einmal mehr eine Tour nach sich zog.
Der Schwenk zum Heavy Metal
Ace Frehley, bereits damals und
noch viele Jahre danach an Alkoholismus leidend, verließ die Band 1982 und
begann eine Solo-Karriere mit seiner Band Frehley’s Comet, mit der er einige
Achtbarkeitserfolge erzielte (besonders hervorzuheben: sein 1989er Solo-Werk
„Trouble Walkin‘“ mit dem gelungenen Titeltrack, dem
rebellischen „2 Young 2
Die“, dem verkaterten „Lost
In Limbo“ – und Peter Criss als Gastmusiker!). Sein Nachfolger als Leadgitarrist
wurde der nicht minder exzentrische „Shredder“ Vinnie Vincent, der die Figur
des ägyptischen „Ankh Warrior“ einnahm. Schwierig im Umgang und unberechenbar,
aber als Gitarrist und Songschreiber ein Genius, verpasste er gemeinsam mit
Eric Carr der Band einen neuen Schwung. Das Album „Creatures Of The Night“ von
1982, das auf das Kompilationsalbum „Killers“ aus demselben Jahr folgte,
markierte Kiss‘ Übergang vom Hard Rock zum Heavy Metal – mit stampfendem Bass,
schnellen Gitarren und donnerndem Schlagzeug (am besten hörbar auf dem Titeltrack, „I Love It Loud“ und „War Machine“).
Das Folgealbum von 1983, „Lick It
Up“, brachte die nächste Wegmarke: Kiss, deren ungeschminkten Gesichter bis
dato niemand hat öffentlich machen können, wodurch die Band ihren besonderen
Mythos bewahrt hatte, „demaskierten“ sich auf MTV vor laufenden Kameras und
traten fortan, bis 1996 ohne die besondere Schminke und Kostümierung auf. Der
raffinierte Marketing-Schachzug führte zum Comeback der Band, die fortan zwar
nicht mehr, wie noch in den 70er Jahren, trendbildend vorne weg marschierte,
die sich aber mit wieder beträchtlichem Erfolg der Hair-Metal-Welle der 80er
Jahre, die von jungen Bands wie Bon Jovi, Guns N‘ Roses, Mötley Crüe und Ratt
getragen wurde, anschloss.
Konflikte blieben dennoch nicht
aus: Gene Simmons, der seine Filmkarriere in Hollywood vorantrieb, zog sich aus
den kreativen Prozessen der Band stark zurück und überließ Paul Stanley die
Hauptlast, was zunehmend zu dicker Luft zwischen den beiden Bossen führte.
Vinnie Vincent wurde bereits 1984 wegen seines schwierigen Verhaltens gefeuert
und gründete in der Folge seine Band Vinnie Vincent Invasion, die zwei Alben
veröffentlichte und aus der später – ohne ihn – die erfolgreiche Glam-Rock-Band
Slaughter hervorging. Nach einigen Convention-Auftritten und einer
veröffentlichten Solo-EP Mitte der 90er Jahre verschwand er nahezu komplett aus
dem Licht der Öffentlichkeit (mit Ausnahme einer schlagzeilenträchtigen
Festnahme wegen häuslicher Gewalt gegenüber seiner Ehefrau im Jahr 2011), um erst
ab 2018 wieder öffentlich in Erscheinung zu treten – mittlerweile auch in
weiblichem Outfit, was zu anhaltenden Spekulationen über Vincents Sexualität
führte.
Sein Nachfolger bei Kiss wurde
der technisch begabte Gitarrist Mark St. John, mit dem die Band 1984 das harte
und schnelle Album „Animalize“ veröffentlichte. St. John musste jedoch noch im
selben Jahr die Band wieder verlassen, nachdem er an Arthritis erkrankt war und
es für ihn unmöglich wurde, ein Konzert zu bestreiten. Er gründete später die
erfolglose Band White Tiger, arbeitete dann mit Peter Criss in dem ebenso
erfolglosen Projekt The Keep zusammen und starb schließlich 2007 an einer
Hirnblutung. Ihm folgte der stille Profi Bruce Kulick, der der Band Stabilität
brachte und bis 1996 ihr Leadgitarrist war (danach gründete er mit
Ex-Mötley-Crüe-Sänger John Corabi die Band Union). Es folgten die kommerziell
orientierten Alben „Asylum“ (1985), „Crazy Nights“ (1987), „Smashes, Thrashes
& Hits“ (1988) und „Hot In The Shade“ (1989).
Dunklere Klänge und ein Grunge-Ausflug
1991 dann der nächste große
Einschnitt: Mit 41 Jahren stirbt Drummer Eric Carr an den Folgen einer
Krebserkrankung – am selben Tag wie Queens Freddie Mercury. Von ihm hinterlassenes,
rockig-melodisches Songmaterial gab der mit ihm befreundete Bruce Kulick später
als Album mit dem Titel „Rockology“ heraus. Nachfolger wurde Eric Singer, der
zuvor bereits bei Badlands, Black Sabbath und Alice Cooper getrommelt hatte.
Mit ihm nahm Kiss das 1992 veröffentlichte Album „Revenge“ auf, das die
veränderte Stimmungslage sowohl der Band selbst nach der Tragödie als auch des
neuen Jahrzehnts zum Ausdruck brachte. Nach den schrillen, bunten,
kommerziellen, konsumfreudigen und poppigen 80ern dominierten in den 90er
Jahren plötzlich dunklere Sounds und harte und verzerrte Gitarren. Wenn auch
kein kommerzieller Erfolg, wurde das Album von Kritikern und Fans doch
gleichermaßen gefeiert als Meisterwerk, mit dem die Band endlich zu ihren
Wurzeln zurückgefunden hatte. 1993 folgte das dritte Live-Album, „Alive III“.
Besonders die erste Hälfte der
90er wurde musikalisch gesehen von einer ausgesprochen düsteren Stimmung
erfasst: Die Grunge-Bewegung und Bands wie Nirvana und die Smashing Pumpkins
lösten die aalglatten Heroen der 80er ab – plötzlich war Nachdenklichkeit,
Melancholie und Tiefgang gefragt. Für die positive, optimistische
Hard-Rock-Band Kiss eine Herausforderung, im Rahmen derer man sich zwischen
kommerziellem Mit-dem-depressiven-Strom-schwimmen und „Wir machen stur weiter
wie bisher“ à la AC/DC entscheiden musste.
Kiss entschieden sich für
ersteres: Wenn auch eher widerwillig, nahm man 1995 das komplexe, im Grundton
negative, von Grunge-Tönen und stark verzerrten Gitarren geprägte Album
„Carnival Of Souls“ auf, welches erst zwei Jahre später – fast ohne jede
Promotion und kaum beachtet – veröffentlicht wurde. Simmons urteilte später
sinngemäß, die Grunge-Bewegung habe das Rock-Genre quasi getötet, da es die für
den Charts konsumierenden Mainstream interessanten Themen – Sex, Geld, Erfolg –
dem Hiphop überlassen habe, der dadurch groß und kommerziell wurde.
Musikgeschichtlich plausibel, allerdings auch etwas geringschätzig gegenüber
der Grunge-Ära der 90er, in der zweifelsohne musikalische Meisterwerke
abgeliefert wurden und die mittlerweile ihren eigenen Legendenstatus genießt.
Wiedervereinigung und Retro-Hype
Doch der recht lieblose Umgang
mit und die verzögerte Veröffentlichung von „Carnival Of Souls“ hatte noch
andere Gründe: Nachdem bei ihrem inzwischen legendär gewordenen, auf CD und VHS
erschienenen MTV-Unplugged-Auftritt von 1995 bei den letzten vier Songs, unter
begeistertem Applaus des Fan-Publikums, Ace Frehley und Peter Criss dazu
gestoßen waren, verkündete die Band im Jahr 1996 die Reunion. Es folgte eine
hocherfolgreiche Welttournee der wieder voll kostümierten Band in Originalbesetzung,
an die sich das monumental, aber teils auch pathetisch klingende Album „Psycho
Circus“ (1998) anschloss. Der Kinofilm „Detroit Rock City“ von 1999 feierte die
Band auf der Leinwand. Man profitierte vom neuen Retro-Trend.
Doch die Konflikte ließen,
bedingt durch die Rückkehr der Fronten von damals, nicht lange auf sich warten:
Peter Criss verließ bereits während der ersten Farewell-Tour (2000 / 2001) –
die jedoch de facto keine war, wie wir heute wissen – die Band, kehrte
allerdings 2003 noch einmal für „Kiss Symphony“, einen glanzvollen Auftritt der
Band mit dem Melbourne Symphony Orchestra, der auf dem Album „Alive IV“ und
auch auf DVD veröffentlicht wurde, und eine weitere Tournee zurück. Ace Frehley
verließ Kiss 2002 und kehrte seither nicht mehr zu seiner alten Band zurück,
ist aber seit mehreren Jahren trocken und liefert seitdem in regelmäßigen
Abständen solide und kernige Solo-Alben mit spacigen Lyrics, kreativ
aufgepeppten Coverversionen von Rockklassikern und Ace-typischen Albumcovern (siehe
„Anomaly“!) ab, während der balladenorientierte Criss 2007 ein Solo-Werk mit
eher sanften Tönen auf den Markt brachte. Auch Simmons und Stanley sind seit
den 2000ern immer mal wieder auf (musikalisch teils ungewohnten) Solo-Pfaden
unterwegs.
Bei Kiss hat seit 2004 wieder
Eric Singer den Platz des Drummers eingenommen, während mit dem ehemaligen Black-‘n-Blue-Gitarristen
und Kiss-Tourmanager Tommy Thayer als Nachfolger Frehleys ein neuer
Leadgitarrist zur Band stieß. Viel Kritik von Seiten der Fans fuhr die
Entscheidung von Simmons und Stanley ein, für die beiden keine neuen Figuren zu
kreieren, wie es noch bei Carr und Vincent der Fall gewesen war, sondern sie
als „Catman“ (Singer) und als „Spaceman“ (Thayer) auftreten zu lassen. Dass
speziell Thayer auch noch Frehleys Bühnen-Habitus kopiert (nachdem er ihn
früher schon einmal in einer Kiss-Tribute-Band namens Cold Gin verkörpert
hatte), verärgert bis heute so manchen orthodoxen Kiss-Jünger. Dafür allerdings
scheint die Zusammensetzung gut zu harmonieren, wie die (für Kiss bekanntlich
untypische) ungebrochene personelle Kontinuität seit 2004 zeigt.
Und auch musikalisch-qualitativ
hat die Band gewonnen: Während Frehley und Criss infolge ihrer Drogenprobleme,
wie ab 1996 deutlich wurde, spürbar an musikalischem Leistungsvermögen
eingebüßt hatten (wodurch Konzertbesucher zu jener Zeit so manchen schiefen Ton
bzw. so manchen verlangsamten Song hatten erdulden müssen), klingt die (nicht
mehr ganz so) neue Kiss-Zusammensetzung deutlich sauberer, professioneller und
schwungvoller. Lediglich Paul Stanley hat in den letzten Jahren mit
Stimmproblemen zu kämpfen. Die unter der aktuellen Besetzung erschienenen Alben
„Sonic Boom“ (2009) mit der eingängigen Stadion-Hymne „Say Yeah“ und „Monster“
(2012) jedoch – beides recht bodenständige Hard-Rock-Werke im Old-School-Stil (der
Kenner beachte übrigens auch die Illustrationen des „Sonic Boom“-Albums!) – wie
auch die Live-DVD „Kiss Rocks Vegas“ (2016) zeigen eine Band, die trotz des
fortgeschrittenen Alters ihrer Mitglieder frisch und kraftvoll klingt wie eh
und je.
Noch lange nicht am Ende
Wer die spannende, von Höhen und
Tiefen, Traumkarrieren und Abstürzen, Drogen, Sex und harten Gitarren geprägte
Geschichte der Band nochmal im Detail erkunden will, kann das inzwischen sogar
aus mindestens vier verschiedenen Perspektiven tun: Neben zahlreichender
unautorisierter „Enthüllungsliteratur“ von verschiedenen Statisten und Nebenfiguren
der „Kisstory“ haben auch die Originalmitglieder inzwischen allesamt
Autobiografien veröffentlicht – angefangen von Simmons‘ „Kiss and Make-up“
(2001), über Frehleys „No Regrets“ (2011) und Criss‘ „Makeup To Breakup“ (2013)
bis hin zu Stanleys „Face the Music“ (2014). Insbesondere Stanleys Werk (dt.:
„Hinter der Maske“) bietet spannende Lektüre über das komplexe Seelenleben
einer Rocklegende.
Die Musik, die Geschichte und die Entwicklung von Kiss präsentieren uns
eine künstlerisch oft unterschätzte, energetische, patriotische und
provokative, lebensbejahende Truppe, die pure Kraft und Optimismus
ausstrahlt. Eine Band, die das Dampfablassen und den reinen Spaß am Rock
‘n Roll genauso verkörpert wie den ungebrochenen Glauben an die eigene
Weiterentwicklung und Stärke. Nun müssen auch sie sich dem Alter beugen.
Doch man darf sich wohl sicher sein: Wir werden auch nach der
Abschiedstour noch lange von ihnen hören.
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