Entdifferenzierung im Nationalsozialismus - Eine Konklusion

Fazit und Ausblick

Anlass und Ausgangspunkt unserer Untersuchung war die Prämisse, dass eine Theorie mit universalem soziologischem Erklärungsanspruch, wie ihn die Systemtheorie Luhmanns erhebt, in der Lage sein muss, verschiedenste gesellschaftsstrukturelle Zustände und Prozesse zu erklären. Die daraus folgende Erklärungsnotwendigkeit geht über die klassische Dreiteilung Luhmanns in segmentär, stratifikatorisch und funktional differenzierte Gesellschaften hinaus: So ist eine analytische Brille, die sich auf diesem sozial-evolutionären Dreiklang ausruht, defizitär, da sie nicht imstande ist, Phänomene wie etwa das des Totalitarismus zu erfassen bzw. die Frage zu beantworten, was ein totalitäres Regierungssystem für gesellschaftsstrukturelle Folgen nach sich zieht. Der Hauptgrund für dieses Defizit lag bislang am – jedenfalls oftmals, bis auf einige Ausnahmen – fehlenden Interesse seitens der Vertreter der Theorie, einen hinreichenden Gegenbegriff zum systemtheoretischen Kern-Terminus der Differenzierung zu konzeptualisieren. Bei allem sonstigen, bei anderen Gelegenheiten eigentlich äußerst feinen und akribischen Gespür für Unterscheidungen, für zwei Seiten jener Unterscheidungen, für Differenz und binäre Codierung, war das Interesse für eine solche Unterscheidung der Unterscheidung im Rahmen der systemtheoretischen Debatten bislang überraschend wenig ausgeprägt. Diese Lücke versuchte diese Arbeit zu füllen.

Mit diesem Versuch ging jedoch eine weitere Herausforderung einher, welche sich direkt aus dem oben geschilderten Theoriedefizit ergibt – und dieses zugleich erklärt. So hat, wie hier ebenfalls ausgeführt wurde, die „orthodox“ verstandene Systemtheorie Luhmanns ein recht kompromissloses Verständnis von Differenzierung bzw. Entdifferenzierung (auch wenn Luhmann in dieser Frage, wie geschildert, zuweilen recht unentschlossen auftrat): Entweder gibt es sie – oder sie gibt es nicht. Graduelle Abstufungen sind aus einem solchen Verständnis heraus nicht vorgesehen oder möglich. Es verwundert nicht, dass sich angesichts einer solchen Begriffsinterpretation das Interesse an einem Gegenbegriff zur Differenzierung einigermaßen in Grenzen hielt, da er so auf ein reines Negativ-Korrelat reduziert werden musste, ähnlich dem Begriff der „Umwelt“: So wie diese schlicht alles Soziale ist, was nicht das System ist, musste Entdifferenzierung somit einfach jeden Zustand bezeichnen, der nicht Differenzierung ist, oder eben zumindest jeden Prozess, der jegliche Differenzierung sofort und komplett auflöst. Zeitliche oder sozialstrukturelle Zwischenstadien kann es aus einem solchen Verständnis heraus schließlich nicht geben.

Es sollte auch deutlich gemacht werden, warum es nicht nur wichtig ist, Entdifferenzierung als theoretischen Begriff zu konzeptualisieren, sondern auch, wieso eine solch strikt dichotomische Sichtweise unfruchtbar und wenig gewinnbringend ist, auch wenn sie das „theoretische Gewissen“ und das der Systemtheorie innewohnende Bedürfnis nach Klarheit und strikten terminologischen Abgrenzungen (das zweifellos in anderen Bereichen ein beträchtlicher Vorteil der Theorie gegenüber anderen, in dieser Hinsicht diffuseren Ansätzen ist) zweifellos vor Herausforderungen stellt. Es ist jedoch nie falsch sich gewahr zu werden, dass soziologische Theorie kein reiner Selbstzweck sein kann, sondern sich stets fragen und daraufhin reflektieren muss, wie sie das bestmögliche Erklärungspotenzial für soziale Verhältnisse entfalten kann. Dies gilt insbesondere – wir wiederholen uns – für eine Großtheorie mit universalem Erklärungsanspruch.

Derlei kritische Fragen an sich selbst, derlei theoretische Selbstreflexion entfaltet sich am ehesten über einen Blick auf die Empirie, welcher auch im hiesigen Rahmen erfolgt ist und dabei das letztendliche Ziel hatte, der zugrundeliegenden Theorie einen Anstoß – oder in systemtheoretischem Duktus: eine Irritation – mit auf den Weg zu geben, die geeignet ist, ihr die Relevanz einer Erweiterung ihres Modells deutlich zu machen. Der Aufbau der Arbeit und die Schwerpunktsetzung in den einzelnen Kapiteln und Unterkapiteln sollte bereits verdeutlicht haben, dass sie nicht in dem Sinne historischer, sondern eben soziologisch-theoretischer Natur ist – wenn auch sicherlich mit starker historisch-soziologischer und rechtssoziologischer „Schlagseite“. Ohne damit auch nur im Ansatz ein Werturteil über die beiden Dimensionen und die wissenschaftliche Bedeutung ihrer Erforschung aussprechen zu wollen: In dieser Arbeit diente primär die Empirie der Findung einer Antwort für die Theorie – nicht umgekehrt. Dies schließt freilich nicht aus, dass es auch im Rahmen der empirischen Analyse zu wesentlichen soziologischen Erkenntnissen gekommen sein könnte.

Der empirische und historisch gut erforschte, aber noch immer und wohl auch weiterhin die Geschichtswissenschaft und die Sozialwissenschaften beschäftigende Fall des Dritten Reiches hat in sehr eindringlicher Weise vor Augen geführt, wie notwendig es ist, dass eine qualitativ hochwertige soziologische Theorie imstande ist, auch solche Abweichungen von funktional differenzierter Gesellschaftsstruktur zu erklären, die in der Moderne stattfanden. Insbesondere die politikwissenschaftliche Totalitarismus-Theorie wirft hierzu entscheidende soziologische Fragen auf, die wir in dieser Arbeit problematisiert haben und die sie selbst, wie wir darin versucht haben zu zeigen, nicht zu beantworten imstande ist, da sich die sie umrahmende Disziplin für sie letzten Endes nicht interessiert. Um in Erfahrung zu bringen, ob nicht nur das Regierungssystem, sondern auch die von ihr irritierte (oder gar gesteuerte?) Rest-Gesellschaft „totalitär“ ist, ob also das totalitäre Herrschaftsprogramm, der „totale Staat“ (bzw.: die Partei, die diesen totalitär umzusetzen versucht) tatsächlich in diesem Ansinnen Erfolg hat oder ob sich die gesellschaftsstrukturellen Veränderungen eher in Grenzen halten, bedarf es einer explizit nicht nur politikwissenschaftlichen, sondern eben vor allem soziologischen Antwort, die nur eine umfassende, ausgearbeitete und begrifflich-konzeptionell vorbereitete Theorie liefern kann. Mit anderen Worten: Hier ist die Systemtheorie überaus gefragt. Dieser Aufgabe kann sie jedoch nur nachkommen, wenn sie sich von dem starren dichotomischen Verständnis von Differenzierung und Entdifferenzierung löst und die Bereitschaft zeigt, hier stattdessen von einem graduellen Verständnis beider Konzepte auszugehen.

Erst dadurch wird es möglich, Differenzierung und Entdifferenzierung in einer Weise zu verstehen, die der Komplexität ihrer empirischen Manifestation gerecht wird und sie eben dadurch als theoretische Begriffe fruchtbar zu machen. Fruchtbar, weil erkenntnisreich werden sie dann gerade dadurch, dass sie als graduelle Skala fungieren können, die nicht nur unterschiedliche Zustände bzw. Stadien in kleinteiligerer Form zu beleuchten imstande ist, sondern auch die dazwischen erfolgenden Wandlungsprozesse. Universaler Erklärungsanspruch bedeutet, nicht nur einen Blick für das „große Ganze“ zu haben, sondern eben auch für das Kleinteiligere, das die Facetten, die Mosaiksteine eben jenes großen Ganzen bildet. Eben jene Wandlungsprozesse und die daraus resultierenden unterschiedlichen Stadien einer differenzierten bzw. entdifferenzierten Gesellschaftsstruktur können, wie wir im empirischen Teil gezeigt haben, mitunter von, abstrakt betrachtet, recht feinen Unterschieden geprägt sein, die aber für Menschen in der Geschichte, konkret gesprochen, oft genug den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet haben.

Das Dritte Reich führt dieses Phänomen in drastischer Weise vor Augen. Es war, wie wir herausgestellt haben, in Bezug auf das Verhältnis von Politik und Recht (und damit in Bezug auf ein Systemverhältnis, das von Menschen von existenzieller Bedeutung war), von drei verschiedenen Phasen geprägt, die sich in etwa auf die Jahre 1933-1939, 1939-1944 und 1945 datieren lassen – wobei stets mit zu bedenken ist, dass diese Phaseneinteilung notgedrungen „grob“ und in einer idealtypischen Unterscheidung im Sinne Max Webers erfolgt und sicherlich immer wieder Abweichungen von den Charakterisierungen dieser Phasen der Entdifferenzierung zu finden sein werden. Nichtsdestotrotz bietet eine solche Kategorisierung eine Art Brille, die es ermöglicht, explizit den prozesshaften Charakter von Entdifferenzierung zwischen zwei Funktionssystemen und dessen gesellschaftsstrukturelle Bedeutung in den Blick zu nehmen.

Für die erste Phase, in den Vorkriegsjahren des Dritten Reiches, ist in der Gesamtsicht noch eine Tendenz der „subtileren“ Entdifferenzierung auszumachen, welche primär natürlich vom politischen System, in Teilen aber auch vom Rechtssystem selbst ausging, im Rahmen dessen viele Gerichte von sich aus die „System-Tore“ für politisierend-entdifferenzierende Entwicklungen öffneten und im Sinne der neuen Machthaber urteilten, selbst wenn dafür bestehende Gesetze teils massiv „gebogen“ werden mussten. Derlei Schritte, die wohl aus einer Mischung aus Opportunismus, Karrierismus, Konformitätsdruck und propagandistischer Beeinflussung heraus erfolgten, lassen sich systemtheoretisch noch partiell unter dem Begriff der Selbststeuerung fassen, auch wenn diese in der Folge, konsequent weiter gedacht und weiter praktiziert, auf das Ende jeder Selbststeuerbarkeit seitens des Rechts hinauslaufen musste. Zugleich war sie, mit Herbst (2005) gesprochen, die Folge einer vom politischen System ausgehenden Kontextsteuerung, welche maßgeblich über politische Propaganda und eben jenen oben genannten, auch aus dieser generierten Konformitätsdruck funktionierte. Für jene Phase lässt sich somit festhalten, dass die zu dieser Zeit erfolgte Entdifferenzierung durchaus über Wege geschah, die keineswegs nur in Diktaturen bzw. totalitären – oder auch lediglich autoritären – Regierungssystemen zu beobachten sind, sondern die durchaus auch in modernen liberalen Demokratien üblich sind: Selbststeuerung von gesellschaftlichen Funktionssystemen ist ein Phänomen der funktional differenzierten Gesellschaft (auch wenn in diesen für gewöhnlich die Selbststeuerung nicht im Endergebnis auf die Abschaffung jener Selbststeuerbarkeit hinausläuft), ebenso wie, jedenfalls aus Sicht einzelner Vertreter einer „reformierten Systemtheorie“ (vgl. Willke 2001; Willke 2006: 241ff.), auch die Kontextsteuerung.

Allerdings: Die direkt vom politischen System, aber auch die von der politisierenden Rechtstheorie als Reflexionstheorie ausgehenden Initiativen zur Politisierung des Rechtssystems waren auch in dieser ersten Phase bereits als mindestens autoritäre Maßnahmen und Vorstöße erkennbar, wie vor allem Ernst Fraenkel (1984) mit seiner früh ausgearbeiteten Theorie des „Doppelstaates“ eindrücklich gezeigt hat: Die Installierung eines durch und durch politischen, ohne formale Rechtsgrundlage agierenden nationalsozialistischen Maßnahmenstaates neben den klassisch-bürokratischen, traditionellen Normenstaat lief bereits ab 1933 auf vollen Touren, spätestens beginnend mit der Reichstagsbrandverordnung und dem Ermächtigungsgesetz sowie mit der Einrichtung von Sondergerichten als operativer Kopplung von Politik und Recht zwecks subtiler Politisierung der Rechtsprechung (intensiviert durch die Einrichtung des Volksgerichtshofes, der sich theoretisch genauso fassen lässt), begleitet von reflexionstheoretischen Einflüssen wie Schmitts Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“ (vgl. Schmitt 1934). Auf den beiden oben genannten Rechtsnormen beruhten in der Folge, wie wir gezeigt haben, die meisten der weiteren Maßnahmen zur Festigung der Diktatur. Dies musste in der ersten Phase bis ca. 1939 noch auf eher subtilem Wege erfolgen, da in jener Zeit der Normenstaat noch ein zu großes Hindernis für ein absolut freies Schalten und Walten der NS-Führung bildete: Anstatt etwa direkt in die Rechtsprechung zu intervenieren, wurden zunächst mittels der Sondergerichte Doppelstrukturen geschaffen. Auch in der Gesetzgebung wurde, selbst wenn es scharfe Exklusionsmaßnahmen vor allem für Juden betraf, noch auf „klassische“ Instrumente zurückgegriffen, wie vor allem die Nürnberger Rassengesetze zeigen: Die Exklusion wurde grundsätzlich auch noch normenstaatlich zu legitimieren versucht, mit all den üblichen, damit regulär einhergehenden formalrechtlichen Mechanismen. Es galt zwar schon ein eindeutiges Primat des Politischen, wie es von der (Reflexions-)Theorie Carl Schmitts und auch der rechtswissenschaftlichen Kieler Schule gefordert und forciert wurde, aber dies noch in Form einer Art „funktionalen Hierarchisierung“ – mit einem vertikalen Verhältnis von Politik und Recht und der politischen Leitunterscheidung als Metacode – und nicht in Form einer gänzlichen Entdifferenzierung.

In der zweiten Phase, ab Kriegsbeginn, nahmen die Entdifferenzierung und auch die Bemühungen des politischen Systems, diese voranzutreiben, spürbar zu – nicht selten auch unter direktem, etwa semantischem Verweis auf die Kriegslage und die damit (vermeintlich) einhergehenden neuen Notwendigkeiten: Hier ließen sich etwa beispielhaft die KSSVO sowie die KStVO nennen oder auch die immer mehr erweiterten Kompetenzen der Sondergerichte und des Volksgerichtshofes, der sich nach Amtsantritt Roland Freislers auch personell radikalisierte. Es mehrten sich darüber hinaus direkte Interventionen der politischen Führung in das Recht: Führererlasse (statt: Gesetze) sahen direkte Eingriffe vor, der Druck auf Richter wurde deutlich verschärft, Hitler machte aus seinem Unmut über Gerichte, die nicht stramm auf Kurs urteilten, auch öffentlich und selbst im Reichstag keinen Hehl mehr.

Dem NS-Maßnahmenstaat gelang es in jener zweiten Phase schließlich, den Normenstaat faktisch zu verdrängen: Die neuen Verhältnisse machten sich nicht zuletzt auch im Zuge der Judenverfolgung, der nun nicht mehr formalisierten, sondern „wilden Euthanasie“ (vgl. Mattner 2000: 74) und zahlreichen anderen, radikalen Exklusionsmaßnahmen bemerkbar, die letztlich im Holocaust endeten, die aber ohne formalrechtliche Grundlage, allen voran auf der Basis politischer, militärischer und polizeilicher (also rein administrativer) Befehle erfolgten, in intransparenter Weise. Der Maßnahmenstaat hatte mittlerweile seine Stellung innerhalb des politischen Zentrums so weit ausgebaut, dass er auf die normenstaatlichen Grenzen immer weniger Rücksicht nehmen musste und sie folglich auch immer weniger auch nur beachtete. Der Normenstaat bestand formal – und auch, in jenen Fällen, in denen er den Nationalsozialisten politisch nicht in die Quere kam – weiter, war dem Maßnahmenstaat nun aber klar untergeordnet und wurde von diesem zumeist schlicht übergangen. Im reflexionstheoretischen Bereich manifestierte sich dieser Wandel in der Ablösung Schmitts und der Professoren der Kieler Schule als „Kronjuristen“ des Dritten Reiches, die mit ihrem intellektuellen Anspruch nicht mehr in die (Kriegs-)Zeit passten und weitestgehend von radikaleren SS-Juristen wie etwa Werner Best verdrängt wurden. In jener Phase der funktionalen, politisierenden Entdifferenzierung lassen sich nun nicht mehr nur lediglich ein hierarchisiertes Systemverhältnis von Politik und Recht, sondern klare und massive Auflösungserscheinungen der Grenzen des Rechtssystems beobachten, in dessen Rechtsprechung politisch relativ folgenlos interveniert bzw. das folgenlos vom politischen System und seinem administrativen Zentrum übergangen werden konnte. Gleichwohl: In seinem Bestand gänzlich aufgelöst war es auch in dieser Phase, bis ca. 1944, noch nicht – zumindest in „unpolitischen“ Sphären konnte es recht unbehelligt weiterarbeiten.

Eine fast gänzliche Entdifferenzierung markiert schließlich die Schlussphase des Dritten Reiches, die zugleich die dritte Phase der beschriebenen Entwicklungen darstellt. In den letzten Kriegsmonaten und -wochen des Jahres 1945 bis zur Kapitulation zeigte sich nicht nur eine Auflösung der Infrastruktur und des Territoriums des Deutschen Reiches, sondern auch eine nahezu komplette Aufhebung der Systemgrenze zwischen Politik und Recht. Sogenannte Schnelljustiz, Standgerichtsverfahren und eine politisch-zentral zwar gewollte und forcierte, aber in der Folge dann dezentral umgesetzte und vollstreckte Willkür kennzeichneten die Endphase des Dritten Reiches, in der die Ironie zum Ausdruck kam, dass sich ausgerechnet in der Zeit, in der die Niederlage eintrat, noch ein letztes Mal das Ziel der umfassend totalitären Gesellschaft in seiner Reinform erfüllte. In den letzten, für die Bevölkerung in jeder Hinsicht existenziellen Kriegsmonaten war tatsächlich „alles“ irgendwie politisch – es ging um Überleben oder Sterben, Sein oder Nicht-Sein, Freund oder Feind. Der Funktionscode des Politischen, der sich im totalen Kriegszustand in massiver Form zuspitzte, dominierte alles – und auch an eine ansatzweise ordentliche, konventionelle, selbstgesteuerte Rechtsprechung war in jener Zeit nicht mehr zu denken. Das Recht war gänzlich – und für jedermann – „entkernt“; es zählte nur noch die politische Logik im Sinne der Frage: Für uns oder gegen uns?

Die Kriegsphase ab 1939, besonders aber jene letzten Kriegswochen und -monate im Jahre 1945 zeigen auch nochmals in klarer Form auf, wie sehr Kruses (2015) Erkenntnis und Konzeptualisierung kriegsgesellschaftlicher Dynamiken und ihrer sozialstrukturellen Einflüsse ein systemtheoretisches Modell von Zuständen und Wandlungsprozessen der funktionalen Entdifferenzierung notwendig macht. Die Untersuchungen zur Kriegsgesellschaft zeigen wie auch die empirische Beleuchtung des Verhältnisses von politischem System und Rechtssystem im Dritten Reich besonders eindrücklich, wie zunächst der Vorkriegszustand, dann der Kriegszustand und schließlich der „totale“ Kriegszustand die existenzielle politische Logik von Freund und Feind immer dominanter, d. h. gesellschaftshegemonialer und interventionistischer werden ließen und dabei schrittweise immer mehr andere gesellschaftliche Sphären beiseite drängten, hierarchisch unterordneten und / oder schließlich sogar eliminierten bzw. dies versuchten.

Wie keine andere Theorie bietet die soziologische Systemtheorie mit ihrem Differenzierungskonzept und dem komplexen, darauf aufbauenden Gedankengebäude ein feines, mehrdimensionales Instrumentarium, um die Erkenntnis kriegsgesellschaftlicher Dynamiken und Entwicklungen zu systematisieren – und dies auf eine Weise, die der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes hinreichend Rechnung trägt. So beleuchtet das Konzept der Kriegsgesellschaft zwar ein historisch und sicherlich auch gegenwärtig einflussreiches und besonderes Phänomen, arbeitet dabei aber streng genommen mit Begrifflichkeiten, die der Komplexität des Gegenstandes am Ende eigentlich nicht genügen können. Immerhin geht es bei der Entwicklung etwa des Dritten Reiches (wie auch gewiss vieler anderer totalitärer, entdifferenzierender Regierungssysteme) nicht nur um tatsächlichen Krieg oder Frieden im Sinne einer militärischen Auseinandersetzung bzw. des Fehlens einer solchen, sondern auch um Phasen der Kriegsvorbereitung, des Kriegszustandes im Frieden (1933 bis 1939), sowie um qualitativ unterschiedlich folgenreiche Phasen eines Krieges (1939 bis 1944 in Abgrenzung zur Situation in der ersten Jahreshälfte 1945).

Das Konzept der Entdifferenzierung als notwendiger Gegenbegriff zur Differenzierung bietet dem Anwender, sofern es graduell verstanden wird (dies ist dafür freilich zwingende Notwendigkeit!), eine von empirischen, bereits stark mit allzu politischen und militärischen Bedeutungen assoziierten Konzepten wie dem des Krieges zunächst einmal (!) losgelöste Perspektive, die imstande ist, den Gegenstand zuallererst in einem eindeutig theoretischen Sinne zu fassen und dadurch übergeordnete makrosoziologische bzw. gesellschaftsstrukturelle Phänomene, ja vielleicht gar Gesetzmäßigkeiten auszumachen, wie sie sich im hiesigen Untersuchungsgegenstand manifestieren: „Der Direktanschluss der Rechtsordnung an die herrschende Systemideologie ist das herausstechende Merkmal und Kennzeichen diktatorischer Staatsordnungen“ (Rüthers 2005: 90). Als systemtheoretisch inspirierter Beobachter können wir hier zumindest hinzufügen: Der Versuch dessen ist es jedenfalls allemal – und je mehr sich etwa kriegsgesellschaftliche Dynamiken dazugesellen, desto erfolgreicher wird dieser Versuch ausfallen und desto mehr wird sich eine zuvor vorhanden gewesene funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur auf dem Rückzug befinden. Insofern kann für das Dritte Reich auch klar und deutlich konstatiert werden: „Entrechtlichung im Sinne funktionaler Entdifferenzierung läßt sich indessen klar festhalten“ (Gosewinkel 2005: XLVI). Eindeutig ist anzuerkennen, dass es im Dritten Reich einen „Verfall spezifisch rechtlicher Methoden und Instrumente der Normproduktion und Ordnungserneuerung, die das Staatsrecht von der Staatspolitik unterschieden und der Politik gegenüber stabilisierten“ (ebd.: XLVI), gegeben hat, mit der Folge „unübersehbare[r] Differenzierungsverluste im Verhältnis zwischen Recht und Politik“ (ebd.: XLVII). Daher gilt: „Die (…) Frage, inwieweit das Recht als selbständiges, in seinen Formen von der Politik unterscheidbares Subsystem erhalten blieb, ist der Tendenz nach negativ zu beantworten“ (ebd.: LIf.).

Welchen Stellenwert hat nun Entdifferenzierung im bekannten systemtheoretischen Dreiklang von segmentär über stratifikatorisch bis hin zu funktional differenzierter Gesellschaft, die mit dem in diesem zu beobachtenden Anstieg an Komplexität und Kontingenz, der der Modernisierung innewohnt, von einer gesellschaftlichen Evolution ausgeht? Klar ist: Weder ist es sinnvoll, Entdifferenzierung lediglich, wie Parsons, als krisenhaften „Übergangsstress“ auf dem Weg hin zur Moderne zu charakterisieren (vgl. Feldmann 2000: 320f.), noch ist sie automatisch ein Teilschritt einer sozialen Evolution, wie sie Buß und Schöps (1979) sahen. Wie wir bereits deutlich gemacht haben, können grundsätzlich sowohl differenzierende als auch entdifferenzierende Entwicklungen evolutionäre Schritte beinhalten. Eine allzu dichotomische Beurteilung ist hier ebenso wenig sinnvoll wie hinsichtlich des Begriffspaars Differenzierung / Entdifferenzierung generell.

Das gilt umso mehr – und hier gelangen wir bereits zum Ausblick und etwaigen weiterführenden Anschluss- und Forschungsfragen –, als dass für eine konkrete Beurteilung zunächst die Ebene, die Verortung und die Intensität der jeweiligen Entdifferenzierung geklärt werden müsste: Hat man es mit der strukturellen Entdifferenzierung innerhalb eines Funktionssystems bzw. etwa zwischen oder in Organisationssystemen zu tun – oder tatsächlich mit funktionaler Entdifferenzierung? Ist es tatsächlich eine politisierende Entdifferenzierung oder eine, die zwischen ganz anderen Funktionssystemen stattfindet (beispielsweise in Form einer Ökonomisierung der Wissenschaft)? Wenn ersteres: Welches andere gesellschaftliche Teilsystem wird politisiert? Und abseits davon: In welcher Intensität – in lediglich punktuell-defekter, in autoritärer oder gar, wie im Falle des Dritten Reiches allerspätestens ab ca. 1939, in klar totalitärer Form? Welche Folgen hat in einem dieser drei Fälle die politisierende Entdifferenzierung für die restliche Gesellschaft?

Die Plausibilität der letzten Frage spricht, und dies ist eine weitere Erkenntnis dieser Untersuchung, dafür, dass auch in funktional differenzierten Gesellschaften die Annahme eines absolut horizontalen, im Sinne von: absolut gleichwertigen Verhältnisses aller Funktionssysteme und ihrer strukturellen Kopplungen zueinander schwer durchzuhalten ist. Dies bedeutet freilich keine Infragestellung ihres differenzierten Systemzustandes, also der Intaktheit ihrer Systemgrenzen, innerhalb einer entsprechenden modernen Gesellschaftsstruktur, transportiert aber durchaus die Feststellung, dass die Verfassung als strukturelle Kopplung von Politik und Recht auch für ganz andere Funktionssysteme eine tragende, geradezu existenzielle Rolle spielt oder zumindest spielen kann, wie die hohe Bedeutung zeigt, die die Grundrechte einer modernen Verfassung für die Aufrechterhaltung der Autonomie gegenüber dem politischen System innehaben. Das bedeutet freilich nicht, dass es immer eine Verfassung bräuchte, um eine funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur zu bewahren (hier wäre Großbritannien ein empirisches Gegenbeispiel), ebenso wenig wie (funktionale) Entdifferenzierung immer die Außerkraftsetzung einer Verfassung voraussetzt (man denke hier exemplarisch an lediglich korrupte, also „defekte“ oder autoritäre Staaten, in Abgrenzung zu totalitären Modellen). Es zeigt aber, dass die Außerkraftsetzung einer Verfassung als struktureller Kopplung äußerst einschneidende Entwicklungen hin zur politisierenden Entdifferenzierung – die dann u. a. auf operativer Kopplung von Politik und Recht beruht, welche direkte Steuerung ermöglicht – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit noch ganz anderer Funktionssysteme außer dem Recht nach sich ziehen kann, wie auch die Entwicklung des Dritten Reiches beweist.

Hieraus ergeben sich zugleich weitere mögliche Forschungsfragen, die an diese Arbeit anschließen könnten: Abseits der (gleichwohl nicht unwichtigen) theoretischen „Nebenfragen“, wie eben jene oben genannten Fälle zu erklären sind, in denen eine funktional differenzierte, moderne Gesellschaftsstruktur auch ohne die Grundlage einer Verfassung als struktureller Kopplung von Politik und Recht zustande kommen konnte, und wie es möglich ist, dass Entdifferenzierung in leichterer Form auch ohne mehr oder weniger offen formalisierte Außerkraftsetzung einer Verfassung Bestand haben kann (hier könnte sich die zuvor schon thematisierte neo-institutionalistische Perspektive als theoretische „Brille“ anbieten), lenkt dies insbesondere den Blick auf andere Systemverhältnisse im Dritten Reich. Man denke hier beispielsweise an die Politisierung der Massenmedien, bei der die Schaffung und Ausdifferenzierung einer neuen Organisation, des Reichspropagandaministeriums, eine (politisch-)zentrale Rolle gespielt haben dürfte. Bei der Frage nach politisierender Entdifferenzierung etwa des Wissenschaftssystems werden direkte Zusammenhänge u. a. zur Reflexionstheorie des Rechts sichtbar, ebenso wie aber auch zahlreiche andere Schauplätze, bei denen die Nationalsozialisten zwischen pragmatischer Zurückhaltung einerseits und totalitär-politischer Ideologisierung andererseits schwankten. Das Verhältnis der Politik zum Wirtschaftssystem bietet Anlass für zahlreiche Debatten, da die Struktur einer „Zentralplanwirtschaft mit Privateigentum“ (außer für die exkludierten Teile der Bevölkerung), die das NS-Wirtschaftssystem auszeichnete, die systemtheoretische Einordnung dessen zu einer Herausforderung macht, die jedoch wiederum in einem mindestens mittelbaren Zusammenhang zur Politisierung des Rechts steht. Beim Verhältnis der Politik zur Religion hingegen bietet sich augenscheinlich ein anderes Bild: Mehrere Versuche einer Politisierung scheiterten zunächst, da man im Krieg störende innere Konflikte im Volk befürchtete. Hier könnte man also Fragen, ob die kriegsgesellschaftliche Dynamik nicht eher die Aufrechterhaltung eines funktional differenzierten Systemverhältnisses bestärkte – jedenfalls zunächst. 

In jedem Fall wird deutlich, dass die hier untersuchte Frage nach dem Spannungsfeld von Differenzierung und Entdifferenzierung von Politik und Recht im Nationalsozialismus sowohl entscheidende Erkenntnisse für die Beobachtungs- und Analysefähigkeit der soziologischen Systemtheorie als auch zahlreiche Folgefragen bereithält, die zweifelsfrei geeignet sind, die auch dieser Analyse zugrundeliegende Problematik noch vertiefter zu beleuchten. Mit einer ähnlich gearteten Analyse für andere funktionssystemische Verhältnisse jener Zeit ergäbe sich beispielsweise die Möglichkeit, die von Pollack (1990a, 1990b, 1991, 1994) hinsichtlich der DDR aufgeworfene Theorie der Organisationsgesellschaft auch auf das Dritte Reich anzuwenden und umfassend zu überprüfen. Es bleibt zu wünschen, dass die Soziologie diese Fragen nicht nur der Geschichtswissenschaft überlässt, sondern sie selbst auch weiterhin und in verstärktem Maße angeht. Es wird sich lohnen.

 

Literatur

Buß, Eugen / Schöps, Martina (1979). Die gesellschaftliche Entdifferenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie, 8. Jg., S. 315-329.

Feldmann, Klaus (2000). Soziologie kompakt. Eine Einführung Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.

Gosewinkel, Dieter (2005). Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Forschung und Forschungsperspektiven. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. IX-LIX.

Herbst, Ludolf (2005). Steuerung der Wirtschaft im Nationalsozialismus? Systemtheoretische Aspekte. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. 3-13.

Kruse, Volker (2015). Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. München / Konstanz: UVK.

Mattner, Dieter (2000). Behinderte Menschen in der Gesellschaft. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer.

Pollack, Detlef (1990a). Das Ende der Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR. In: Zeitschrift für Soziologie, 19. Jg., Heft 4, S. 292-307.

Pollack, Detlef (1990b). Wer leitete die ‚Wende‘ ein? Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR aus systemtheoretischer Perspektive. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 13 / 1990, S. 167-177.

Pollack, Detlef (1991). Von der Organisationsgesellschaft zur Risikogesellschaft. Soziologische Überlegungen zu den gesellschaftlichen Transformationsprozessen in Ostdeutschland. In: Berliner Journal für Soziologie 1 / 1991, S. 451-455.

Pollack, Detlef (1994). Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR. Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer.

Rüthers, Bernd (2005). Steuerung der Wirtschaft durch Auslegung. Zur Themenstellung: Rechtsanwendung und Rechtsetzung als Steuerungsmittel der Diktatur. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. 75-90.

Schmitt, Carl (1934). Der Führer schützt das Recht. In: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 39, Heft 15, S. 945-950.

Willke, Helmut (2001). Systemtheorie III: Steuerungstheorie (3. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius.

Willke, Helmut (2006). Systemtheorie I: Grundlagen (7. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius.

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