Zwischen Distanzeritis und Dämonisierung

Chancen und Risiken einer Wagenknecht-Partei – Eine Analyse

Die Aussicht, daß Sahra Wagenknecht Ende des Jahres eine eigene Partei ins Leben rufen könnte, hält ihre bisherige politische Heimat Die LINKE in Atem – für sie würde es vermutlich das wohlverdiente Ende bedeuten. Doch die Aussicht einer solchen Parteineugründung schwebt nicht nur über den LINKEN wie ein Damokles-Schwert. Auch die AfD hätte vieles zu verlieren: Gewiß, es wäre nicht ihr Ende als parlamentarische Partei. Gewiß aber wäre es das Ende des derzeitigen Höhenfluges: Jüngst haben Umfragen prophezeit, daß die Wagenknecht-Liste in Thüringen womöglich Siegerin wäre und die dort bisher erfolgsverwöhnte AfD auf den zweiten Platz verdammen würde. Man darf daher annehmen, daß – auch wenn Wagenknecht selbst aufrichtige ideelle Motive haben dürfte – eine solche Entwicklung dem derzeit vor Angst zitternden politischen und medialen Establishment gerade recht käme. Doch mit welcher weiteren Entwicklung müßten wir in einem solchen Fall rechnen und vor welchen Chancen und Problemen stünde eine neue Wagenknecht-Partei?

Politische Kulturen im Vergleich

Die politische Kultur der Deutschen hat eine gewichtige Gemeinsamkeit mit der der Franzosen, welche wiederum beide von denen der Angelsachsen in Großbritannien und in Nordamerika unterscheidet: Der Kontinentaleuropäer „als solcher“ tickt etatistisch. Dies ist nicht nur intuitiv dahingesagt, auch wenn es vielen sicherlich bereits „aus dem Bauch heraus“ einleuchtend erscheint: Auch risikosoziologisch-kulturtheoretische Forschungen, mit denen sich der Autor dieser Zeilen im Rahmen seiner Master-Arbeit vor jetzt genau 10 Jahren hat auseinandersetzen dürfen, haben gezeigt, daß in der angelsächsischen politischen Kultur ein marktindividualistisches Element vorherrschend ist, welches eine Politik begünstigt, die auf mehr individuelles Risiko, „gewagtere“ Energie- und Außenpolitik und weniger soziale Sicherung durch den Staat setzt. In Kontinentaleuropa herrschen dagegen egalitärere und kollektivistischere Auffassungen, die mehr Etatismus erwarten lassen: Mehr Absicherung durch den Staat, sowohl im sozioökonomischen als auch etwa im ökologischen bzw. Energie-Bereich, mehr außenpolitische Zurückhaltung, konsensuale Strukturen der Politikgestaltung (Koalitionszwänge, mehr Macht-Verteilung) statt teils brachialer Mehrheitsentscheidungen durch die jeweils regierende Partei, wie im UK oder in den USA der Fall.

Diese Unterschiede gründen sich in teils Jahrhunderte alten politischen Grundmentalitäten, die mit den Gründungsmythen der betreffenden Nationen und dem kollektiven Gedächtnis ihrer Gesellschaften zusammenhängen: Der US-amerikanische Traum der Unabhängigkeit, der individuellen Leistungsbereitschaft, der Mythos des Siedlers, der es durch eigene Kraft schafft, ohne von einem übermächtigen Staat bevormundet zu werden, der den amerikanischen Siedlern früherer Zeiten wie ein Trauma aus der europäischen Familiengeschichte im Kopf herumspukte.

Die deutsche Mentalität ist und bleibt hier das Gegenstück: Man setzt primär auf Sicherheit statt auf Freiheit und richtet daher entsprechende Erwartungen auch an die Parteien. Während das liberale Gedankengut, das in Deutschland bei der FDP zu finden ist, in den USA in verschiedenen Ausformungen im Grunde beide dominante Parteien prägt (die Demokraten vor allem gesellschaftspolitisch, die Republikaner zumindest wirtschafts- und sozialpolitisch) und in Großbritannien immerhin stark in der Konservativen Partei zu finden ist, führt es hierzulande seit jeher ein Schattendasein und kämpft regelmäßig wieder mit der Fünfprozenthürde. Bereits seit Bismarcks Zeiten ist kontinentaleuropäischer Konservatismus gezwungen, etatistisch bis staatssozialistisch zu werden, wenn er Erfolg haben will: Etwas, was auch die AfD lernen mußte, die je stärker wurde, desto mehr sie sich von ihren liberalen Protagonisten von Lucke bis Meuthen gelöst hat. In Frankreich derweil verfolgt der Rassemblement National im Feld der Sozial- und Wirtschaftspolitik quasi ein sozialistisches Programm. Auch dort gilt: Konservatismus ist das Gegenmodell zum Liberalismus, und nicht, wie in den USA und im UK, dessen Alliierter (jedenfalls des Wirtschaftsliberalismus).

Herausforderung für die AfD

In diesen Faktoren liegen die Gründe dafür, weswegen eine „linkskonservative“ Wagenknecht-Liste in Deutschland echte Chancen hätte, während die FDP seit Jahrzehnten ein politisches Wurmfortsatz-Dasein fristet und „liberalkonservative“ Neugründungen aus der Ecke gescheiterter Ex-AfD-Politiker allesamt versandeten. Aus dieser Erkenntnis, die demoskopisch und politsoziologisch so klar wie offensichtlich ist, ergibt sich vor allem auch eine Botschaft an die AfD: Wenn sie in der Auseinandersetzung mit einer etwaigen neuen linkskonservativen Kraft nicht massiv an Boden verlieren will, muß sie volksnah bleiben, also pro-sozialstaatlich und nah bei der arbeitenden Bevölkerung – anstatt auf neoliberale „Privat vor Staat“-Semantik zu setzen. Dies muß sie zugleich authentisch verkörpern, ohne dabei den Verdacht aufkommen zu lassen, nur oberflächliche sozialpopulistische Rhetorik zu pflegen – d. h., es sollte sich auch in ihrer parlamentarischen Praxis und ihrer inhaltlichen Arbeit im Rahmen dieser niederschlagen.

Doch trotz dieser unbestreitbaren Erfolgsaussichten für eine linkskonservative Kraft (die natürlich auch vom Charisma und von der rhetorischen und intellektuellen Schärfe Wagenknechts stark profitieren würde) stünde diese auch vor nicht unbeträchtlichen Problemen, die sie – nach einem vermutlich anfänglich eintretenden Hype – mittel- bis langfristig in ihrer Existenz gefährden könnte: Von der personalpolitischen Frage abgesehen, ob sie denn auch ohne Wagenknecht überleben und fortbestehen könnte, so würde vermutlich ein unweigerlicher Effekt noch eher eintreten – nämlich der Drahtseilakt zwischen Distanzeritis und Dämonisierung.

Das Personalproblem

Ein Problem hätte die Partei schon von Beginn an ganz gewiß: Personalmangel. Die Anzahl der LINKE-Mitglieder ist relativ überschaubar, die der Wagenknecht-Unterstützer in der Linkspartei noch mehr – und noch mehr wiederum die jener Wagenknecht-Unterstützer, die denn auch tatsächlich mit überwechseln würden. Ein Alarmsignal dahingehend war erst kürzlich eine unterschriebene Erklärung aller LINKE-Abgeordneten aus Sachsen (Landtag, Bundestag, EU), man werde auf jeden Fall in der Linkspartei bleiben. Nun ist der Landesverband Sachsen der Linkspartei zwar ohnehin nicht als Wagenknecht-nah bekannt, doch auch Wagenknecht-Unterstützer befanden sich unter den Unterzeichnern. In ihrem ihr eigentlich verhältnismäßig wohl gesonnenen Heimat-Landesverband Nordrhein-Westfalen verlor Wagenknecht zudem erst kürzlich auf Beschluss ihrer örtlichen Genossen hin ihr Bundestagsbüro.

Offenkundig ist, daß selbst antiimperialistische, nicht-globalistische und pro-nationalstaatliche „Altlinke“, die nicht dem grün-urbanen, linksliberal-transatlantischen und antideutschen Trend ihrer Parteiführung frönen, äußerst vorsichtig sind und vor einem Parteiwechsel, der nicht weniger als den Tod der Linkspartei zur Folge haben könnte, zurückschrecken. Dies mag auch daran liegen, daß man in jenen Sphären Wagenknecht etwa bei ihrer Migrationsskepsis durchaus zustimmen mag, daß das Thema aber in diesen Kreisen nicht so stark priorisiert wird wie etwa sozial- und wirtschaftspolitische Fragen und man deswegen eher bereit ist, diese Kröte zu schlucken, um das linke Lager am Ende nicht zu spalten. Derartige Selbstüberwindungen erfordert im Grunde jedes demokratische Parteiensystem: Hundertprozentig „auf Linie“ sind die allerwenigsten, irgendetwas stört einen auch an der eigenen Partei immer – doch wenn der Störfaktor in einem politischen Feld liegt, das für den Betreffenden keine allzu hohe Priorität hat, kann man eben damit leben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es gerade diese Dynamik sein würde, die zu einem eklatanten Personalmangel der möglichen neuen Partei beitragen könnte.

Der Drahtseilakt

Das Folgeproblem liegt nun nahe: Finden sich bei einer solchen „Querfront“-Gründung also nicht genug Personen von links und fischt die neue Partei dann zugleich in den Gewässern der AfD, so ist zu erwarten, daß neue Akteure von der rechten Seite des Spektrums dazustoßen könnten (etwa solche, denen die AfD nicht sozialstaatlich oder ökologisch genug ausgerichtet ist). Spätestens ab diesem Punkt stünde die neue Partei dann vor der medialen Feuerprobe, denn die etablierten Medien würden sogleich die ganz schweren politrhetorischen und diskreditierenden Hämmer rausholen. Bereits in der Vergangenheit las man in etablierten Medien im Zusammenhang mit den Positionierungen Wagenknechts andeutungsreiche Formulierungen wie „national-sozial“ oder „nationalbolschewistisch“ – also Begriffe, deren Verwender an den Redaktionsschreibtischen ganz genau um die Assoziationen wissen, die diese beim Leser auslösen sollen. Es braucht nun nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen, was geschähe, wenn plötzlich auch noch Personen aus dem rechten Spektrum zu ihr stießen.

Hier stünde Wagenknecht nun vor zwei Möglichkeiten:

Erste Option: Offenheit nach rechts. Wagenknechts Vorteil wäre: Die neue Partei könnte schonungslos bei der AfD „wildern“ und hätte vermutlich binnen kürzester Zeit eine stabile Wählerschaft und Personal. Der Nachteil: Die Partei erführe ebenso binnen kürzester Zeit die gleiche Behandlung wie die AfD durch Medien und „Verfassungsschutz“: Dämonisierung, Etikettierung als „rechtsextrem“, VS-Beobachtungen, politische Ausgrenzung, soziale Sanktionen für Mitglieder und Aktive und – nicht zuletzt – endgültiges Entziehen der Rolle als Publikumsliebling, Talkshow-Dauergast und Beststeller-Autorin für Wagenknecht persönlich. Es ist zweifelhaft, ob sie diese Nachteile einfach so in Kauf zu nehmen bereit wäre.

Zweite Option: Distanzeritis. Um sich nicht wie die AfD dem allgemein medial wiederholten und später unweigerlich auch vom VS erhobenen Vorwurf auszusetzen, „Rechtsextreme in der Partei zu dulden“ und dadurch selbst einer entsprechenden Nähe beschuldigt zu werden, müßte sie im Rahmen dieser Option auf die Meuthen-Strategie der ständigen Distanzierung setzen. Kein Beitritt früherer AfD- oder anderer früherer Mitglieder rechter Parteien, strikte und extrem weitreichende Unvereinbarkeitsliste, dauerhaftes Postulieren, daß man mit diesem und jenem niemals zusammenarbeitet und auf keinen Fall etwas zu tun haben will. Zugleich: Programmatische Zugeständnisse ans Establishment (z. B. im Sinne von: Migration begrenzen, aber LGBT- und Gender-Folklore tolerieren; zwar gegen NATO und Waffenlieferungen, aber grundsätzlich nichts gegen Islam und multikulturelle Gesellschaft usw.). Der Vorteil: Beibehaltung der „Koalitionsfähigkeit“ mit etablierten Parteien auf kommunaler und eventuell Landes-Ebene, wenigstens zum Teil wohlwollende Aufmerksamkeit und ansonsten Duldung durch etablierte Medien, weiterhin herausgehobene öffentliche Rolle Wagenknechts als unbestritten kompetente Publizistin. Der Nachteil jedoch: Massiver Personalmangel und – nicht zuletzt – Wegfallen von anfänglich zugewandten Wählern, die wieder zur AfD tendieren würden, weil sie früher oder später merken, daß sie bei der Wagenknecht-Partei zwar als „Stimmvieh“ gern gesehen wären, aber nicht als Mitglieder oder gar als entscheidende Akteure.

Ein Dilemma 

Auf eine dieser beiden Optionen müßte es – das kann man basierend auf den inzwischen ja reichhaltigen AfD-Erfahrungen sicher sagen – für die mögliche neue Partei geradezu unweigerlich hinauslaufen. Früher oder später wäre das Dilemma da und Grundsatzentscheidungen wären gefragt. In diesen und den kommenden Monaten dürften Wagenknecht und ihre Unterstützer ausloten, wie diese ausfallen würden. Klar bleibt aber: Einfach würde es für das betroffene „politische Dreieck“ bestehend aus LINKE, AfD und der etwaigen neuen Partei nicht werden. Für die LINKE sowieso nicht; für AfD und Wagenknecht aber eben genauso wenig. Es bleibt spannend.

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