Entdifferenzierung VI: Kriegsgesellschaften

Ein Ansatz, der zwar eigentlich nicht aus dem systemtheoretischen Kontext stammt, der aber, wie wir zeigen werden, durchaus auf die systemtheoretische Konzeption übertragbar ist, ist der der Kriegsgesellschaften, welchen Volker Kruse (2009; 2015) unter Rückgriff auf die Theorie Herbert Spencers (2010) ausgearbeitet hat. Kruse bezieht sich in seiner Ausarbeitung auf Spencers Unterscheidung des industrial type of society und des militant type of society, die im Wesentlichen die für Kruses Kriegssoziologie relevante gesellschaftstypologische Differenzierung darstellt (vgl. Kruse 2015: 38-45). Das unzweifelhaft Interessante und auch Aufschlussreiche an dieser Unterscheidung stellt ihre gänzlich andere, sich von herkömmlichen Gesellschaftstypologien unterscheidende Prioritätensetzung dar: So richtet diese sich eben nicht mehr, wie noch bei Klassikern wie Saint-Simon und Comte, Marx und Engels, Tönnies, Durkheim und auch Luhmann üblich, nach einer grob erkennbaren, progressiven historischen Abfolge von „vormodern“ hin zu „modern“ aus, sondern unterscheidet zwischen Gesellschaftstypen, welche global bzw. international gesehen gestern wie heute gleichzeitig vorkommen konnten und können, die einander durch verschiedenste Umstände ablösen können (vgl. ebd.: 37ff.; 44), weswegen Kruse bewusst von einer „kriegsgesellschaftlichen Moderne“ spricht: Er nimmt an, „dass wir es nicht mit einer Moderne, sondern quasi mit zwei Modernen oder besser: einer doppelten, doppelgestaltigen Moderne zu tun haben, einer zivilgesellschaftlichen und einer kriegsgesellschaftlichen Moderne“ (Kruse 2015: 45). Diese Unterscheidung gilt gewissermaßen analog zu konventionelleren Differenzierungen, die wir aus der Politikwissenschaft und den Wirtschaftswissenschaften kennen, in denen etwa zwischen Demokratie und Diktatur bzw. zwischen Marktwirtschaft und Zentralplanwirtschaft unterschieden wird (vgl. ebd.: 45). Diese unkonventionelle Sichtweise delegitimiert selbstverständlich nicht andere, auf voranschreitende gesellschaftliche Entwicklung abstellende Typologien, ist aber, wie wir unten aufzeigen werden, imstande, zumindest die systemtheoretische Typologie analytisch auf eine Weise zu bereichern, die dazu beitragen kann, ihr eine „Brille“ für Gesellschaftsstrukturen zu verschaffen, für die sie bislang eher „blind“ war. Damit stellt sie inmitten der großen Gesellschaftstheorien der Soziologie des 19. und des 20. Jahrhunderts keine Ausnahme dar: Kruse kritisiert einleitend und, aus unserer Sicht durchaus zu Recht, dass die Soziologie Gesellschaften im Kriegszustand und ihre spezifisch dabei herausgebildeten Strukturen bislang zwar nicht komplett, aber dennoch zu sehr ignoriert hat (vgl. ebd.: 23-26).

Wie hat nun Spencer seine Theorie über industrielle und kriegerische Gesellschaften aufgebaut, an der sich Kruse in seiner Untersuchung orientiert? Zunächst einmal wird der historische Kontext von Spencers Theorie deutlich, der spürbar durch die „sozialdarwinistische Grundstimmung“ jener Zeit geprägt ist, wenn er postuliert, dass alles „natürliche und gesellschaftliche Leben (…) Kampf ums Dasein [ist]“ (ebd.: 39) – in beiden Gesellschaftsformen. Zudem stellen sowohl die eine wie auch die andere Gesellschaftsform – ebenso wie natürlich auch die von den oben genannten übrigen Autoren inklusive Luhmann postulierten Gesellschaftstypen – Idealtypen im Sinne Max Webers (2002: 125f.) dar, welche demnach in der Realität in der „Reinform“ so gut wie gar nicht vorzufinden sein dürften (vgl. Kruse 2015: 35). In der Empirie sind also in jeder industriellen Gesellschaft auch kriegerische und in jeder kriegerischen Gesellschaft auch zivilgesellschaftliche Elemente auszumachen (vgl. ebd.: 44), erst recht natürlich im Prozess der Transformation vom einen zum anderen. Übrigens liefert auch diese wichtige Anmerkung wieder ein Argument dafür, weshalb es auch für die Systemtheorie mehr als sinnig ist, von einem gradualisierbaren Verständnis von Differenzierung und Entdifferenzierung auszugehen anstatt von einem streng dichotomischen „Entweder-oder“-Verhältnis: Letzteres wäre in gewissem Sinne ein zu wörtliches Verständnis der soziologischen Pflicht zur Idealtypenbildung. Diese soll eben der (am Ende auch immer empirischen) Erkenntnis dienen, sie nicht aber zum theoretischen Selbstzweck verabsolutieren.

Im Friedenszustand dominiert die industrielle Gesellschaft, in der dieser Kampf durchaus weiterhin anhält, aber mit friedlichen Mitteln ausgefochten wird, während Werte wie Individualität und Selbstbestimmung, Privateigentum, internationale Zusammenarbeit und liberale Prinzipien dominieren (vgl. ebd.: 39f.). Kriegerische Gesellschaften markieren dagegen das andere Ende der Skala: In ihnen dominiert ein Mobilisierungswettlauf, der die Grundlage für eine entsprechende gesellschaftsstrukturelle Transformation bildet (vgl. ebd.: 45) und der einerseits über die kämpfende und andererseits über die versorgende Bevölkerung funktioniert, welche Waffen, Nachschub, Ausrüstung und Versorgung gewährleistet (vgl. ebd.: 41). Derlei Anforderungen haben beträchtliche Folgen für kriegsgesellschaftliche Strukturen, denn – und hier kommen wir nun zum für diese Arbeit entscheidenden Punkt der Sichtweise Spencers – eine „Gesellschaft unter Kriegsbedingungen wird (…) von der Spitze her gesteuert. Nur ein starker, tendenziell diktatorischer Staat kann das Gemeininteresse gegenüber den Individualinteressen durchsetzen (…). Die Organisation des Militärs wird zum Paradigma der Struktur der Gesellschaft schlechthin. Gesellschaft unter den Bedingungen eines tendenziell totalen Krieges ist nach dem Vorbild des Militärs organisiert, hierarchisch und graduell abgestuft. Eine Kriegsgesellschaft ist, so gesehen, eine vertikal differenzierte Gesellschaft“ (ebd.: 42). Dies führt unweigerlich weg von liberal-individualistischen Wertesystemen hin zum Kollektivismus, in dem Tapferkeit, Patriotismus, Ehre, Vertrauen, Rache, Gehorsam und altruistischer Selbstmord zu dominierenden Tugenden werden (vgl. ebd.: 42f.).

Kruse übernimmt die Theorie Spencers und nutzt sie als kompakte theoretische Rahmung für seine empirische, kriegs- und historisch-soziologische Untersuchung von kriegsgesellschaftlichen Strukturen im Ersten Weltkrieg, in der stalinistischen Sowjetunion und im Dritten Reich, wobei ihm die letzteren beiden Fälle – aus unserer Sicht zu Recht – als Extremfälle und als Zuspitzungen gelten (vgl. ebd.: 177), die, so viel wird man wohl sagen können, in Hinsicht auf die Theorie der Kriegsgesellschaft sogar dem Weberschen Idealtypus recht nahe kommen dürften. Kruse betrachtet dabei Kriegsgesellschaften explizit als Gesellschaftssysteme, in denen sich zwar „Restbestände“ an funktionaler Differenzierung wiederfinden lassen, die aber nicht oder nicht mehr als funktional differenzierte Gesellschaften verstanden werden können und in denen stattdessen Entwicklungen und Zustände der Entdifferenzierung in Erscheinung treten (vgl. ebd.: 14f.). Kruse überträgt das Spencer-Modell auf die Systemtheorie nach Luhmann: „Die einzelnen Funktionssysteme operieren nicht mehr autonom, sondern stehen unter der Dominanz einer politisch-militärischen Spitze, welche die (bisherigen) Funktionssysteme zentral zum Zweck effektiver Kriegsführung steuert. Sie beobachten nicht mehr selbstreferentiell, sondern Lehrer, Wissenschaftler, Geistliche, Wirtschaftsführer usw. stellen sich freiwillig in den Dienst der gemeinsamen patriotischen Sache und ordnen sich der politisch-militärischen Führung unter“ (ebd.: 15).

Spencers These einer kriegs- und schon zuvor mobilisierungsbedingten Zentralisierung der gesellschaftlichen Führung und einer quasi militärisch straffen Hierarchisierung der Gesellschaft lässt sich in der Tat – auch aus Kruses Sicht (vgl. ebd.: 18) – systemtheoretisch fassen mit dem Konzept der funktionalen Entdifferenzierung durch die Politisierung ursprünglich politikfremder Funktionssysteme. Exakt diese Entdifferenzierung, diese politisch vorangetriebene Zurückdrängung funktional ausdifferenzierter Strukturen drückt sich aus in der Transformation von der industriellen hin zur kriegerischen Gesellschaft: In der ersteren zeigen sich, nach der Beschreibung Spencers (s. o.), Konstanten der funktionalen Differenzierung, wie etwa liberale Prinzipien und Wahrung des Privateigentums (Schutz der wirtschaftlichen Systemautonomie) und mehr. Letztere hingegen beinhaltet die kollektivistischen Prämissen entdifferenzierter, da zugleich politisierter gesellschaftlicher Strukturen: Patriotismus ist ein originär politischer Wert – und Tugenden wie Gehorsam, Tapferkeit und altruistischer Selbstmord rekurrieren auf kollektive, politisch definierte Werte. Überträgt man die makrosoziologische Leitunterscheidung Spencers und Kruses zudem auf die Systemtheorie, so ist die Entwicklung hin zur funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur auch kein zwingender evolutionärer Schritt mehr, sondern maßgeblich von der Frage „Krieg oder Frieden“ abhängig.

Im Krieg verändert sich nach Kruse schließlich auch der politische Code, der über entsprechende politisierende Entdifferenzierung letztlich zur gesamtgesellschaftlichen Leitunterscheidung wird: „Der Code, mit dem die Spitze die Gesellschaft beobachtet, ist Sieg/Niederlage bzw. Freund/Feind. M. a. W.: Große Krieg[e] führen zu einer veritablen gesellschaftlichen Transformation. Das Ergebnis ist, um es mit Luhmann auszudrücken, eine Gesellschaft mit Zentrum und mit Spitze“ (ebd.: 15). Kruse greift hier also implizit die Theorie Carl Schmitts mit auf und schreibt dem entdifferenzierten und entdifferenzierenden Politischen im Kriegszustand die (veränderte) Leitdifferenz von Freund / Feind (anstatt: Macht / Nicht-Macht) zu, was sich originär auf das politische System im Nationalsozialismus anwenden lässt – auch aus dessen Selbstbeschreibung durch seinen politischen Theoretiker Carl Schmitt (2015) heraus.

Der Begriff des Krieges als massiv strukturverändernde Kommunikationsform ist hier zeitlich gesehen jedoch weiter zu fassen als die Alltagsverwendung nahelegt. Kruse stellt klar, dass „das Dritte Reich (…) nicht erst seit 1939 Kriegsgesellschaft [war], sondern bereits seit den Anfängen oder spätestens seit 1934, als die Aufrüstung für den geplanten Angriffskrieg begann“ (Kruse 2015: 21). Dem kriegsgesellschaftlichen Ansatz liegt also keine rein historisch definierte Terminologie zugrunde, welche sich nach allgemein bekannten Daten und „tatsächlichem“, militärisch getragenen und politisch offiziellen Kriegsgeschehen richten würde (vgl. Kruse 2015: 21), sondern ein durchweg soziologisches Verständnis, das Kriegsgesellschaften gewissermaßen als soziale Systeme ansieht, in denen Konfliktkommunikation vorherrschend ist.

So gesehen beginnen kriegsgesellschaftliche Dynamiken bereits dann, wenn eine – entdifferenzierende und systemübergreifend politisierende – politische Kommunikation beginnt, primär zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und die entsprechenden Systemoperationen nach dieser Leitdifferenz funktionieren. Ab dem Moment also, ab dem sich ein territoriales politisches System faktisch im Kriegszustand mit einem anderen territorialen politischen System sieht, seine außen- und innenpolitischen Maßnahmen vollends auf diesen Zustand ausrichtet (was in der Konsequenz auf funktionale Entdifferenzierung bzw. mindestens versuchte gesellschaftsweite Politisierung hinausläuft), ab diesem Moment kann von einer Kriegsgesellschaft gesprochen werden. Da, wie Kruse schreibt, die Aufrüstung bereits ab 1934 begann (s. o.) – wenn man noch weiter geht, könnte man schon die ideologischen Inhalte des Nationalsozialismus, seine Agitation gegen den Bolschewismus etc., als Kriegskommunikation betrachten, und den Beginn somit noch eher ansetzen – war das Dritte Reich auch schon zu jenem Zeitpunkt eine Kriegsgesellschaft, ohne dass zwischen den Mächten bereits ein Schuss gefallen war. Deutlich wird dadurch im Übrigen auch die wichtige Rolle der nationalsozialistischen Wehrwirtschaft als „Indikator“ für kriegsgesellschaftliche Dynamiken.

Auch mit Blick auf andere „empirische Fälle“ der Weltgeschichte darf der Begriff des Krieges im Rahmen des Ansatzes nicht in einem zu engen Sinne verstanden werden. So betont Kruse etwa auch, dass die kriegsgesellschaftliche Moderne nicht, wie man mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ja zunächst durchaus annehmen könnte, 1945 geendet, sondern mit dem Kalten Krieg weiter fortgeführt worden ist (vgl. ebd.: 21), welcher in der Tat und unzweifelhaft bei den beteiligten Mächten kriegsgesellschaftliche Strukturen aktivierte bzw. deren Beibehaltung bewirkte. Im Ostblock galt dies ohnehin, aber auch im Westen waren immer wieder entsprechende Erscheinungen sichtbar, wenn man an die geheimdienstlichen Auseinandersetzungen, Stellvertreterkriege, Aufrüstung und besonders drastische Fälle wie den massiven Antikommunismus der McCarthy-Ära in den USA, aber auch entsprechende politische Stimmungslagen in der Bundesrepublik Deutschland bis 1968 denkt. Auf der anderen Seite sind jedoch auch nicht alle formellen oder informellen Kriegszustände sogleich als kriegsgesellschaftliche Dynamiken zu verstehen: So darf stark bezweifelt werden, ob die sogenannten „militärischen Interventionen“ der NATO-Staaten insbesondere in der jüngeren Geschichte und infolge des „Kriegs gegen den Terror“ ab 2001 in deren Gesellschaften kriegsgesellschaftlich-strukturbildend gewirkt haben, da, vielleicht noch mit Ausnahme des Irakkrieges der USA ab 2003, die Normalbürger in den jeweils „intervenierenden“ Industriestaaten die Auswirkungen dessen in der Regel nicht allzu gravierend zu spüren bekamen. Insofern kann also auch im Kriegszustand eine Gesellschaft durchaus „zivil“ strukturiert bleiben (vgl. ebd.: 178, Fn. 465) – insbesondere wohl dann, wenn deren Kriege nicht auf dem eigenen Territorium, sondern in mitunter weit entfernten Weltregionen bzw. Entwicklungsländern oder sogenannten failed states ausgefochten werden.

Mit der Theorie Spencers hat der Ansatz Kruses auch gemeinsam, dass in beiden von kriegerischen bzw. Kriegsgesellschaften, also einem Plural von Gesellschaftssystemen, ausgegangen wird, welche sich gemeinhin nach nationalstaatlichen Territorien und Grenzen richten. Dies bedeutet etwas, was zu Spencers Lebzeiten in den Geisteswissenschaften noch nicht ungewöhnlich war, aber heutzutage zumindest erklärungsbedürftig ist: Wie auch in der theoretischen Rahmung unserer Perspektive geht auch Kruse bei den von ihm untersuchten historisch-empirischen Fällen bewusst nicht von der Existenz einer Weltgesellschaft aus, auch wenn diese vor 1914 durchaus schon in wesentlichen Teilen vorlag (vgl. ebd.: 20): „Dies änderte sich jedoch mit dem Ersten Weltkrieg. Die Fronten des Krieges wurden zu unüberbrückbaren Hindernissen für den wechselseitigen und internationalen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Austausch. Grenzen markierten nunmehr einen Herrschaftsraum von diktatorisch regierenden politisch-militärischen Spitzen“ (ebd.: 20). Ähnliches galt bekanntlich auch im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Allerdings ist dieses Argument, wenn man soziologisch „ehrlich“ bleibt, nur auf sehr bestimmte Zeiträume anzuwenden, wenn man etwa bedenkt, dass in der Zwischenkriegszeit und damit eben auch in der Zeit von 1933 bis 1939 durchaus Teilaspekte weltgesellschaftlicher Kommunikation beobachtbar waren – von weltwirtschaftlichen Prozessen, einem Weltsportsystem (Olympische Spiele von 1936) bis hin zu weltweiter politischer Kommunikation über Diplomatie. Fasst man auch kriegerische Auseinandersetzungen als Kommunikationsform, so wären sogar während der Weltkriege noch weltgesellschaftliche Kommunikationen zu beobachten gewesen. Aufgrund dessen sowie auch aufgrund der Tatsache, dass für Kruse die Kriegsgesellschaft des Dritten Reiches schon ab spätestens 1934 existierte (s. o.), ist seine oben zitierte Argumentation als methodische Grundlage für die Ablehnung des Weltgesellschaftsbegriffes (jedenfalls für den in dieser Arbeit behandelten historischen Fall) nicht ausreichend, obwohl wir dieser durchaus zustimmen. Wir verweisen daher an dieser Stelle nochmals auf unser Argument einer forschungspragmatischen Verwendung des Gesellschaftsbegriffes, im Zuge derer auch wir – im Rahmen dieser Untersuchung – von Gesellschaft im Sinne eines räumlich, territorial, national und kulturell begrenzten sozialen Systems ausgehen.

Kruse beschreibt die Kriegsgesellschaft als „eine Art Mega-Organisation zum Zweck erfolgreicher Kriegsführung“ (ebd.: 178). An diesem Punkt werden bereits theoretische und konzeptionelle Parallelen zum Ansatz der Organisationsgesellschaft deutlich, der wir uns im nächsten Teil dieser Reihe zuwenden werden. Allerdings führt Kruse diese (zumindest versuchte) „Organisation der Gesamtgesellschaft“ im Unterschied zu anderen Autoren auf den originären Zweck der Kriegsmobilisierung zurück: „Mobilisierung kann nur zentral gesteuert werden und bedingt daher die Herausbildung einer tendenziell despotischen Spitze, womit ein Verlust der bürgerlichen Freiheiten korrespondiert“ (ebd.: 178). Dieser Einschätzung ist zwar zuzustimmen, allerdings birgt diese Analyse auch die Problematik der Monokausalität in sich. Denn wo gesellschaftliche Entdifferenzierung als Folge von Kriegsmobilisierung eingestuft wird, da ist sie am Ende weniger als Resultat eines gezielten, politisch-ideologischen Programms einzustufen, was im sozialwissenschaftlichen und historischen Diskurs das Risiko in sich birgt, sich den Vorwurf einer Relativierung des nationalsozialistischen Programms einzuhandeln. Wo allein große strukturbildende Dynamiken der Makro-Ebene am Werk sind, dort können solche der Meso- und der Mikro-Ebene unter Umständen „aus dem Blick“ geraten. In jedem Fall aber gilt es aus unserer Sicht, Entdifferenzierung nicht auf kriegsgesellschaftliche Entwicklungen zu reduzieren, sondern auch andere Faktoren im Blick zu behalten, die darüber hinausgehen.

In jüngerer Zeit hat sich in der deutschen Soziologie eine kriegssoziologische Debatte entfaltet, zu der der oben beschriebene Ansatz Kruses ebenso beitrug wie weitere Diskussionsbeiträge etwa von Barbara Kuchler (2013a; 2013b) und Markus Holzinger (2014). Erstere nimmt darin eine systemtheoretisch-orthodoxe Perspektive ein und geht gewissermaßen von funktionaler Differenzierung als unabhängiger Variablen aus. Für sie ist die Frage entscheidend, „wie Krieg durch die zugrundeliegenden Gesellschaftsstrukturen geformt wird, und nicht mehr die Frage, wie die Gesellschaft durch die in ihr geführten Kriege geformt wird“ (Kuchler 2013a: 11; zitiert nach Holzinger 2014: 462). Zunächst wird über den letzten Nebensatz des vorangegangenen Zitats deutlich, dass Kuchler im Gegensatz u. a. zu Kruse von einer Weltgesellschaft ausgeht: Kriege werden ihr zufolge in eben dieser geführt, nicht aber zwischen territorial begrenzten Nationalgesellschaften.

Eine noch deutlich schwerwiegendere Positionsbestimmung ist hier aber die Fokussierung auf Kriegsformung durch die Gesellschaft anstatt auf Gesellschaftsformung durch Kriege. Einerseits – dies ist hierbei positiv hervorzuheben – kann auf diese Weise das oben skizzierte Risiko vermieden werden, andere Ursachen und Faktoren gesellschaftlicher Entdifferenzierung (wie eben etwa politische Ideologien bzw., in systemtheoretischen Begriffen, Programme) aus dem Blick zu verlieren, was zweifellos ein methodischer Vorteil ist. Andererseits jedoch – und dies wiederum ist eher kritisch zu werten – führt eine solche Kausalitätszurechnung zu einem womöglich verabsolutierenden Verständnis der Theorie der funktionalen Differenzierung, infolge dessen diese buchstäblich per se nicht mehr in Frage gestellt wird und jegliche strukturbildenden Effekte durch Kriege mehr oder weniger bewusst ausgeblendet werden – was letztendlich auch den analytischen Wert des Konzeptes der funktionalen Differenzierung drastisch minimiert, da somit drastische gesellschaftsstrukturelle Veränderungen durch es nicht mehr sichtbar gemacht werden können. So gesteht Kuchler zwar auch zu, dass es in Kriegszeiten zu Entdifferenzierung kommen kann (vgl. Holzinger 2014: 464), aber dennoch müsse aus ihrer Sicht „Systemdifferenzierung als basales Prinzip der Interdependenzunterbrechung angesehen werden“ (Kuchler 2013a: 170).

Die Vorgehensweise Kuchlers (vgl. auch Kuchler 2013a: 361) wird auch von Holzinger (aus unserer Sicht zu Recht) kritisch kommentiert: „Schnell fällt dabei ins Auge, dass die von Kuchler wie selbstverständlich unterstellten Strukturmuster im Kriegsfall gerade nicht selbstevident sind. (…) Es zeigt sich vielmehr, dass sich Kriegsereignisse selbst in der westlichen modernen Gesellschaft immer auch entdifferenzierend und zersetzend auswirkten“ (Holzinger 2014: 470f.). Mit dieser Einschätzung geht Holzinger noch einen Schritt weiter als Kruse, der derlei Auswirkungen mit Blick auf die moderne westliche Gesellschaft nicht zwingend unterstellen würde (s. o.). In jedem Fall aber dürfte Holzingers Kritik mit Blick auf das Dritte Reich mehr als berechtigt sein. In der Tat gilt es gerade auf Seiten mancher jüngeren Vertreter der Systemtheorie sehr vorsichtig zu sein, was allzu pauschale theoretische Postulate der funktional differenzierten Gesellschaft angeht, die, wie eben auch die Untersuchungen Kruses zeigen, in einer solchen Form schlicht nicht haltbar sind. Vielmehr muss angenommen werden, dass Kriege selbst eben auch Ursachen sozialer, gesellschaftlicher Wandlungsprozesse sein können (vgl. Holzinger 2014: 463), auch wenn sie es nicht zwingend sein müssen bzw. auch wenn es durchaus noch andere, ebenso wirkmächtige strukturbildende Dynamiken geben mag. Dies zeigt sich auch für Holzinger in nicht geringem Maße am Systemverhältnis von Politik und Wirtschaft. So benennt er exemplarisch die Rolle der Kriegsindustrie und der zentralen Wirtschaftssteuerung im Krieg und betont richtigerweise, dass eine Staatswirtschaft eigentlich nicht mehr als eigenlogisch operierendes System bezeichnet werden kann (vgl. ebd.: 464), „möchte man den Sinn von Autonomie nicht bis zur Unkenntlichkeit verwaschen“ (ebd.: 464).

Auch rechtliche Regulierungen werden durch Krieg – und damit durch die politische Funktionslogik – unterlaufen, auch im internationalen Bereich des Völkerrechts, wo flächendeckende Bombardierungen den Willen zur Massenvernichtung signalisiert haben (vgl. Holzinger 2014: 464; Kuchler 2013b: 516). U. a. für den in dieser Arbeit untersuchten Fall ist Holzingers Fazit eindeutig: „Die Tendenz einer Auflösung von Recht und Politik geht am weitesten in den totalitären Systemen des Dritten Reichs und des Stalinismus. (…) Hitler [hatte] im Griff nach der Macht sämtliche Institutionen abgeschafft, die eine Differenzierung der Staatsorgane erkennen ließen“ (Holzinger 2014: 464). Doch nicht nur die Gewaltenteilung wurde abgeschafft, sondern auch die Geltungskraft von Rechtsnormen als solchen erfuhr eine grundsätzliche, umfassende Veränderung (vgl. Perels 2004: 47): „Nachdem Hitlers Regierung fest im Sattel saß, wurden für den gesamten politischen Bereich die Garantiefunktion von Gesetzen und Rechtsverbindlichkeiten grundsätzlich außer Kraft gesetzt (…). Man kann daraus folgern: Unter historischer Perspektive ließen sich zahlreiche Fälle heranziehen, bei denen sich gerade im Rechtssystem eine zerstörerische Absorption des Machtcodes über den Code Recht/Unrecht nachweisen ließe, welche die Trennschärfe von Politik und Recht unterwandert“ (Holzinger 2014: 464). Holzinger bezweifelt vor diesem Hintergrund zu Recht eine generelle Gültigkeit der Theorie der funktionalen Differenzierung für moderne Gesellschaften per se (vgl. Holzinger 2014: 465): „Auch in modernen Gesellschaften – zumindest in Kriegs- und Ausnahmezuständen – verschwimmen die Grenzen zwischen funktionalen Teilsystemen“ (ebd.: 465). Wichtig zu bemerken ist hier allerdings: Auch Holzinger spricht hier wohlweislich von „verschwimmen“, von einer „Unterwanderung der Trennschärfe“ und von einer „Tendenz“ (s. o.), nicht aber von einer vollständigen Auflösung der Systemgrenzen von Politik und Recht. Auch in seinem Fall ist daher nicht von der These einer gar vollständigen und umfassenden funktionalen Entdifferenzierung auszugehen – was aber auch eine schwer vorzustellende Erscheinung wäre. Jedoch: „Der nationalsozialistische oder der sowjetische „Staat“ beweisen, dass politische Herrschaftsformen entstehen können, ohne auch nur im Geringsten den Luhmann’schen (…) Kriterien des Rechtsstaates und der Demokratie zu entsprechen“ (ebd.: 472).

Holzinger geht noch weiter und stellt, inspiriert durch Bettina Heintz (2012: 31), die Frage, ob die Weltgesellschaft bis in die 1970er Jahre hinein überhaupt schon als funktional differenziert gelten könne, obwohl global bis dahin – in der Ära der Imperien – doch eher eine Zentrum/Peripherie-Differenzierung vorgelegen habe (vgl. Holzinger 2014: 470). Mit Blick auf die Arbeiten von Japp (2007), Holzer (2007) und Holzinger (2012: 221ff.) könnte man sogar attestieren, dass sogar heute auf weltgesellschaftlicher Ebene funktionale Differenzierung ständig durch informelle Netzwerke unterlaufen, sabotiert und mitunter sogar außer Kraft gesetzt wird (vgl. Japp 2007: 191); Politik und Recht werden dadurch korrumpiert (vgl. Japp 2007: 187; Holzinger 2014: 466). Aus dieser Sichtweise heraus gäbe es auf weltgesellschaftlicher Ebene, so man denn forschungsanalytisch und theoretisch von dieser ausgeht, damals wie heute noch ganz andere Formen von entdifferenzierten Zuständen bzw. entdifferenzierenden Prozessen, die womöglich mit einer territorial- und nationalgesellschaftlichen funktionalen Entdifferenzierung, wie wir sie für das Dritte Reich annehmen, konkurriert hat (u. a. in Form des Zweiten Weltkrieges selbst). Eine funktionale Entdifferenzierung durch informelle Netzwerkbildung ist für das Dritte Reich jedoch nicht anzunehmen, da die dort stattgefundene Form der Entdifferenzierung mitunter sehr formelle Züge hatte und auch über die reine Netzwerkbildung (die ansonsten, grundsätzlich betrachtet, ein ständiger Begleiter jedweder sozialen Struktur ist) klar hinausging.


Literatur

Heintz, Bettina (2012). Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1948-2010. In: Soziale Systeme 18, S. 7-39.

Holzer, Boris (2007). Wie modern ist die Weltgesellschaft? Funktionale Differenzierung und ihre Alternativen. In: Soziale Systeme 13, S. 357-368.

Holzinger, Markus (2012). Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert? Niklas Luhmanns Staatskonzept im Spiegel parastaatlicher Gewalt und informeller Staatlichkeit. In: Politisches Denken, Jahrbuch 2012, S. 201-231

Holzinger, Markus (2014). Niklas Luhmanns Systemtheorie und Kriege. In: Zeitschrift für Soziologie, Heft 6 / Dezember 2014, 43. Jg., S. 458-475.

Japp, Klaus P. (2007). Regionen und soziale Differenzierung. In: Soziale Systeme 13, S. 185-196.

Kruse, Volker (2009). Mobilisierung und kriegsgesellschaftliches Dilemma. Beobachtungen zur kriegsgesellschaftlichen Moderne. In: Zeitschrift für Soziologie, 38. Jg., S. 198-214.

Kruse, Volker (2015). Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. München / Konstanz: UVK.

Kuchler, Barbara (2013a). Kriege. Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte. Frankfurt a. M.: Campus.

Kuchler, Barbara (2013b). Krieg und gesellschaftliche Differenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie, Heft 6 / Dezember 2013, 42. Jg., S. 502-520.

Perels, Joachim (2004). Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime. Hannover: Offizin.

Schmitt, Carl (2015). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 (9., korrigierte Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

Spencer, Herbert (2010). The Principles of Sociology, Vol. 2. Charleston: Nabu Press.

Weber, Max (2002). Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders., Schriften 1894-1922. Ausgewählt von Dirk Kaesler. Stuttgart: Kröner.

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