Entdifferenzierung II: Intersystemische Autonomiebedrohungen

Uwe Schimank hat sich vielfältig mit den Eigenheiten, Merkmalen und Folgen gesellschaftlicher Differenzierung auseinandergesetzt, nicht zuletzt mit Blick auf die grundsätzliche Frage politischer Gesellschaftssteuerung. In diesem Kontext thematisiert er das Phänomen, das wir hier als (funktionale) Entdifferenzierung bezeichnen, unter dem Schlagwort der „feindlichen Übernahmen“, die aus intersystemischen Autonomiebedrohungen resultieren können (vgl. Schimank 2006). Dabei orientiert er sich am klassischen Systemautonomie-Begriff Luhmanns, der auf „die selbstreferentielle Geschlossenheit des jeweiligen binären Codes“ (Schimank 2006: 76) als zentrales Kriterium für eben jene funktionssystemische Autonomie abstellt. Wie bereits zuvor dargelegt, gehört Schimank aber zu jenen nicht wenigen Vertretern der soziologischen Systemtheorie, die im Gegensatz zu Luhmann klar für ein Konzept graduell abzustufender Systemautonomiebeschränkungen eintreten (vgl. ebd.: 77): „Nicht nur der Direktzugriff auf den Code, auch indirekte Rahmungen des für sich genommen unangetastet bleibenden Codes können die teilsystemische Autonomie reduzieren. Den Akteuren eines Teilsystems mag durchaus die Freiheit gelassen werden, sich in ihrem Handeln an dessen selbstreferentiellem Code und an nichts anderem auszurichten – wenn aber Akteure eines anderen Teilsystems mittels Ressourcen oder Programmen den Rahmen des effektiv möglichen „Auslebens“ entsprechend eng vorgeben, wirkt dies als eine mindestens genauso starke, wenn nicht sogar manchmal stärkere Autonomiebeschränkung“ (ebd.: 76). Diese für den soziologisch-systemtheoretischen Rahmen recht weitgehende Auffassung von dem, was wir hier als Entdifferenzierung bezeichnen, ist, wie deutlich werden dürfte, für den hier thematisierten empirischen Gegenstand äußerst entscheidend.

So liefert Schimank hiermit einen systemtheoretischen Ansatz, der es durchaus plausibel macht, für das Verhältnis von Politik und Recht im Dritten Reich eine eingetretene Entdifferenzierung bzw. Autonomiebeschränkung des Rechtssystems anzunehmen, die über eine eben solche „indirekte Rahmung“ – vor allem durch politische Programme – gelaufen ist, aber nicht durch eine komplette Außerkraftsetzung des Rechtscodes: „Die fremdreferentielle Rahmung oder Verformung des Codes kann zum einen mehr oder weniger tiefgreifend, zum anderen mehr oder weniger ausgreifend sein. So kann etwa die politische Macht Wahrheitsaussagen stärker oder schwächer beugen, etwa in ihr völliges Gegenteil verkehren oder nur leicht verbiegen; und die politische Macht kann ihren Einfluss flächendeckend auf alle Wahrheitsaussagen ausdehnen oder sich nur auf wenige, für die Staatsräson besonders brisante beziehen“ (ebd.: 77). Diese sinnvolle Einschätzung, die Schimank auch durch das Schicksal wissenschaftlicher Disziplinen in der Ära des Staatssozialismus bestätigt sieht (vgl. ebd.: 77), gilt für das Verhältnis von politischem System und Rechtssystem demnach analog: Die Politik kann womöglich Recht vollkommen außer Kraft setzen und durch vollständige politische Willkür ersetzen; sie kann aber auch die vorhandenen Rechtsstrukturen und -operationen unberührt lassen und intersystemische Interventionen auf jene Fälle beschränken, die Fragen der politischen Machtbewahrung und der politischen Ideologie berühren. Für das Dritte Reich lässt sich annehmen, dass es diesbezüglich verschiedene Phasen in dessen Geschichte gab, in der die Autonomie des Rechtssystems in jeweils unterschiedlicher Weise bzw. in unterschiedlicher Intensität durch das politische System eingeschränkt worden ist.

Schimank macht mehrere verschiedene Formen von intersystemischen Autonomiebedrohungen aus, von denen uns viele hier nicht weiter beschäftigen werden. Zu nennen wären diesbezüglich etwa das Einverleiben von Ressourcen, das Aufdrängen von Ressourcen, das Einverleiben von Programmen und das Einverleiben von Codes (vgl. ebd.: 77ff.). Zwei weitere Mechanismen, die Schimank aufführt, berühren hingegen erkennbar das hiesige Kerninteresse: So sind intersystemische Autonomiebedrohungen außerdem durch das Aufdrängen von Programmen sowie – noch entscheidender – durch das Aufdrängen von Codes möglich (vgl. ebd.: 78f.).

Den erstgenannten Fall einer „feindlichen Übernahme“ erläutert Schimank am Beispiel der Schlagwörter „Verrechtlichung“ und „Verwissenschaftlichung“ von Gesellschaftsbereichen: Dies „bedeutet ja, dass rechtliche Normen und wissenschaftliche Wahrheiten in die Programmstrukturen etwa der Wirtschaft, der Politik oder der Intimbeziehungen implantiert werden und das Handeln in diesen anderen Teilsystemen dadurch immer stärker rechtlich und wissenschaftlich geprägt wird“ (ebd.: 78). Schimank führt dieses Phänomen nicht im Detail aus; wichtig zu erwähnen ist hierbei aber, dass bei dieser Form der – von ihm nicht als solche bezeichneten – Entdifferenzierung der Code des „feindlich übernommenen“ Systems zunächst weiter gewahrt bleibt. Das heißt: Zwar werden fremde Programmstrukturen implantiert, aber die Kommunikation des Systems findet letztlich noch immer unter der Maßgabe der bisherigen eigenen Leitunterscheidung statt. Um bei dem oben zitierten Beispiel zu bleiben: Rechtliche Normen und wissenschaftliche Wahrheiten etwa in den Programmstrukturen der Wirtschaft dienen trotz ihrer „systemfremden“ Herkunft letztlich dem Zweck, kommunikativ zwischen Gewinn und Verlust zu unterscheiden, also Gewinn zu machen und Verluste zu vermeiden. Hier ließe sich darüber hinaus noch fragen, inwieweit es einen Unterschied macht, ob jeweils Zweck- oder Konditionalprogramme von dieser Art der Intervention betroffen sind. In jedem Fall ist klar, dass insofern auch bei der rein programmstrukturellen „feindlichen Übernahme“ unterschiedliche Intensitätsgrade möglich sind, wobei zugleich angenommen werden kann, dass bis zu einem gewissen Maße derlei „Programmimplantate“ gesellschaftliche Normalität sind – auch in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften.

Der andere Fall wäre der weitaus drastischere und gesellschaftsstrukturell gesehen folgenreichere, bei der dann auch die „Grundkonstanten“ der funktionalen Differenzierung mindestens tangiert werden: Eine „feindliche Übernahme“ durch das Aufdrängen des eigenen Codes bedeutet in der Konsequenz womöglich eine Außerkraftsetzung, zumindest aber eine Zurückdrängung der ursprünglichen Leitdifferenz des adressierten Systems. Beispielhaft zeigt Schimank diesen Fall am kritischen Abgrenzungsbegriff des „Neoliberalismus“, in dem „die Wissenschaft oder die Bildung oder die Politik so begriffen [werden], als handele es sich eigentlich um Wirtschaft“ (ebd.: 79) – man denke in diesem Zusammenhang vor allem an die Inhalte und Folgen der sogenannten Bologna-Reform für die Hochschulen. Dieses Phänomen, in der die wirtschaftliche Funktionslogik andere gesellschaftliche Subsysteme zu dominieren beginnt und das über Ressourcenabhängigkeiten und Aufdrängen von Programmen hinausgehe, wird von Pierre Bourdieu als „Intrusion“ bezeichnet; Schimank verwendet hier auch die Metapher des „Code-Imperialismus“ (vgl. ebd.: 79). Auch in anderen Systemverhältnissen ist es zu beobachten, sowohl in der Vergangenheit als auch heute: „So könnte etwa die Politik in anderen Teilsystemen deren eigenen Code gegenüber einer politischen Orientierung an Machtfragen zurückdrängen; und die Geschichte der Moderne war lange Zeit dadurch gekennzeichnet, dass alle anderen Teilsysteme sich einer überkommenen religiösen „Intrusion“ erwehren mussten“ (ebd.: 79). Diese „mehr oder weniger weitreichende Usurpation der Deutungshoheit über das Geschehen in einem Teilsystem“ (ebd.: 79) ist letztlich das Phänomen, welches wir als Entdifferenzierung zwischen Funktionssystemen bezeichnen und welches wir zwischen Politik und Recht im Dritten Reich beobachten konnten.

Die nicht zwingend eintretende, aber mögliche dreistufige Entwicklung vom jeweiligen Einverleiben bzw. Aufdrängen von Ressourcen, von Programmen und schließlich des Codes (oder andersherum) ist für Schimank die Grundlage für seine – aus unserer Sicht plausible – Annahme einer graduellen Sichtweise auf intersystemische Autonomiebedrohungen bzw. auf „feindliche Übernahmen“ – und auch wenn diese auch aus seiner Sicht zumeist wohl auf eine der besagten Formen beschränkt bleiben, so liegt für ihn darin eine typische, wie er es nennt, Eskalationsdynamik (vgl. ebd.: 80). Eine zumindest teilweise vorzunehmende Übertragung dieses „Eskalationsdynamik“-Modells auf den empirischen Beobachtungsgegenstand dieser Arbeit scheint sinnvoll zu sein. Allerdings gilt dies in der Tat nur teilweise, da von einem „Aufdrängen von Ressourcen“ seitens des politischen Systems gegenüber dem Recht im Nationalsozialismus nicht wirklich die Rede sein kann. Ganz anders verhält es sich aber eben bei der Frage von Programmen und schließlich des Codes. An dieser Stelle postulieren wir die These, dass hier in der Tat eine Art Eskalationsdynamik zu beobachten ist, die mit dem immer stärkeren und zunehmenden Aufdrängen politischer Programme ab dem Zeitpunkt der Machtergreifung 1933 begann und die sich schließlich, mit der entsprechenden Gesetzgebung und weiteren entdifferenzierenden Schritten insbesondere der kriegsgesellschaftlichen Dynamik, die das Dritte Reich stets und (besonders natürlich ab 1939) immer verstärkter begleitete (vgl. Kruse 2015), zu einem Aufdrängen des Codes auswuchs.

Instruktiv ist in diesem Zusammenhang auch der Blick, den Schimank dazu – an anderer Stelle und eher beiläufig – nochmal auf die DDR wirft, genauer gesagt auf das Wissenschaftssystem in dieser, welches für ihn ein Indiz dafür ist, dass Systemautonomie eben durchaus graduell abzustufen ist, da dieses zwar bekanntlich durchaus von der marxistischen Ideologie politisiert war, aber andere soziologische Forschungsfelder davon kaum oder gar nicht berührt gewesen seien (vgl. Schimank 2007: 152, Fn. 23): „Anders ist überhaupt nicht zu erklären, dass die unter diesen Auspizien gewonnenen Erkenntnisse eben keineswegs vollständig unbrauchbar sind. Die selbstreferentielle Geschlossenheit des Wahrheitscodes kann also durch fremdreferentielle Vorhaben mehr oder weniger breitenwirksam außer Kraft gesetzt werden, so dass die Autonomie der Forschung in dieser Hinsicht sehr wohl ein graduell abgestuftes Phänomen ist“ (Schimank 2007: 152, Fn. 23). Letzteres gilt hier für das nationalsozialistisch ideologisierte Recht im Dritten Reich analog: Auch die Autonomie etwa der Rechtsprechung, der Gesetzgebung und der Rechtstheorie ist graduell abzustufen.

Doch das Primat eines einzelnen Funktionssystems ist für Schimank nicht zwingend an einen autoritären oder totalitären Staat mit eigener, inhärent entdifferenzierender Staatsdoktrin bzw. Ideologie gekoppelt, sondern kann auch im Zuge bestimmter Umstände eintreten – und damit wohl auch in den modernen liberalen Demokratien des Westens: „Derartige Asymmetrien können (…) issue-spezifisch sein und von situativen Gegebenheiten abhängen. So gewinnt z.B. das Militärsystem begreiflicherweise in Kriegszeiten eine klare gesellschaftliche Dominanz“ (ebd.: 179). In der Tat werden in Kriegszeiten – jedenfalls in für den jeweiligen Staat „existenziellen“ Kriegen, die sich nicht auf Auslandseinsätze und geografisch teils sehr weit entfernte „militärische Interventionen“ seitens Industrieländern in Entwicklungsländern beschränken – die militärischen Erfordernisse zum primären Maßstab des Handelns der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft etc. Auch dies ist im Dritten Reich im Zuge der sogenannten Wehrwirtschaft bzw. der Kriegswirtschaft zu beobachten (vgl. Abelshauser 1999: 512ff.; Herbst 2005), etwa insofern, als dass in derlei Zeiten Produktion eigentlich militärferner Unternehmen auf Rüstungserfordernisse umgestellt wird. Ähnliches ist mitunter auch in Pandemie-Zeiten, wie im Zuge der globalen Corona-Krise 2020, zu beobachten: Gesundheitliche Erfordernisse der Gesellschaft verdrängen andere Erwägungen. So aktivierte US-Präsident Donald Trump im März 2020 vor dem Hintergrund der in den USA zu jenem Zeitpunkt massiv grassierenden Corona-Pandemie ein Kriegswirtschaftsgesetz aus dem Jahr 1950, um den Großkonzern General Motors zu zwingen, gemeinsam mit einem Medizintechnikhersteller Beatmungsgeräte zu produzieren (vgl. Landwehr 2020). In derart tiefgreifenden Krisenfällen – mit Schmitt gesprochen: im Ausnahmezustand – vermag die politische Kriegslogik auf alle anderen gesellschaftlichen Subsysteme in einer Weise durchzugreifen, die für funktional differenzierte Gesellschaften ansonsten kaum vorstellbar ist – und dies selbst in modernen liberalen Demokratien. Auch Kriegswirtschaft bedeutet Entdifferenzierung – zwischen politischem System und Wirtschaftssystem.

Ein paar Worte gilt es allerdings an dieser Stelle noch zu einer anderen Frage zu verlieren. So spricht Schimank ausdrücklich vom „Militärsystem“ anstatt vom „politischen System“ (s. o.) und sieht das Militär dezidiert als ein eigenes gesellschaftliches Teilsystem an (vgl. Schimank 2006: 81). Dies ist sowohl aus „schmittianischer“ als auch aus klassisch-systemtheoretischer Perspektive heraus eine problematische Kategorisierung. So wäre gemäß der Definition Carl Schmitts, der das Politische als die Unterscheidung von Freund und Feind betrachtet (vgl. Schmitt 2015: 25ff.), das Militär in logischer Konsequenz nichts anderes als das (in erster Linie) außenpolitische Instrument zum Handeln nach dieser Unterscheidung – also im Dienste des Politischen stehend und damit keine originär eigenständige Sphäre. Letztlich aber tritt diese Problematik aber auch für die klassische soziologische Systemtheorie nach Luhmann in Erscheinung. So ist das Militär eben durchaus auch für moderne Staaten, in denen sich die Gesellschaft stabil funktional ausdifferenziert hat, ein (internationales) Instrument der Machtkommunikation, und sei es nur als Drohmittel. Auch in diesen Fällen wird zwischen Macht und Ohnmacht unterschieden. Da das Militär zugleich in der Regel und insbesondere in den modernen westlichen Industrienationen auch klar weisungsgebunden und der zivilen Politik direkt unterstellt ist, ist das Modell eines (insbesondere gegenüber dem politischen System) operativ geschlossenen (!), autonomen Militärsystems nicht durchzuhalten. Vielmehr hat es wohl den Charakter einer (vor allem und in der Regel außen-)politischen Organisation, die Teil des Zentrums des politischen Systems ist und die kollektiv bindenden Entscheidungen dieses Systems im Inland und im Ausland exekutiert. Das Militär – als durchweg hierarchische, auf Entscheidungskommunikation und auf Mitgliedschaft basierende Einrichtung – wäre demnach eher auf der Meso-Ebene der Organisationssysteme anzusiedeln als auf der Makro-Ebene gesellschaftlicher Funktionssysteme. Diese Einordnung, das halten wir an dieser Stelle nochmal ausdrücklich zur theoriekonzeptionellen Klärung und zur Vermeidung entsprechender Missverständnisse fest, vertreten wir in diesem theoretischen Rahmen und dehnen sie analog dazu auch auf verwandte Organisationen der Exekutive wie die Polizei und Geheimdienste – sowie im Dritten Reich etwa die SS und Gestapo – aus.

Andernorts widmet sich Schimank andeutungsweise dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft im Nationalsozialismus, hinsichtlich dessen er allerdings zu einem Fazit kommt, das aus unserer Sicht problematisch erscheint. So stellt er zunächst fest, dass es abgesehen von „klar als solchen erkennbaren und kurzlebigen Anomalien (…) in der modernen Gesellschaft, wie sowohl historische Rückblicke als auch internationale Vergleiche zeigen, keinerlei forschungspolitische Maßnahmen [gibt], die unmittelbar in Forschungshandeln eingreifen wollen oder dies tun“ (Schimank 2006: 171). Selbst im nationalsozialistischen Deutschland sei etwa die „arische Physik“ eine temporäre Ausnahme gewesen, die rasch erfolgreich zurückgedrängt worden ist (vgl. Schimank 2006: 171, Fn. 131; Walker 1990: 79-101). Nun ist aber das Beispiel der – wenn auch kurzlebigen – „arischen Physik“ schwerlich tauglich, etwas über direktive forschungspolitische Maßnahmen, die ins Wissenschaftssystem intervenieren, und deren Kontinuität im Dritten Reich auszusagen, wenn daneben nicht wenige andere Fälle von eindeutig „politisierter Wissenschaft“ zu beobachten sind. Bereits der exemplarische Blick auf die Entwicklung von Eugenik und „Rassenhygiene“ im Nationalsozialismus und deren – durchaus langwierige – Wirkmächtigkeit in der Medizin, ihre Manifestation im Wissenschafts-, im Erziehungs- und vor allem natürlich im Gesundheitssystem jener Zeit (vgl. Mattner 2000: 54-74), werfen die Vermutung auf, dass auch hier durchaus gewichtige und stabile Erscheinungen funktionaler Entdifferenzierung vorlagen. Sicherlich waren nicht alle diese originär durch gezielte politische Maßnahmen begründet, sondern wohl in nicht wenigen Fällen auch durch eine Art informell wirkenden politischen Grundkonsens, der über sozialpsychologische anstatt über rechtliche Mechanismen Verbreitung fand (Anpassungsdruck etc.). Trotz alledem sind etwa für Eugenik und NS-Rassenhygiene zahlreiche politische bzw. in der Folge rechtliche Maßnahmen dokumentiert, die zwar primär auf das Gesundheitssystem ausgerichtet waren (Stichwort: Euthanasie), aber natürlich auch die wissenschaftliche Tätigkeit im medizinischen Bereich massiv geprägt haben. Dies gilt für die – eben politische – Rassenideologie des Nationalsozialismus als Ganzes in gleicher Weise, die immerhin die Basis für Menschenversuche in Konzentrationslagern bildete (vgl. Freimüller 2001). Angesichts einer solchen, relativ klaren Politisierung der Medizin jener Zeit wäre der Versuch, allein von der Zurückdrängung der „arischen Physik“ im Nationalsozialismus auf ein differenziertes Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft zu schließen, hoch fragwürdig, wobei allerdings klargestellt werden muss, dass Schimank seine ursprüngliche Aussage trotz der Fußnote zur „arischen Physik“ klar auf die moderne Gesellschaft bezogen hat (s. o.). Seine exemplarische Ausdehnung der Frage auf das Dritte Reich zeigt jedoch auf, wie problematisch eine solche Übertragung zuweilen sein kann, wenn sie selektiv an einem einzigen Fall von vielen festgemacht wird. Freilich versteht sich von selbst, dass eine ausführlichere Erörterung der Entdifferenzierung von Politik und Wissenschaft im Nationalsozialismus den hiesigen Rahmen sprengen würde.


Literatur

Abelshauser, Werner (1999). Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 47 (1999), Heft 4. S. 503-538.

Freimüller, Tobias (2001). Mediziner: Operation Volkskörper. In: Norbert Frei (Hrsg.), Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt a. M. / New York: Campus. S. 13-69.

Herbst, Ludolf (2005). Steuerung der Wirtschaft im Nationalsozialismus? Systemtheoretische Aspekte. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. 3-13.

Kruse, Volker (2015). Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. München / Konstanz: UVK.

Landwehr, Arno (2020). Kriegswirtschaftsgesetz. Trump schreibt GM Produktion vor. https://www.tagesschau.de/ausland/corona-trump-kriegsgesetz-103.html (letzter Zugriff: 05.04.2020)

Mattner, Dieter (2000). Behinderte Menschen in der Gesellschaft. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer.

Schimank, Uwe (2006). „Feindliche Übernahmen“: Typen intersystemischer Autonomiebedrohungen in der modernen Gesellschaft. In: Ders., Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung: Beiträge zur akteurszentrierten Differenzierungstheorie 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 71-83.

Schmitt, Carl (2015). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 (9., korrigierte Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

Walker, Mark (1990). Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe. Berlin: Siedler.

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