Systemtheorie XI: Grundrechte - Menschenrechte - Metacode

In seiner Grundrechte-Analyse lässt Luhmann auch ein Argumentationsmuster durchblicken, welches man später durchaus als neo-institutionalistisch (vgl. Hasse / Krücken 2005) bezeichnet hätte. So sieht er in ihnen auch die Funktion der Legitimation politischer Macht (vgl. Luhmann 2009: 138): Indem sie das politische System gewissermaßen „einhegen“ und an verfassungswidrigen Expansionen hindern, ist all das, ist jede Operation, die innerhalb der (u. a.) von den Grundrechten gesetzten politischen System-Grenzen geschieht, im Umkehrschluss verfassungsrechtlich und damit in der Konsequenz auch rechtsstaatlich legitim, was dem System gegenüber der Umwelt eine besondere Glaubwürdigkeit verleiht, die man wohl, wollte man noch weiter gehen als Luhmann, gar als eine Form der Schaffung moralischer Autorität ansehen könnte, welche der liberal-demokratische Westen gerne gegen autokratische Staaten in Stellung brachte und noch immer bringt. Neo-institutionalistisch wird dieses Argument eben dadurch, dass es – im Gegensatz zu den zuvor aufgeführten Darlegungen – nicht so sehr auf einen „faktischen“, konkreten Effekt abstellt, sondern gewissermaßen die Show-Seite des Politischen in den Blick nimmt, in der es nicht so sehr um tatsächliche Wirkung, sondern um Anschlussfähigkeit durch Legitimationsschaffung geht, etwa im Sinne der Unterscheidung von talk und action nach Nils Brunsson (1989).

Nun können allerdings bekanntlich auch Autokratien nach außen hin darauf verweisen, dass in ihrem jeweiligen Staat gewisse Grundrechte in gleicher Form Geltung besitzen, selbst wenn sich dies faktisch nicht im staatlichen Handeln niederschlägt und Grundrechtsverletzungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Hier müsste man dann, mit den Vertretern des Neo-Institutionalismus gesprochen, von einem höheren Maß an Entkopplung ausgehen als im Falle funktionierender liberal-demokratischer Rechtsstaaten. Man darf jedoch davon ausgehen, dass eine solche Selbstbeschreibung bei heutigen Autokratien recht üblich sein dürfte, was nicht zuletzt eine Folge der gestiegenen Beobachtbarkeit in Zeiten globalisierter, alter und neuer Massenmedien und auf Menschenrechtsverletzungen spezialisierter Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ist. Im Falle des Dritten Reiches dürften Semantiken, die sich zwecks Legitimationsbeschaffung positiv auf Grundrechte beziehen, aufgrund des Fehlens dieser erst später, im Zuge der globalen Institutionalisierung einer westlichen Weltkultur (vgl. Meyer 2005b) aufgekommenen weltgesellschaftlichen Umwelterwartungen noch eine Seltenheit sein.

Luhmann wendet sich beim Blick auf die Funktion der Grundrechte gegen die sogenannte Machtsummenkonstanz-Hypothese, wie sie in manchen politikwissenschaftlichen Ansätzen üblich ist und der zufolge „der eigene Machtverlust automatisch einen entsprechenden Machtgewinn des Gegners mit sich bringt und vice versa“ (Luhmann 2009: 42). Folgt man dieser Perspektive, so werden die Grundrechte konsequenterweise als etwas verstanden, dass dem Staat Macht nimmt und diese dem Volk gibt, mit ersterem und letzterem als zwei Polen einer Skala. Im konstruktivistisch-systemtheoretischen Sinne, in welchem Macht eben kein in seiner „Masse“ immer gleich bleibendes „Objekt“ ist, das man zwischen Akteuren hin und her schiebt, sondern vielmehr ein Kommunikationsmedium, das über entsprechende soziale Konstruktion funktioniert, ergibt sich hier natürlich eine andere Perspektive: Macht hat, wem sie zugerechnet wird. Dementsprechend hat ein politischer Akteur, dem man folgt, ohne dass er dafür Gewalt androhen oder gar anwenden muss, mehr Macht als jemand, der sich nur durch die vorgehaltene Waffe durchsetzen kann (bzw. Zwang anwenden muss). Gerade auch im Zuge der oben beschriebenen Legitimationsfunktion der Grundrechte für den Staat, der sich dadurch die Selbstbeschreibung des „Rechtsstaates“ geben kann, wird eine solche Machtzurechnung gewährleistet, was zu der (scheinbaren) Paradoxie führt, dass der Staat Macht gewinnt, indem er sie abgibt (vgl. Luhmann 2009: 182f.). Im systemtheoretischen Verständnis würde eine funktionale Entdifferenzierung in Form einer Politisierung des Rechtssystems also keinen Machtzugewinn für den Staat bedeuten, sondern letztlich eher einen Machtverlust, da er hierdurch seine Selbstlegitimation mittelbar aushebelt und das politische System seine Grenzen nicht stabilisiert (vgl. ebd.: 183). Auch diese Einschätzung dürfte durchaus mit den grundlegenden Thesen des Neo-Institutionalismus harmonieren.

Japp (2015) sieht die Menschenrechte, anschließend an Luhmanns oben dargelegte Grundrechte-Analyse, als eine Art weltgesellschaftliches, inzwischen universalistisches Äquivalent zu den lediglich nationalstaatlich gewährleisteten Grundrechten: „Die Funktion der Grundrechte (und später der Menschenrechte) besteht also darin, die Autonomie der Funktionssysteme vor der Gefahr der Überpolitisierung dadurch zu bewahren, dass die entsprechenden Freiheiten der Individuen grundrechtlich geschützt werden“ (Japp 2015: 2). Allerdings wird betont, dass, trotz des universalen Anspruches der globalisierten Institution der Menschenrechte, deren globale normative Wirkmacht ebenfalls von den Neo-Institutionalisten attestiert wird (vgl. Meyer 2005a: 152f.), diese bedingt durch die segmentäre Differenzierung des weltpolitischen Systems in Nationalstaaten stets an eben diese gebunden sind (vgl. Japp 2015: 4), da es bislang und in naher Zukunft an einer weltpolitischen Instanz fehlt, die diese kollektiv verbindlich entscheidend absichern könnte, wenn man einmal von möglichen UN-mandatierten, völkerrechtsbasierten, aber dann eben doch wieder mit nationalstaatlichen Militärs durchgeführten Interventionen in besonders drastischen Fällen von Menschenrechtsverletzungen (wie etwa Genoziden o. ä.) absieht. So wie die Menschenrechte also, mit der Terminologie des Neo-Institutionalismus gesprochen, in der talk-Dimension durchweg globalisiert und universalisiert sind, sind sie in der action-Dimension weiterhin nationalstaatlich begrenzt, umrahmt und in differenzierter Weise umgesetzt und gültig – die Entkopplung zwischen beiden Ebenen ist zuweilen beträchtlich.

Wir haben anderswo bereits die Problematik ausgeführt, die sich ergibt, wenn wir versuchten, gesellschaftliche Strukturen des Dritten Reiches mit dem Konzept der Weltgesellschaft zu beobachten. Aus diesem Grund werden wir diese Perspektive an dieser Stelle nicht weiter nutzen, allerdings wohl wissend um die Funktion, die eben nicht nur die klassischen Grund-, sondern auch die global-universalen Menschenrechte aus systemtheoretischer Sicht für die Aufrechterhaltung einer funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur (vgl. ebd.: 5) und damit auch für die Verhinderung funktionaler Entdifferenzierung (wie gesagt: auch auf nationalstaatlicher Ebene!) haben. Zudem sichern Grund- und Menschenrechte auf diese Weise Inklusion im systemtheoretischen Sinne ab, indem sie die Teilnahme der Individuen an den Kommunikationen der Funktionssysteme gewährleisten (vgl. ebd.: 16) bzw. Kommunikationschancen garantieren (vgl. Luhmann 2009: 23). Im Umkehrschluss würde das also auch bedeuten, dass funktionale Entdifferenzierung in Form einer (Über-)Politisierung des Rechtssystems durch Außerkraftsetzung von verfassungsmäßigen Grundrechten individuelle Kommunikationsfreiheiten bzw. -chancen in der Gesellschaft entscheidend minimiert – eine Diagnose, die mit den allgemeinen Annahmen über totalitäre Regierungssysteme, in denen beispielsweise Spott über Maßnahmen der Regierung nur noch als „Flüsterwitze“ denkbar sind, harmonieren dürfte. Allerdings lässt sie sich auch auf Kommunikation im weiteren Sinne ausdehnen: So ist eben auch die Exklusion beispielsweise aus dem wirtschaftlichen Leben – durch Boykott, Enteignung oder berufliche Sanktionen – eine drastische Minimierung von Kommunikationschancen, ebenso wie die radikalsten aller denkbaren Exklusionen auf der Basis einer politisch gesetzten Freund-Feind-Unterscheidung, die alle anderen (bisherigen) gesellschaftlichen Leitdifferenzen überlagert: Verfolgung, Inhaftierung und Tod. Das politische System zeichnet sich durch eine latente Unzivilisiertheit aus, welche dann immer wieder in gewissen Expansionstendenzen münden kann (vgl. Japp 2015: 10).

In seinem Spätwerk „Das Recht der Gesellschaft“ führt Luhmann (1995) das Konzept des „Metacodes“ ein, welches er konkreter gesprochen auf die global wirkmächtige Unterscheidung von Inklusion und Exklusion anwendet, welche mit determiniert, wo in der Weltgesellschaft Menschenrechte wie sehr zur Geltung kommen (vgl. Japp 2015: 14). Kernelement des Metacodes ist, dass er „alle anderen Codes mediatisiert. Es gibt zwar den Unterschied von Recht und Unrecht (…). Aber für exkludierte Bevölkerungsgruppen hat diese Frage geringe Bedeutung im Vergleich zu dem, was ihre Exklusion ihnen auferlegt“ (Luhmann 1995: 583). Luhmann beschreibt dies ausdrücklich nicht als Erscheinung einer sozialen Stratifikation, sondern als ein Unterminieren der Rechtsordnung. Mit anderen Worten: Wo weltgesellschaftliche Gruppen bzw. Bevölkerungsteile etwa von Entwicklungsländern starker Exklusion ausgesetzt sind, also kein Zugang mehr zum Wirtschaftssystem und damit mittelbar auch keine Inklusion ins Gesundheits- oder Bildungssystem mehr besteht, da verschlechtern beispielsweise die Folgen eines Rechtsbruches die jeweilige Lebensqualität der Betroffenen auch nicht mehr weiter (in nicht wenigen Fällen dürften sie sie womöglich gar anheben – in Gefängnissen gibt es immerhin grundlegende Versorgung). Der Rechtscode besteht zwar weiterhin, aber „ob und aus welchen Anlässen [er] benutzt wird oder nicht, richtet sich dann nach einer anderen Differenz, der von Inklusion und Exklusion“ (ebd.: 585). Dies hat tiefgreifende gesellschaftsstrukturelle Konsequenzen: Die operative Geschlossenheit der Funktionssysteme Politik und Recht ist nicht mehr gesichert, was aber eben eine Grundvoraussetzung ist für ein praktisch funktionierendes, also nicht nur „auf dem Papier präsentes“ Verfassungsrecht (vgl. Luhmann 1990: 212f.).

All dies führt einerseits zu der Erkenntnis, dass funktionale Differenzierung offensichtlich keine global vorzufindende oder jedenfalls in der gleichen Intensität präsente Gesellschaftsstruktur ist, ihre Durchsetzung sich also somit danach richtet, wo Inklusion vorherrscht und wo Exklusion dominierend ist – ein Zwischenfazit, dass insbesondere für jene Makrosoziologie von Relevanz ist, die sich für weltregionale gesellschaftsstrukturelle Unterschiede und die Konstitution der Weltgesellschaft interessiert. Andererseits – und dies ist für die historisch ausgerichtete Makrosoziologie, in der diese Analyse und ihr empirischer Fokus verortet ist, noch wichtiger – lässt sich aus diesem Postulat Luhmanns eine für die von ihm geprägte Systemtheorie sehr bemerkenswerte Konklusion ableiten, die durchaus geeignet ist, jahrzehntelang dargelegte und in der Soziologie durchaus energisch bis temperamentvoll verteidigte Grundthesen der Theorie funktionaler Differenzierung zu relativieren. Denn: Die mitunter für ganze Bevölkerungsgruppen einschneidende Dominanz eines Metacodes Inklusion / Exklusion ist laut Luhmann immerhin imstande, zahlreiche von der Systemtheorie postulierte sozialstrukturelle Elemente, wie sie auch oben ausführlich beschrieben wurden, obsolet zu machen. Metacodierungen können Funktionssysteme zu formal zwar gültigen, aber ansonsten buchstäblich nur noch als gesellschaftlicher talk im neo-institutionalistischen Sinne präsenten Einrichtungen degradieren, der eine Art öffentliche Legitimationsfunktion für die Zurechnung nationalstaatlicher Strukturen erfüllt, aber von zahlreichen „Lebensrealitäten“ der Mikro- und der Meso-Ebene und von der action-Dimension der Makro-Ebene nahezu entkoppelt ist.

Es dürfte klar sein, warum das Konzept des Metacodes auch für die hiesige Fragestellung von großer Bedeutung und auch von großem methodischem Nutzen ist. Wo in der heutigen Weltgesellschaft die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion als globale Metacodierung imstande ist, andere Leitdifferenzen stellenweise zu unterminieren, so ließe sich, historisch weitergedacht, die Unterscheidung von Freund und Feind, die nach Schmitt (2015a) die Leitdifferenz des Politischen ausmacht und die im Dritten Reich über die radikale, staatlich forcierte Exklusion von Bevölkerungsgruppen ihre Anwendung fand, als Metacode der Gesellschaft des deutschen Herrschaftsbereichs jener Zeit bezeichnen, der andere gesellschaftliche Leitunterscheidungen wenigstens zeitweise, im Rahmen des politisch determinierten Ausnahmezustands, überlagern und auch sie unterminieren konnte. Da es hierbei zugleich immer auch um die Inklusion der als „arisch“ angesehenen Bevölkerungsgruppe in die sogenannte deutsche Volksgemeinschaft ging, welche eben durch die Abgrenzung zu den Exkludierten stärker integrierte und in ihrer Identität gestärkt wurde (erst durch die Bestimmung des Feindes wurde politisch geklärt, wer Freund sein sollte), lässt sich die Differenz von Inklusion und Exklusion letztlich auch in diesem Fall als zumindest sekundäre gesellschaftliche Meta-Unterscheidung betrachten. In jedem Fall macht es, inspiriert durch Luhmann (1995: 583), sehr viel Sinn, das Aufkommen eines Metacodes als (notwendigen) Schritt hin zu einer teilweise (!) vorhandenen funktionalen Entdifferenzierung zwischen gesellschaftlichen Subsystemen zu begreifen.

Dies gilt freilich immer mit der Einschränkung, dass diese nur teilweise vorhanden sein kann, also ohne eine generelle und komplette Außerkraftsetzung der funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur. Genau das ist es, was auch der Terminus „Meta“ hierbei deutlich macht: Es geht nicht um einen Ersatz, um eine völlige Neucodierung, sondern um eine Überlagerung, ein Unterminieren, ein Hierarchisieren – und, u. a. auch in unserem Falle, um ein Politisieren, aber eben unter Beibehaltung anderer Leitdifferenzen, nämlich jener der übrigen Funktionssysteme.

So konstatiert auch Luhmann etwa die Möglichkeit eines (nicht nur in der politischen Semantik derart etikettierten, sondern eben auch gesellschaftlich manifestierten) Ausnahmezustands, der über das sogenannte Notstandsrecht eintreten kann: „Es muß im politischen System jemanden (…) geben, der sich im Ausnahmefalle über jede Rechtsschranke hinwegsetzen kann. (…) Souverän ist dann derjenige, der in einem solchen Falle definiert, was das Gemeinwohl erfordert, und sich damit politisch durchsetzen kann. Wenn der Verfassungstext das nicht zuläßt, geschieht es (im hoffentlich seltenen Falle) eben extra legem“ (Luhmann 1990: 200). Hier wird de facto nichts anderes beschrieben als zumindest zeitweilige funktionale Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht, in Form einer Überlagerung des letztgenannten Funktionssystems durch politische Unterscheidungen – ein Primat des Politischen, konkret sichtbar durch die Definitionshoheit über den Terminus des „Gemeinwohls“. Im weiteren Verlauf derselben Schrift nennt er weitere Beispiele politischer Maximen, die für unmittelbare Durchsetzbarkeit standen und auf die im Zuge von struktureller Kopplung von Politik und Recht bzw. von Rechtsstaatlichkeit fortan verzichtet wird – wie etwa jene der „Rassenreinheit“ (vgl. Luhmann 1990: 205). Implizit wird von ihm damit abermals die Diagnose vertreten, dass die nationalsozialistische Programmatik auf eine Außerkraftsetzung funktional differenzierter Gesellschaftsstrukturen setzte.

Mit Blick auf einen anderen historischen Beispielfall konstatiert er, dass es nur die (über einen zwischen seinen beiden Seiten fluktuierenden politischen Code zustande kommende) Zulassung von Konflikten innerhalb des politischen Systems ermöglicht, dass die Ausdifferenzierung desselben gelingt (vgl. Luhmann 2000: 94): „Wäre das System als unitärer Block gegeben, wie es die kommunistische Partei der ehemaligen Sowjetunion versucht hat, würde dieser Block zum Konflikt mit seiner gesellschaftlichen Umwelt tendieren, den er dann auf der Ebene der öffentlichen Kommunikation, wenn nicht durch Gewaltausübung, unterdrücken müßte“ (Luhmann 2000: 94). Demokratie ist Kontingenz, und erst diese trägt mit zur modernen Gesellschaftsstruktur bei: „Was wir ‚Demokratie‘ nennen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zurückführen, ist demnach nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung des politischen Systems“ (ebd.: 104f.). Demzufolge und im Umkehrschluss hätte man es beim politischen System des Dritten Reiches, welchem man zweifellos mindestens ebenso autokratische Eigenschaften attestieren muss wie dem sowjetischen, mit einem nicht voll ausdifferenzierten Funktionssystem zu tun.

Das in einer Demokratie als Mehrparteiensystem konstituierte politische System in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft ist also eines, das Komplexität und Kontingenz ermöglicht und sie zugleich besser verarbeiten kann, auch gewährleistet durch die Funktion der Politik und damit von Parteien, kollektiv verbindliche Entscheidungen unverbindlich vorzubereiten (vgl. ebd.: 266). Einparteiensysteme, wie es sie im „real existierenden Sozialismus“, im Faschismus und im Nationalsozialismus gab, sind demgegenüber komplexitäts- und damit auch kontingenzreduziert, da sie bereits mehr oder weniger verbindlich eine einzig-richtige Meinung festlegen und nur noch nach dem Schema konform/abweichend unterscheiden (vgl. ebd.: 269f.). Eine solche Rolle einer einzelnen Partei sei „eine beträchtliche Überforderung des politischen Systems, weil sie funktionale Differenzierung nicht akzeptieren kann und sich gesellschaftsweit engagieren muß, wohin immer das Schema konform/abweichend die Beobachtung lenkt“ (ebd.: 270). Hierdurch werde gewissermaßen ein gesellschaftsweit wirkender Verdacht generiert, der bei allen Interaktionen etwas Abwesendes und Ungreifbares hervorbringt, so dass selbst bei mangelnder Überzeugtheit von der politisch erwünschten Einheitsmeinung mindestens für einen gewissen Zeitraum allein die Unterscheidung von angenommenen und abgelehnten Meinungen noch motivierend, also politisch konformitätserzeugend wirken kann (vgl. ebd.: 270f.). Mit dieser Perspektive liefert Luhmann eine kurze, aber einleuchtende systemtheoretische Erklärung für das Phänomen eines „totalitär erzeugten Konsens“, wie es ihn auch im Dritten Reich gab.

Auf der anderen Seite – bzw. in einem anderen Werk – macht Luhmann aus seiner Skepsis gegenüber die Vorstellung einer Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht im Dritten Reich keinen Hehl: Zwar „können Grenzlagen erreicht werden, in denen das Rechtssystem nur noch okkasionell und unzusammenhängend als an sich selbst orientiertes System fungiert und in der Realität innen wie außen als bloßes Machtinstrument erfahren wird. (…) Im Extremfall kann nicht mehr von autopoietischer Schließung (…) die Rede sein“ (Luhmann 1995: 82). Und dennoch: „Die Nationalsozialisten hatten bei allen politisch markanten Sprüchen von der Einheit von Staat und Recht und der gemeinsamen Ausrichtung am Führerprinzip den § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes, der die Unabhängigkeit der Gerichte garantiert, nicht aufgehoben. Sie hatten den Inhalt, die Bindung an das Gesetz, durch Bindung an die neuen Ansichten ergänzt, hatten für rechtswirksame Entfernung mißliebiger Richter aus dem Amt gesorgt, hatten Sondergerichte eingerichtet; aber das hatte auch genügt, um dem politischen Willen im Recht Geltung zu verschaffen“ (ebd.: 82). Trotz der politisch verbindlich gemachten Erwartung, dass die Gerichte den Willen des Führers zu verwirklichen haben, seien dennoch keine politischen Eingriffe in laufende Verfahren erlaubt gewesen – eine Feststellung, die Luhmann auch nochmal mit einem Zitat aus einem führenden verfassungsrechtlichen Lehrbuch jener Zeit unterfüttert (vgl. Luhmann 1995: 82). Wir werden später sehen, dass diese Einschätzung als Diagnose allerhöchstens für die ersten Jahre des Dritten Reiches faktisch zutreffend ist.

In diesem Zusammenhang macht Luhmann auch darauf aufmerksam, dass Autopoiesis weder ein politisches noch ein ethisches Kriterium der Akzeptabilität von Recht sei (vgl. ebd.: 83): Denn „selbst wenn wir meinen, damals habe keine unabhängige Rechtspflege bestanden: die damalige Auffassung war eine andere, sie war von einem Orientierungswechsel im Rechtssystem ausgegangen und von der Möglichkeit eines autopoietischen Vollzugs dieser Änderung“ (ebd.: 82f.). Gleichwohl verweist Luhmann im selben Kapitel auch auf Marcelo Neves (vgl. ebd.: 81, Fn. 73), der Erscheinungen von Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht in Brasilien untersucht (vgl. Neves 1992) und sich noch mit weiteren wichtigen Beiträgen zu deren Systemverhältnis hervorgetan hat (vgl. u. a. Neves 1998), um darauf basierend das oben zitierte Fazit zu ziehen, in derlei Fällen könne nicht mehr von autopoietischer Schließung die Rede sein (s. o.). Der Nationalsozialismus hatte die „Distanz zwischen Recht und Weltanschauung als Relikt des liberalen Rechtsstaates prinzipiell verworfen“ (Luhmann 1995: 96).

Diese Haltung wird von Luhmann an anderer Stelle nochmal in einer abstrakteren Form bekräftigt: „Das System kann keine Positionen vorsehen, die auf alle Fälle Recht haben bzw. Recht bekommen“ (ebd.: 549). Hierunter würden dann eben auch jene politischen Unfehlbarkeitszurechnungen fallen, die auch dem Führer des Dritten Reiches zuteilwurden. Ab dem Moment, in dem im übertragenen Sinne das Credo gilt, des Herrschers Wort sei Gesetz und damit identisch, erübrigt sich die Unterscheidung von Recht und Unrecht, da sie in dem Fall gewissermaßen politisch (oder, wie es über die Jahrhunderte davor üblich war, religiös) vorweggenommen worden ist und somit die Unterscheidung von Codierung und Programmierung wegfiele (vgl. Luhmann 1995: 549). Die Leitunterscheidung würde als solche de facto außer Kraft gesetzt: „Es kann konditionierte Sonderrechte, Notstandsrechte, Ausnahmerechte geben. Was nicht möglich ist, ist ein unkonditioniertes Recht zur Selbstexemtion. Denn für ein solches „Recht“ wäre unentscheidbar, ob es im System oder außerhalb des Systems zu verorten ist“ (ebd.: 549). Mit anderen Worten: Es läge demnach eine funktionale Entdifferenzierung des Rechtssystems vor; die Grenze zwischen dem Recht und seiner Umwelt (bzw. in diesem Falle besonders dem politischen System) wäre nicht mehr klar erkennbar, da politisch determinierte Willkür die Rechtskommunikation aushebelt. In diesem Zusammenhang kritisiert Luhmann auch den sogenannten Dezisionismus, der die gegenteilige Auffassung vertritt, als undurchdacht (vgl. ebd.: 549). Dieser geht maßgeblich auf den späteren NS-Staatsrechtler Carl Schmitt zurück (vgl. Schmitt 2015b), der das Recht als dem Politischen untergeordnet ansah. Folgt man speziell dieser Textstelle Luhmanns, so wäre dies also wiederum eher ein Argument für das Vorliegen von funktionaler Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht im Nationalsozialismus.

Der soziologisch reflektierte Leser spürt bei diesen in der Gesamtsicht durchaus ambivalenten Textstellen, dass Luhmann hier noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen war, auch wenn manche der oben dargelegten Argumente Luhmanns zum Rechtssystem im Nationalsozialismus die Hürden, die für eine handfeste Diagnose funktionaler Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht zu überwinden sind, recht hoch anlegen. Zu klären ist vor diesem Hintergrund insbesondere, ob die formalrechtlich nicht aufgehobene Unabhängigkeit der Gerichte im Dritten Reich ein Indikator sein kann für aufrechterhaltene funktionale Differenzierung – oder ob das, was Luhmann (recht flapsig) als „markante Sprüche“ der Nationalsozialisten abhandelt (s. o.), für die gesellschaftsstrukturelle Konstitution im Deutschland jener Zeit nicht doch eine größere Bedeutung innehatte. Wir kommen darauf zurück.

Deutlich wird durch die oben dargelegten Positionierungen Luhmanns zum Metacode und beispielsweise seine Feststellung, es gebe Weltregionen, „in denen sich das Prinzip der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems für Recht nicht oder nicht voll durchsetzen konnte“ (Luhmann 1995: 83), zugleich aber auch, dass dieser selbst in seinem Spätwerk implizit – ohne dies entsprechend zu formulieren – von mal national- und mal weltgesellschaftlichen und gesellschaftsstrukturellen Modalitäten ausging, welche eine graduell abzustufende Einschränkung (eben nicht immer „voller“) funktionaler Differenzierung durchaus vorsahen, und er somit eigentlich nicht grundsätzlich auf einer reinen „Entweder-oder“-Dichotomie von Differenzierung versus Entdifferenzierung beharrte, obgleich er sich an anderer Stelle dazu bekannte. In seinem Frühwerk wiederum hatte er noch von der „relativen Autonomie“ (Luhmann 1968b: 156-158; zitiert nach Schimank 2007: 151) gesellschaftlicher Teilsysteme gesprochen, was indirekt ein graduelles Verständnis dessen nahelegt. Denkt man Luhmanns explizite und implizite Stellungnahmen zu dieser Frage jeweils konsequent weiter und zu Ende, so lässt sich durchaus feststellen, dass er hier über die Jahre nicht nur zu unterschiedlichen, sondern teils auch zu recht widersprüchlichen Konklusionen kam. Das hat unweigerlich negative Folgen für die Erklärungskapazitäten der klassischen Systemtheorie: „Darüber, wie sich bestimmte Teilsysteme oder die moderne Gesellschaft als Ganze im Zeitverlauf verändert haben, gibt es bei [Luhmann] nur sehr pauschale Auskünfte wie etwa den Hinweis auf zunehmende Komplexität oder Beschleunigung des Wandels“ (Schimank 2007: 182f.). Diesem Defizit vermag eine graduelle Sichtweise auf Entdifferenzierung, wie wir sie (u. a. orientiert an Schimank) vertreten, beizukommen.



Literatur

Brunsson, Nils (1989). The Organization of Hypocrisy. Chichester: Wiley.

Hasse, Raimund / Krücken, Georg (2005). Neo-Institutionalismus (2. Aufl.). Bielefeld: Transcript.

Japp, Klaus P. (2015). Zur Funktion der Menschenrechte in der Weltgesellschaft – Niklas Luhmanns „Grundrechte als Institution“ revisited. Manuskript.

Luhmann, Niklas (1990). Verfassung als evolutionäre Errungenschaft. In: Rechtshistorisches Journal 9 / 1990, S. 176-220. 

Luhmann, Niklas (1995). Das Recht der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2000). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2009). Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie (5. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.
 
Meyer, John W. (2005a). Der sich wandelnde kulturelle Gehalt des Nationalstaats. In: Ders., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 133-162.

Meyer, John W. (2005b). Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Neves, Marcelo (1992). Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne. Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien. Berlin: Duncker & Humblot.

Neves, Marcelo (1998). Symbolische Konstitutionalisierung. Berlin: Duncker & Humblot.

Schimank, Uwe (2007). Theorien gesellschaftlicher Differenzierung (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Schmitt, Carl (2015a). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 (9., korrigierte Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot. 
 
Schmitt, Carl (2015b). Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (10. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

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