Systemtheorie IX: Werte und Reflexionstheorie

Gegenstand von Rechtskommunikation sind – trotz des Fehlens moralischer oder ethischer Unterscheidungen – nicht nur Normen, sondern auch Werte. Im Gegensatz zu Rechtsnormen (und auch sozialen Normen), die sich allesamt als durchaus konkrete, also zielgerichtete und mehr oder weniger klar verständliche allgemeine Verhaltenserwartungen definieren lassen, sind Werte grundsätzlich abstrakt. Ein Wert zeichnet sich dadurch aus, dass er ein bestimmtes gesellschaftliches Gut, ein Prinzip umreißt, aber auch nicht mehr tut als das. Man denke hier exemplarisch an klassische Werte wie Freiheit, Sicherheit, Gleichheit oder Solidarität, die man, etwa als politischer Redner, anpreisen kann, ohne sich dadurch bei irgendjemandem unbeliebt zu machen, da sie eben noch keine Aussage über die konkrete Art und Weise ihrer Verwirklichung beinhalten. So ließe sich, bei spezifischerem Blick, der Akzent beispielsweise eher auf die wirtschaftliche Freiheit setzen oder auf die bürgerrechtlich gewährten Freiheiten, oder auch auf Sicherheit vor Kriminalität sowie auf soziale Sicherheiten. Werden Werte spezifiziert, können sie miteinander kollidieren: Die ständigen Debatten im Politikfeld der inneren Sicherheit, die (vor allem bei Fragen der Überwachung) vom Konflikt der Werte Freiheit und Sicherheit geprägt sind, sind ebenso Beispiele hierfür wie die Kollision der Werte Solidarität / Gleichheit einerseits und wirtschaftliche Freiheit andererseits, wenn es um Maßnahmen der Wirtschafts-, der Steuer-, der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik geht. Nicht selten jedoch werden in der politischen Kommunikation Bezugnahmen auf Werte bewusst abstrakt gehalten, um eben solche Kollisionen und das durch diese mögliche Verprellen von Teilen des jeweiligen Publikums zu vermeiden (das Phänomen der für viele Zuhörer zustimmungswürdigen, aber gerade dadurch zumeist eher langweiligen „Sonntagsrede“ funktioniert über genau diese Strategie).

Das Rekurrieren auf Werte ist nicht an ein einzelnes Funktionssystem gebunden, sondern zweifellos in mehreren üblich, wenn man abseits des politischen Systems, in dem dieses – in Form von Reden und vor allem auch Parteiprogrammen – ständig der Fall ist, etwa auf das Religionssystem schaut: Kaum eine Predigt kommt ohne Wertebezugnahmen aus. Doch auch das Rechtssystem rekurriert auf Werte – insbesondere solche, welche von der Verfassung als struktureller Kopplung von Politik und Recht verankert wurden, wie etwa die oben exemplarisch genannten. Wertebezugnahmen sind insofern, innerhalb des Rechtssystems, besonders ein Charakteristikum der Rechtsprechungssemantik der Verfassungsgerichte. Wie auch im Falle von Wertebezugnahmen in der politischen Kommunikation dient dies nicht zuletzt der Beschaffung von Legitimität (vgl. Luhmann 1995: 97), welche wiederum kommunikative Anschlussfähigkeit gewährleistet.

In derlei systemübergreifenden Bezugnahmen ist jedoch – und auch hierin stimmen wir mit Luhmann ausdrücklich überein – kein Fall von Entdifferenzierung zu sehen, denn abgesehen von der klar erkennbar aufrechterhaltenen Differenzierung, die schon auf organisatorischer Ebene gegeben ist (vgl. ebd.: 97), sind Thematisierungen wie auch Entscheidungen über Wertefragen in allen drei oben genannten Funktionssystemen auf sehr unterschiedliche Weise gegeben – und dieser Unterschied lässt sich festmachen an der Maßgabe der jeweiligen Codierung bzw. Leitunterscheidung. Im Religionssystem werden Werte vor dem Hintergrund von Transzendenz-Narrativen thematisiert, während sie im politischen System zwecks Machtbewahrung bzw. Machtgewinn kommuniziert werden. Im Recht geht es schließlich wieder um etwas ganz anderes, nämlich um die Legitimierung von Recht und damit die Anschlussfähigkeit rechtlicher Kommunikation, was im Grunde eine Art Steigerung der Annahmewahrscheinlichkeit eben solcher bedeutet. Werte sind also mitnichten das, was in ihrer Kommunikation oftmals mitschwingt, also „absolut“ geltende Prinzipien, die mit dem Status der Unveränderbarkeit und der universellen Geltung gesegnet sind. Vielmehr sind sie zutiefst beobachter- und vor allem systemabhängige Semantiken, die im Rahmen unterschiedlicher Codierungen und damit unterschiedlicher „Systemsprachen“ sehr verschiedene Bedeutungen erlangen können, die sich zumeist aus den systemspezifischen Gründen für ihr Aufgreifen ableiten lassen. Dies gilt umso mehr, als dass Wertebezugnahmen noch nicht die direkte Identifikation mit Werten bedeutet, sondern genau jener Unterschied, jene Differenz (!), eben gerade die Autonomie des Rechtssystems aufzeigt: „Rechtsregeln werden zu ‚Kürzeln‘ für dahinterstehende soziale Werte, beginnen aber zugleich, sich von diesen Werten zu lösen“ (Teubner 1989: 53), sich gewissermaßen zu „entmoralisieren“ – also zu Teilen eines ganz eigenen Funktionssystems zu werden.

Während man beispielsweise die Rechtssoziologie durchaus als eine strukturelle Kopplung von Recht und Wissenschaft einordnen könnte, die die gegenseitige Beobachtung und Irritation ermöglicht, so wäre etwa die Rechtstheorie bzw. die Rechtsphilosophie als eine Form der Selbstbeschreibung des Rechtssystems fassbar (vgl. Luhmann 1995: 499), mittels dessen dieses sich seiner eigenen Identität versichert. Dies ist gemeinhin die Aufgabe und Funktion systemeigener Selbstbeschreibungen: Sie schaffen eine „Darstellung von Einheit, Funktion, Autonomie und auch Indifferenz (…). Sie geben nicht wieder, was ‚da ist‘, sondern konstruieren, was ihren Annahmen entspricht“ (Luhmann 1995: 499). Auch in diesem Zitat kommt wieder die konstruktivistische Prämisse der Systemtheorie zum Ausdruck, welche besagt, dass jedes soziale System seine eigene Realität konstruiert, schärft, formuliert und ausdifferenziert, sich also auf diese Weise von anderen Systemen abgrenzt und sich so seiner selbst versichert. Zugleich klärt es damit sein Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt. Im Falle des Rechtssystems ist diese Klärung etwa in Form von verfassungs- und staatsrechtlicher Theorie zu beobachten, die, gewissermaßen in der „Sprache“ des Rechtssystems, das Verhältnis zum politischen System (genauer: zum Zentrum des politischen Systems, also dem Staat) thematisiert und dabei auch, mit Blick auf die entsprechende strukturelle Kopplung, die Verfassung als verbindliche „Hauptinspirationsquelle“ für jene Einschätzungen heranzieht. Um eine – erforderliche – Verbindlichkeit und auch innersystemische Anschlussfähigkeit der jeweiligen Selbstbeschreibung zu schaffen, ist sie notwendigerweise schriftlicher Natur (vgl. ebd.: 500): „Selbstbeschreibung ist die Anfertigung eines autologischen (sich selbst mitmeinenden) Textes“ (ebd.: 498).

Die Selbstbeschreibung eines Funktionssystems, sei es nun jene des Rechts oder eines anderen Subsystems der Gesellschaft, manifestiert sich in Reflexionstheorien, also Theorien, die eine (Selbst-)Reflexion des Systems ermöglichen, ihm einen (inneren) Spiegel bereitstellen und eine Hinterfragung der eigenen Operationen gewährleisten – mit anderen Worten: Beobachtung zweiter Ordnung, also die Beobachtung der Beobachter, welche dem System zugleich die eigene Identität „rückversichert“ und zur Geschlossenheit der Systemgrenzen, zur Systemdifferenzierung und damit zur Selbstreferenz des Systems beiträgt (vgl. ebd.: 532f.). Das bedeutet gleichwohl nicht, dass sich jene Reflexionen bzw. Selbstbeschreibungen nicht semantisch (!) auf andere Funktionssysteme beziehen können. Im Gegenteil: Dies ist sogar nötig, um gewissermaßen einen Orientierungspunkt zu schaffen; eine Art konstruierte, fiktive Sicht von außen, die die Selbstbeobachtung möglich macht (fiktiv deswegen, da ein Funktionssystem aufgrund operativer Geschlossenheit und Autonomie bekanntlich nur aus der Maßgabe des eigenen Codes heraus und damit letztlich nicht wirklich aus der Perspektive eines anderen Funktionssystems beobachten kann). Luhmann, der in diesem Zusammenhang von der „Suche nach einem archimedischen Punkt“ (ebd.: 506) spricht, zitiert dazu illustrativ Jeremy Bentham: „Is it possible for a man to move the earth? Yes; but he must first find out another earth to stand upon“ (Bentham 1948: 5; zitiert nach Luhmann 1995: 506, Fn. 14). Doch zugleich ist es eben jene – gewissermaßen fiktive und sozial konstruierte – Außenperspektive, die letzten Endes dazu dient, die eigenen Systemgrenzen zu stabilisieren: Durch die semantische Bezugnahme auf nicht-rechtliche Rechtsquellen versichert sich das Rechtssystem seiner eigenen Identität als Recht – indem es bekräftigt, was es nicht ist, weiß es, was es ist. Die Rechtstheorie „kann jedenfalls die Einheit des Systems im System nur von der Umwelt her sehen“ (Luhmann 1995: 534).

Diese zunächst eher abstrakt-philosophisch anmutende Problematik wird sehr viel konkreter, wenn man einmal ganz praktische Probleme verschiedenster rechtlicher, politischer, ethischer oder religiöser Diskurse und Argumentationen betrachtet. So kristallisiert sich bei diesen – für Konstruktivisten wenig überraschender Weise – ab einem gewissen Punkt der Vertiefung und Theoretisierung schnell heraus, dass es hierbei kaum „die eine“ rationale Argumentation gibt, auf die es am Ende „objektiv“ und „rational“ hinauslaufen müsste, sondern dass man es stets mit verschiedensten Rationalitäten zu tun bekommt, die in ihrer „Letztbezugnahme“ auf prinzipielle Wertpräferenzen (s. o.) rekurrieren, welche wiederum mehr oder weniger automatisch andere Werte in den Hintergrund rücken, also weniger berücksichtigen. Im Falle religiöser und ethischer Debatten ist dies selbstverständlich und allgemein bekannt. In rechtlichen oder politischen Kontexten jedoch, in denen tendenziell noch immer mehr „Vernunftglaube“ vorherrscht (was hinsichtlich des politischen Systems auch daran erkennbar ist, dass so manche Parteien und Politiker immer mal wieder werbend darauf verweisen, wie wenig „ideologisch“ sie – im Gegensatz zum jeweiligen politischen Gegner – angeblich sind, was stets impliziert, wie „pragmatisch-rational“ man stattdessen selbst sei), dürfte die letzten Endes (!) willkürliche, weil subjektive und werteorientierte Grundlage von Argumentationen als Erkenntnis weniger anschlussfähig sein. 
 
Und dennoch: Am Ende geht es stets darum, wie man sich in Wertekonflikten entscheidet, und erst dies determiniert sodann die vermeintliche Rationalität und Logik der Argumentation, die ohne vorangegangene, subjektive, wertebasierte Relevanzkriterien (etwa zu der Frage, ob einem Freiheit oder Sicherheit wichtiger ist) keinerlei Entscheidungsgrundlage hätte. Dies gilt dann in der Folge natürlich auch für die Rechtstheorie, die selbst mit entsprechenden Bezugnahmen arbeitet, sich also beispielsweise auf religiöse oder politische Werte bezieht, um daraus Legitimation für rechtliche Entscheidungen und Operationen abzuleiten. Trotz operativer Geschlossenheit, Autonomie und Autopoiesis macht sich also auch das Rechtssystem die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zunutze und kann auch gar nicht anders, als eben dieses zu tun (vgl. Luhmann 1995: 505), denn „die Logik lehrt ja nach Gödel, daß ein Logiksystem unfähig ist, die eigene Widerspruchsfreiheit (als Symbol für die eigene Einheit) aus sich selbst heraus zu begründen, sondern sich die Bedingungen dafür ad extra geben lassen muß“ (ebd.: 505). Es ist also – dies ist gerade im Rahmen dieser Arbeit wichtig herauszustellen – auch noch kein Indiz für funktionale Entdifferenzierung, wenn etwa die Rechtstheorie bzw. die Selbstbeschreibung des Rechtssystems auf zu jenem Zeitpunkt politisch dominierende Werte abstellt, um rechtliche Operationen und Entscheidungen herzuleiten und zu legitimieren. Vielmehr ist es aus den oben beschriebenen Grundlagen eines logisch funktionierenden Systems unmöglich, nicht auf Beobachtungen aus der eigenen sozialen Umwelt Bezug zu nehmen. Aber es bleiben eben Beobachtungen, und zwar solche aus der eigenen binären Funktionslogik heraus – und damit keine direkten Anschlusskommunikationen an (in diesem Fall) etwa politische Kommunikationen. Auch diese Erkenntnis legt die soziologische Hürde, die überwunden werden müsste, um tatsächliche eine funktionale Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht diagnostizieren zu können, recht hoch an.

Aus diesen oben beschriebenen Eigenschaften funktionssystemischer Selbstbeschreibungen bzw. explizit derer des Rechtssystems ergibt sich also auch ein wichtiges Beurteilungskriterium für die staatsrechtlichen Selbstbeschreibungen im Dritten Reich. So wird im Zuge der Verwertung jener Darstellungen zu klären sein, ob diese eben „nur“ bloße Selbstbeschreibungen darstellen und somit lediglich etwas über die nationalsozialistisch-politisierte Realitätskonstruktion des damaligen Rechtssystems aussagen, oder ob sie zugleich auch als zutreffende makrosoziologische, ja gesellschaftstheoretische Beobachtungen des Systemverhältnisses von Politik und Recht bzw. der Gesellschaftsstruktur jener Zeit betrachtet werden können. Im letzteren Falle würde ihre Aussage für die Frage nach funktionaler Entdifferenzierung zweifelsohne von entscheidender Bedeutung sein; im ersteren Falle sind sie im Rahmen einer soziologischen Analyse wenigstens zunächst einmal „mit Vorsicht zu genießen“.

Andererseits ist es fraglich, inwieweit eine strikte, dichotomische Trennung zwischen solcherlei Einordnungen (politische und staatsrechtliche Selbstbeschreibungssemantik versus soziologische Strukturbeschreibung) überhaupt sinnvoll ist, da zwischen beiden Seiten unzweifelhaft eine durchaus relevante Wechselwirkungsbeziehung besteht. Denn: „Durch die Herstellung einer Theorie des Systems im System wird das System selbst verändert, der Gegenstand der Beschreibung ändert sich durch ihren Vollzug; und folglich sind daraufhin andere Beschreibungen möglich und vielleicht angebracht. Und das gilt für den soziologischen Vollzug einer Selbstbeschreibung der Gesellschaft wie für den rechtstheoretischen Vollzug einer Selbstbeschreibung des Rechtssystems“ (ebd.: 542f.). Für diese Arbeit ist diese Feststellung Luhmanns, der wir uns ausdrücklich anschließen wollen, eine zutiefst entscheidende Wegmarke, denn sie erlaubt es, Selbstbeschreibungssemantiken nicht nur als Selbstbeschreibungssemantiken zu behandeln, sondern sie in ihrem Wechselwirkungsverhältnis so ernst zu nehmen, dass sie eben auch als Indikatoren für soziologisch relevante Strukturverhältnisse bzw. Veränderungen in diesen rezipiert und bewertet werden können. Auch Rechtstheorie ist eben niemals nur Rechtstheorie, sondern auch das Feld, in dem sich „herrschende Meinungen“ gegen „Mindermeinungen“ des Rechts durchsetzen, in dem Anschlusskommunikation entsteht, die womöglich später, im Rahmen der Kernoperationen des Rechtssystems, im Rahmen der Peripherie bzw. der Gesetzgebung, aber auch im Rahmen des Zentrums bzw. der Rechtsprechung, von entscheidender Relevanz sein kann, und die nicht selten eben auch der Schaffung von Legitimation für Maßnahmen des politischen Systems und des Rechtssystems dient (in beiden Fällen allerdings stets aus der Sicht des Rechts, denn ansonsten wäre es politische Theorie und nicht Rechtstheorie). Genau dies sind dann eben jene Schritte, die über reine Selbstbeschreibungssemantik hinausgehen und systemstrukturelle Folgen haben können – bis hin womöglich zu Folgen für die Aufrechterhaltung der Systemgrenze, bis hin zur Möglichkeit funktionaler Entdifferenzierung. Selbstbeschreibung ist niemals nur Selbstbeschreibung. Vielmehr überholt sich die Selbstbeschreibung gewissermaßen stetig selbst, jedenfalls ab dem Moment, ab dem sie als solche rezipiert wird und Anschlusskommunikation hervorruft. Auch im Zuge eines makrosoziologischen Blickes auf das Dritte Reich und seine Gesellschaft ist diese Wirkungskette zu berücksichtigen.

Denkt man das Argument weiter, so ließe sich die Wechselwirkung beider Seiten durchaus auch in umgekehrter Richtung konstatieren, was gerade mit Blick auf die Theorie der funktionalen Differenzierung durchaus ein paar kurze Anmerkungen wert ist. Würde man demnach nämlich anerkennen, dass auch soziologische Beschreibungen der Gesellschaftsstruktur bzw. der Systemverhältnisse in dieser ihre Folgen für die Selbstbeschreibungen ihrer Funktionssysteme haben können, so müsste man damit ebenso feststellen, dass selbst Theorien wie die Systemtheorie Luhmanns, die in der Regel, mal implizit, mal explizit für sich in Anspruch nimmt, im Gegensatz etwa zu marxistischer Gesellschaftstheorie, kritischen Theorien etc. nicht normativ vorzugehen, nicht in alternativen Gesellschaftsmodellen zu denken oder diese anzustreben, letztendlich mit ihren „Beschreibungen des Bestehenden“ dazu beitragen, Selbstbeschreibungen gesellschaftlicher Subsysteme zu prägen, zu stabilisieren oder gegebenenfalls zu verändern. Demnach wären gewissermaßen auch die „unpolitischen“ Theorien mindestens indirekt oder implizit politisch, auch wenn es hier sicherlich darauf ankommt, in welcher Weise sie in welchem Funktionssystem sie überhaupt Anschluss finden. Im Falle der über das Wissenschaftssystem hinaus jedoch durchaus prominenten Systemtheorie allerdings wäre hier ein vertiefender Blick sicherlich lohnenswert. Aber: Dies ist eine Aufgabe der Wissenschaftstheorie, die hier nicht übernommen werden kann, weswegen wir die Thematik an dieser Stelle nicht weiter behandeln werden.

Innerhalb des systemtheoretischen Modells lässt sich die Rechtstheorie als Reflexionstheorie des Rechtssystems auch als eine strukturelle Kopplung zwischen Recht und Wissenschaft begreifen, so wie Theorie generell als strukturelle Kopplung der Funktionssysteme mit der Wissenschaft beschrieben werden kann (vgl. ebd.: 543f.). So wie die politische Theorie das politische System und die Wissenschaft strukturell koppelt und die ökonomische Theorie das gleiche für Wirtschaft und Wissenschaft vollbringt, bietet die Rechtstheorie auch für Recht und Wissenschaft ein Instrument zur gegenseitigen (Selbst-)Beobachtung, zur Spiegelung und zur Beobachtung zweiter Ordnung. Auch hier zeigt sich wieder eben jener unverzichtbarer „archimedische Punkt“ (s. o.), der eingenommen werden muss, um sich selbst einschätzen zu können (was für Personen bzw. psychische Systeme bekanntlich in ähnlicher Form gilt wie für soziale Systeme, wenn es etwa die Reflexion durch einen Psychotherapeuten, Berater oder Trainer braucht, um die „blinden Flecke“ der eigenen sozialen Selbstdarstellung oder gar der eigenen Psyche zu erkunden). Zugleich zeigt diese Einordnung der Rechtstheorie als strukturelle Kopplung auch auf, dass eben jene (Selbst-)Beobachtung zweiter Ordnung trotz aller womöglich hoch angesiedelten Reflexionsgrade eben immer nur aus der Maßgabe der eigenen Leitunterscheidung heraus erfolgen kann. Will heißen: Jede rechtliche Anschlusskommunikation, die auf Basis einer Irritation durch das wissenschaftliche Beobachtungsinstrument Rechtstheorie eingetreten ist, erfolgt sodann wieder nach der Unterscheidung von Recht und Unrecht, und nur dafür ist die Theorie in jenem Moment relevant gewesen – ebenso wie für den Rechtstheorie-Experten einer juristischen Fakultät beim Verfassen eines rechtstheoretischen Aufsatzes primär die Erkenntnisgewinnung und Wahrheitsfindung, die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit, also die Maßgabe des wissenschaftlichen Codes relevant war, nicht aber die Intentionen, die etwa bei handelnden Akteuren der Rechtsprechung vorliegen. Ab der im Zuge der Beobachtung erfolgten Irritation wird das daraus generierte Fazit als Anschlusskommunikation in das eigene Funktionssystem zurückgeführt.

Mit diesen oben dargestellten Feststellungen bewegen wir uns an dieser Stelle, ebenso wie auch das ihnen zugrundeliegende systemtheoretische Modell dazu, auf der äußersten Meta-Ebene einer Beobachtung dritter Ordnung (vgl. ebd.: 547): Wir beobachten die Beobachter dabei, wie sie sich selbst und ihre eigenen Beobachtungen beobachten.


Literatur

Luhmann, Niklas (1995). Das Recht der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 
 
Teubner, Gunther (1989). Recht als autopoietisches System. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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