Systemtheorie VII: Der politische Machtkreislauf

Die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie, wie sie im letzten Artikel dieser Reihe skizziert wurde, ist nicht die einzige Binnendifferenzierung, die Luhmann für das politische System ausmacht. Daneben stellt er einen Dreiklang fest, der insbesondere als Rahmen des im weiteren Verlauf noch zu beleuchtenden Machtkreislaufs eine essenzielle Rolle spielt: Die Unterscheidung von Publikum, Politik und Verwaltung. Die Politik lässt sich dabei lose der Peripherie zuordnen, während die Verwaltung recht klar im Zentrum des politischen Systems zu verorten ist. Im Falle des Publikums ist die Frage der Zuordnung zwiespältiger.

Das Publikum umfasst den Teil des politischen Systems, der in der Regel nur einmal alle paar Jahre formal verbindlich politisch kommuniziert: Den Wähler. Hiermit ist also jener nicht professionalisierte Teil des Systems gemeint, den dessen Selbstbeschreibung jedoch als demokratischen Souverän vorsieht, der aber nicht durch eine politische Organisation, sondern durch seine Grundrechte ins System inkludiert wird (vgl. Luhmann 2000: 253f.). Als politisches Publikum wird er in die Vorgänge der Peripherie kontinuierlich miteinbezogen, fällt aber im Zuge der Wahl in regelmäßigen Zeitabständen auch selbst kollektiv bindende Entscheidungen im Rahmen eines rechtlich hochformalisierten Vorgangs, was ihn zumindest in diesem Fall auch zu einem Bestandteil des politischen Zentrums macht.

Die Politik umfasst im Wesentlichen jene Elemente, die wir im letzten Artikel dieser Reihe bereits als charakteristisch für die politische Peripherie beschrieben haben: So kann man damit „jede Kommunikation bezeichnen, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten“ (ebd.: 254). Die Kommunikation der Politik verläuft gerade aufgrund dieser noch unverbindlichen Vorbereitungsfunktion von Entscheidungen zumeist weniger auf einer schriftlich-formalisierten als auf einer mündlichen bzw. auf der Interaktionsebene (vgl. ebd.: 254f.), da diese es zulässt, Inhalte, Programmatik, Themen und Positionierungen in der Debatte zu erproben, ohne sich deswegen gleich dauerhaft festlegen zu müssen. Wo keine oder nur wenig Schriftlichkeit vorherrschend ist, da ist auch eine (präzise) Rückbezugnahme auf die Kommunikation, eine verbindliche Zurechnung und Verantwortlichkeit schwieriger, so dass es für die beteiligten Personen und Organisationen, welche vor allem Parteien und allerlei Interessenverbände umfassen (vgl. ebd.: 254), letztendlich weniger riskant ist, in der Politik zu kommunizieren als etwa in der Verwaltung (s. u.). Typische „Foren“ für diese Art der politischen Kommunikation sind das Parlament, Gremiensitzungen, Parteitage, Pressekonferenzen, Interviews, politische Talkshows und andere klassische massenmediale Formate sowie inzwischen auch das Internet und dort vor allem soziale Netzwerke. Die Politik und vor allem die sie prägenden Parteien (in Mehrparteiensystemen) versuchen auf noch unverbindliche Weise kommunikative Klarheit herzustellen, die dann später, im Zentrum bzw. im Zuge einer mehr oder weniger endgültigen politischen Entscheidung und danach von der Verwaltung, in den Zustand der kollektiven Verbindlichkeit überführt werden kann: „Sie betreiben in einer unsicheren Welt Unsicherheitsabsorption“ (Luhmann 2000: 271).

Anders liegt der Fall bei dem Bereich der Verwaltung. Hier dominieren die für bürokratische Organisationen typischen Merkmale der Verbindlichkeit, der Formalisierung und der Schriftlichkeit der Kommunikation, was sich etwa in der Aktenmäßigkeit ausdrückt. Da, wo sich Verwaltungshandeln durch ihr (möglichst transparentes) Verfahren legitimieren muss (vgl. Luhmann 1969), muss eine direkte Zurechnung und Bezugnahme auf vergangene Kommunikation möglich sein. Auch ist das Handeln im Rahmen der öffentlichen Verwaltung zumindest aus der Sichtweise der in ihr tätigen Beamten und Mitarbeiter nur in seltenen Fällen dezidiert „politisch“ (vgl. Luhmann 2000: 255), sondern dürfte aus eben dieser Sichtweise heraus eher als eben „rational“, als „sachorientiert“ und als „zweckmäßig“ verstanden und tituliert werden, zumal es sich bei derlei Etikettierungen um gängige Selbst-, aber auch Fremdbeschreibungen der Charakteristika bürokratischer Verwaltungsorganisationen handelt. Dennoch lässt sich die Verwaltung als Teil des Zentrums des politischen Systems verstehen, denn hier werden kollektiv bindende Entscheidungen vollzogen – eine Aufgabe, die durchzuführen ohne das politische Kommunikationsmedium Macht nicht denkbar wäre, die zugleich immer auch das Ergebnis der von der politischen Leitunterscheidung determinierten Kommunikation ist und die darüber hinaus schließlich auch wieder als solche rezipiert wird, wenn beispielsweise Parteien, Verbände oder Bürgerinitiativen Probleme des Gesetzesvollzugs aufgreifen und selbst im Anschluss wieder politisch thematisieren. Auch wenn sie sich selbst oft nicht so sieht: Die öffentliche Verwaltung ist ein Kernbestandteil des politischen Systems.

Die oben gemachten Ausführungen leiten über zum systemtheoretischen Modell des Machtkreislaufs innerhalb des politischen Systems, bei dem zwischen der formalen und der informalen Variante unterschieden werden kann. Im formalen Machtkreislauf zeigt sich gewissermaßen die offizielle Auslegung des repräsentativ-demokratischen politischen Systems, welche jedoch nicht bloß reine Form im Sinne eines oberflächlichen talk ist, sondern im Konfliktfalle durchaus „durchgreifen“ kann (vgl. ebd.: 257): In dieser Sichtweise geht „alle Macht vom Volke aus“, womit in der systemtheoretischen Übersetzung also das Publikum gemeint wäre. Dieses wählt seine Repräsentanten in die Parlamente und hat darüber hinaus die Möglichkeit, an politischen Parteien und Interessenverbänden via Mitgliedschaft zu partizipieren, was die formale Schnittstelle von Publikum und Politik aufzeigt. Im formalen Übergang von Politik zu Verwaltung (bzw. in diesem Fall auch: von der Peripherie ins Zentrum) wird die unverbindlich und über Debatte und Diskurs verdichtete politische Positionierung, Einigung und Konsensfindung etwa auf parlamentarisch einzubringende Gesetzentwürfe fokussiert. Dieser Vorgang lässt sich in einer Art Trichterform visualisieren: Während in der Peripherie bzw. in der Politik die politische Kommunikation noch offen, unverbindlich und kontingent ist, wird sie mit dem Übergang ins Zentrum und damit letztlich in die Verwaltung konkret, unmissverständlich, verbindlich und formalisiert. Die Diskussion findet ein Ende, ein Entwurf liegt vor und die parlamentarischen Fraktionen bzw. ihre Abgeordneten können lediglich mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ stimmen. Nach der Verabschiedung, der womöglich noch weitere solcher Vorgänge in anderen gesetzgebenden Kammern folgen, geht es in den Gesetzesvollzug und damit von der Legislative in die Exekutive – und damit sozusagen zur Ausübung der politischen Herrschaft über das Publikum, das paradoxer Weise sowohl sein eigener Souverän als auch sein eigener Untertan ist (vgl. ebd.: 256f.). Der formale Machtkreislauf gibt das staatsrechtliche Ideal der demokratisch-rechtsstaatlichen Gewaltenteilung wieder. Die politische Macht zirkuliert von einer Station zur nächsten.

Dieser mit der üblichen Staatsrechtslehre harmonierenden Perspektive stellt Luhmann jedoch nun einen informalen, über dieselben Schnittstellen verlaufenden Gegenkreislauf gegenüber, welcher immer dominanter wird, „je größer der Entscheidungsspielraum und die Komplexität der Entscheidungslagen wird“ (ebd.: 258). Am eindrücklichsten wird dies deutlich, wenn man sich die informale Schnittstelle von Politik und Publikum vor Augen führt, deren prominenteste Erscheinung das alle paar Jahre wiederkehrende Phänomen des Wahlkampfes ist, bei dem Politiker und Parteien das Volk von sich selbst und ihren Positionen zu überzeugen versuchen (vgl. ebd.: 258). Und sie tun sogar mehr als das: Sie wirken auf es ein, sie politisieren es, gewinnen es für sich oder verprellen es. Auch hier wird „machtvoll kommuniziert“, mal mit positivem, mal mit negativem Ergebnis zwar, aber sicher ist: Die Wege der Macht verlaufen an dieser Schnittstelle stets in beide Richtungen – und bevor der Wähler sein Kreuz auf dem Wahlzettel macht, war er bereits im Zuge etwa von Wahlkampfkommunikation der „Machtunterworfene“ der Politik. Es wäre allerdings falsch, jene informale Schnittstelle auf den Wahlkampf zu reduzieren: Getreu dem in der Politik üblichen Credo „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ lässt sich durchaus attestieren, dass die Politik über die auch vor Wahlkämpfen übliche PR, über Talkshow-Auftritte, über Rhetorik, über soziale Netzwerke und vieles mehr kontinuierlich auf das Publikum einwirkt und es maßgeblich in seiner späteren Wahlentscheidung beeinflusst.

Auch der Blick auf die informale Schnittstelle von Verwaltung und Politik zeigt allerlei fast normal gewordene Merkmale des politischen Prozedere auf, über die sich politische Beobachter regulär kaum wundern, die aber in der staatsrechtlichen Selbstbeschreibungssemantik des demokratischen politischen Systems so kaum vorkommen. So zeigt sich zwischen diesen beiden Teilbereichen des Systems eben nicht nur der oben beschriebene, verfassungsrechtlich zu erwartende Übergang von der Legislative zur Exekutive, sondern eben auch der Einfluss, den die Verwaltung und ihre oftmals wachsende Bürokratie auf die politische Entscheidungsfindung hat, die ohne die Expertise entsprechender (Fach-)Beamter kaum auskommen kann, wie Max Weber bereits zu einer Zeit, als die Institution der Verwaltungsbürokratie noch jung war, erkannt hatte: „Die moderne Bürokratie zeichnet sich (...) durch eine Eigenschaft aus, welche ihre Unentrinnbarkeit ganz wesentlich endgültiger verankert als die jener anderen: die rationale fachliche Spezialisierung und Einschulung“ (Weber 1980: 834). Es ist eben jene „Unentrinnbarkeit“, die die hier thematisierte Schnittstelle kennzeichnet, denn durch diese ergibt sich die informale Macht der Verwaltung über die Politik, durch die erstere selbst zu einem politischen Akteur wird, eigene Positionen, Wünsche und Bedenken in die politische Debatte mit einbringt (vgl. Luhmann 2000: 259) und etwa über das Formulieren des vielumstrittenen „Sachzwanges“ einen Rahmen schafft, der definiert, in welchem Spielraum sich die zu fällenden politischen Entscheidungen überhaupt bewegen können und in welchem nicht, was „praktisch machbar“ ist und was „utopisch“, was „alternativlos“ ist und was nicht, wie ein Gesetzentwurf „rechtssicher“ erarbeitet werden kann und wie nicht. In der modernen, komplexen, funktional differenzierten Gesellschaft des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts ist Regieren nur noch mit viel politischer Planung (vgl. Luhmann 2007) und mit ausgearbeiteter Wissensgrundlage möglich, und dies macht die Verwaltung für die Politik unverzichtbar und eben, mit Weber gesprochen, auch „unentrinnbar“. Das Phänomen des (teils beträchtlichen) Wissensvorsprungs der Verwaltung gegenüber der Politik manifestiert sich in der Bundesrepublik Deutschland auf allen föderalen Ebenen, vom Bund bis hinunter in die Kommune, wo ein großer, hauptamtlicher Verwaltungsapparat einer Gruppe von ehrenamtlichen „Hobby-Politikern“ gegenübersteht, denen die Verwaltung in Sachen formalem, prozessualem und juristischem Wissen teils um Längen voraus ist. Auf Landes- und auf Bundesebene, wo die gewählten Volksvertreter ihrem Mandat hauptberuflich nachgehen und über eigene Mitarbeiter verfügen, ist der Unterschied nicht ganz so extrem ausgeprägt, aber – allein schon im Zuge eines rein quantitativen Vergleiches der jeweils zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen – immer noch deutlich sichtbar. Dies wird gerade auch durch die Tatsache deutlich, dass Gesetzentwürfe – also Aufgaben, die eigentlich der legislativen Gewalt zuzuordnen sind – in der Regel von Ministerien und damit Teilen der exekutiven Gewalt ausgearbeitet werden, weil diese die Herausforderung aufgrund ihres beträchtlich größeren sowie leistungs- und kenntnisreicheren bürokratischen Apparates besser, d. h. mit mehr Expertise und größerer Rechtssicherheit, bewältigen können (was später relevant werden könnte, wenn z. B. die Opposition vor dem Verfassungsgericht gegen das verabschiedete Gesetz klagt). Über die Möglichkeit der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen ergeben sich in der Folge vielfältige Möglichkeiten zur politischen Beeinflussung, zur Rahmensetzung politischer Entscheidungen seitens der Regierung. Es ist vor diesem Hintergrund beinahe unvermeidlich, dass die Verwaltungsbürokratie über ihren Wissensvorteil auch zu einem Machtfaktor wird – und dies eben nicht nur im formalen, sondern auch im informalen Machtkreislauf; nicht nur gegenüber dem Publikum und als vollziehende Gewalt, sondern auch gegenüber der Politik, als eigenständiger politischer Akteur.

Doch auch das Publikum verfügt über informale Macht, was uns zur nächsten entsprechenden Schnittstelle führt, nämlich jener zwischen ihm und der Verwaltung. So ist es eben nicht nur bloßes „Objekt“ bzw. Adressat des Gesetzesvollzuges, sondern durchaus auch imstande, auf die Verwaltung einzuwirken. Gerade im modernen Rechtsstaat der Gegenwart, der keinen klassischen Obrigkeitsstaat mehr kennt, sondern – mindestens in der Semantik – die öffentliche Verwaltung als eine Art Servicebetrieb organisiert. Beispiele hierfür wären etwa das Modell der „Bürgerkommune“ oder Einrichtungen der kommunalen Partizipation (Bürgerentscheide etc.). Doch dies ist gewissermaßen nur die Makro-Seite jener hier thematisierten Schnittstelle. Die Mikro-Seite bezeichnet die informale Macht des Publikums über die Verwaltung im Rahmen der Interaktion: Das Verhältnis der Verwaltung zum Bürger ist eben nicht eines, das man mit der Unterscheidung von Befehl und Gehorsam fassen könnte, sondern basiert in weiten Teilen auf Dialog, Verständigung, Abmachungen und Konsensfindung (vgl. Luhmann 2000: 260ff.), was nicht zuletzt auch durch den sogenannten Ermessensspielraum begründet wird, den Verwaltungsbeamte bei ihren Maßnahmen oftmals haben. Man denke hier exemplarisch an die klassische Situation in Arbeitsagentur oder Jobcenter, in der der Arbeitsvermittler infolge seines Eindrucks beim persönlichen Gespräch mit dem Kunden entscheidet, wie er weiter vorgeht bzw. wie restriktiv oder eben eher kooperativ er mit ihm umgeht. Der Klient – also der Bürger – kann hier durch kluges Auftreten, Engagement und Darlegen seiner persönlichen Lebensumstände durchaus einen gewissen Einfluss darauf ausüben, wie die Verwaltung im weiteren Verlauf mit ihm geht. Das Beispiel lässt sich auf zahlreiche weitere Interaktionssituationen ausdehnen. In vielerlei Fällen (auch etwa im Umgang mit „juristischen Personen“ wie etwa Wirtschaftsunternehmen) wird sich die öffentliche Verwaltung nicht mehr verhalten wie eine obrigkeitsstaatliche Institution, sondern eher auf Dialog, Einigung, Konsens und „einvernehmliche“ Entscheidung setzen, da sie weiß, dass die allzu rigorose Anwendung der exekutiven Machtmittel (im Rahmen des formalen Machtkreislaufs) mindestens langfristig eher eine Schwächung als eine Stärkung der eigenen Macht nach sich ziehen könnte. Die informale Macht des Publikums ergibt sich somit letztlich aus dem Streben nach Erhaltung der formalen Macht seitens der Verwaltung.

Der aus einer formalen wie auch einer informalen Richtung bestehende Doppelkreislauf ist eine weitere Folge des Bedarfes zur Komplexitätsreduktion: Der formale Machtkreislauf ist überlastet durch das heutige Ausmaß an Komplexität, was zur Herausbildung der informalen Machtkommunikation im politischen System geführt hat (vgl. ebd.: 264). Deren jeweilige, oben beschriebene Schnittstellen zwischen den drei besagten Teilbereichen schaffen Klarheit und Überblick: Über den Wahlkampf und mediale Präsenz seitens der Politik erfährt der Wähler, womit er im Falle der Wahl einer bestimmten Partei oder eines bestimmten Politikers (vermeintlich) zu rechnen hat. Über die Teilnahme der Verwaltung bzw. der Regierung an politischen Debatten gewinnen Politiker und Parteien Sachkenntnis, Expertise und Rechtssicherheit. Und über die Miteinbeziehung des Publikums in Maßnahmen der Verwaltung werden die Anschlussfähigkeit und die Konsenschancen hinsichtlich eben jener erhöht. Luhmann sieht jene Entwicklung als Folge der Evolution des politischen Systems an, die nur schwer umkehrbar ist (vgl. ebd.: 264). Man kann diese Sichtweise durchaus als eine alternative, eben politisch-soziologische statt staatsrechtliche Beschreibung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung beschreiben, denn die Funktion all dessen läuft letztlich auch im systemtheoretischen Verständnis auf ein ähnliches Ergebnis hinaus: „Die Kontrolle der Kontrollen – das ist das System“ (Luhmann 2000: 265).

Eine kurze, abschließende Bemerkung widmen wir an dieser Stelle der Mikro-Ebene des Politischen, nämlich der der Personen. Hier gilt eine für das moderne politische System wichtige Feststellung: „Für politische Personalselektion ist die Unterscheidung von Amt und Person eine unerläßliche Voraussetzung“ (ebd.: 376). Auch hier zeigt sich funktionale Differenzierung in Form der operativen Geschlossenheit des politischen Systems, welches eben nach der ihm zugrundeliegenden Funktionslogik operiert und nicht nach der Maßgabe persönlicher Charakteristika, was dann in der Folge auch für die Personalpolitik des Systems zu gelten hat – jedenfalls in der talk-Dimension, die im Einzelfall durchaus von der action-Dimension entkoppelt sein kann – was aber dann nicht öffentlich werden darf, sondern in der Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit „politisch rationalisiert“ werden muss. Niemand wird offiziell deswegen Minister, weil der Regierungschef einen gernhat – was inoffiziell aber zuweilen anders aussehen mag. Zugleich wird über die mediale Präsenz in Verbindung mit dem Amt, das ein Politiker innehat, „ein anderes, leichter faßliches, pressefähiges, telegenes Mysterium“ (ebd.: 377) geschaffen, auf das dessen Entscheidungen zugerechnet werden können. Nichtsdestotrotz können auch unpolitische Erwägungen in der Politik eine (positive oder negative, machtdienliche oder machtgefährdende) Rolle spielen, wenn man etwa an die Schlagzeilenträchtigkeit des privaten Verhaltens von Politikern denkt (vgl. ebd.: 377f.): „Insofern ist Individualität (Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit) mitzupräsentieren, wofür das Fernsehen gleichsam automatisch sorgt. (…) Aber die politische Attraktivität einer Persönlichkeit liegt speziell in ihrer Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit“ (ebd.: 378). Dies begründet letztlich auch das Charisma eines Politikers im Sinne Max Webers mit: Die Zurechnung von politischer Entscheidungsfähigkeit, durchaus aber eben auch begleitet von unpolitischen Faktoren wie charakterlichen Dispositionen. Dieser Komplex berührt zwar eine sehr spezielle Frage der Struktur des Politischen, um die es hier nicht schwerpunktmäßig geht, hat aber mindestens indirekt auch für einen empirischen Fall eine Relevanz, in dem ein ganzes (nationales) politisches System maßgeblich von einem „Führer“ geprägt wurde, dessen politisch-mediales Bild sich eben dadurch auszeichnete, dass das Amt eben ganz dezidiert – und sogar staatsrechtlich legitimiert (vgl. Schmitt 1934) – nicht von der Person getrennt, sondern sogar aus ihr selbst hergeleitet wurde. Mit dieser Form charismatischer Herrschaft im Sinne Webers und vor dem Hintergrund der oben dargelegten Ausführungen Luhmanns liegen ebenfalls Indizien dafür vor, dass es sich beim politischen System des Nationalsozialismus schwerlich um ein voll ausdifferenziertes gesellschaftliches Funktionssystem gehandelt hat. 



Literatur 


Luhmann, Niklas (1969). Legitimation durch Verfahren. Neuwied: Luchterhand.
Luhmann, Niklas (2000). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (2007). Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung (5. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schmitt, Carl (1934). Der Führer schützt das Recht. In: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 39, Heft 15, S. 945-950. 

Weber, Max (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (5. rev. Auflage). Tübingen: Mohr.

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