Systemtheorie IV: Soziale System-Typen und System-Ebenen


Betrachtet man den System-Begriff von einem interdisziplinären, universellen Standpunkt aus, so lassen sich die unterschiedlichsten System-Typen herauskristallisieren: Hier wäre etwa das Öko-System denkbar, biologische Systeme wie der menschliche oder tierische Körper oder Pflanzen, technische Systeme wie Computer oder Motoren, und auch psychische Systeme bzw. Bewusstseinssysteme, die jedoch aus soziologisch-systemtheoretischer Sicht für die Umwelt intransparent sind, auch wenn Kommunikation – also soziale Systeme – einen anderslautenden Eindruck erweckt. Doch diese ist eben nicht identisch mit dem psychischen System selbst. Genauere Ausführungen zu der Frage lassen sich in Luhmanns Aufsatz „Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?“ (vgl. Luhmann 1995) finden. Letztlich wird mit der genaueren Erörterung der oben genannten Systemtypen die fachdisziplinäre Grenze zu den Naturwissenschaften, zur Technik und zur Psychologie überschritten, weswegen sie uns im Folgenden, im Rahmen dieses soziologischen Textes, nicht weiter beschäftigen kann und soll.

Doch auch im Feld der sozialen Systeme haben wir mit der oben gemachten ausführlichen, makrosoziologischen Darstellung der Struktur des Gesellschaftssystems und deren Veränderungen sowie der Funktionssysteme – also der Subsysteme der Gesellschaft – und ihres Verhältnisses zueinander lediglich einen Teil dessen thematisiert, was hier für den soziologischen Beobachter von Relevanz ist. Wo von Makrosoziologie bzw. einer Makro-Ebene die Rede ist, da liegt die abgrenzende Problematisierung der Mikrosoziologie bzw. der Mikro-Ebene und die einer Meso-Ebene nicht fern. Ohne sie gezielt so zu nennen, nimmt Luhmann eine eben solche Differenzierung vor. Er gliedert das Soziale in drei maßgebliche soziale System-Typen bzw. System-Ebenen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft (vgl. Luhmann 2005).

Interaktionssysteme sind demnach jene sozialen Systeme, die sich auf der kleinsten Ebene, also auf der Mikro-Ebene bewegen. Sie werden durch Anwesenheit konstituiert und dadurch, dass „Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen“ (Luhmann 2005: 10). Die daraus folgende Definition von Interaktion als „Kommunikation unter Anwesenden“ führt zugleich zum logischen Schluss, dass wer nicht anwesend ist, auch nicht am Interaktionssystem partizipiert. Interaktionssysteme sind somit in den allermeisten Fällen sehr kurzlebig und in ihrem Umfang stetig veränderlich. Sie sind unverbindlich und können sich, etwa als alltägliche Kommunikationssituationen zwischen wenigen Menschen, spontan konstituieren und auch wieder auflösen. Die „Systemgrenze zeigt sich darin, daß man nur mit Anwesenden, aber nicht über Anwesende sprechen kann; und umgekehrt nur über Abwesende, aber nicht mit ihnen“ (ebd.: 11). Die Komplexität von Interaktionssystemen ist sowohl in ihren Umweltbeziehungen als auch in ihrer eigenen Struktur begrenzt, was sich u. a. daran zeigt, dass in derlei Systemen immer nur einer der Anwesenden auf einmal reden kann, da ansonsten keine verständliche Fortführung der Kommunikation mehr möglich ist (vgl. ebd.: 11). Interaktionssysteme sind also in ihren kommunikativen Möglichkeiten beschränkt und daher insbesondere in der modernen, funktional differenzierten und daher hochkomplexen Gesellschaft für viele Zwecke ein eher ineffizientes Kommunikations- und Koordinationsmittel.

Innerhalb eben dieser hochkomplexen, modernen, sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft hat sich daher ein weiterer sozialer Systemtypus etabliert, der ihren Herausforderungen besser begegnen kann: Das Organisationssystem, welches auf Mitgliedschaft beruht, wodurch die Inklusion in das Organisationssystem – anders als beim Interaktionssystem der Fall – nur durch einen formalen Akt, also etwa einen Arbeitsvertrag oder eine Beitrittserklärung, möglich ist. Eine der relevantesten Eigenschaften dieses in der Moderne drastisch expandierten Systemtyps ist seine Fähigkeit zur Motivgeneralisierung und zur Verhaltensspezifikation: Die Mitgliedschaft in der Organisation ist an bestimmte Bedingungen geknüpft, welche, sofern es sich um eine Mitgliedschaft in Form eines Arbeitsverhältnisses oder auch des Beamtentums handelt, vor allem auch eine bestimmte, „künstliche Motivation“ generieren, die von den betreffenden Mitgliedern geteilt werden muss, damit die Organisation reibungslos funktionieren kann (vgl. ebd.: 13f.). Eine solche Unterwerfung unter die Organisationsziele wird in der Regel durch Bezahlung gewährleistet. Und: „Man muß nur ein allgemeines Gleichgewicht von Attraktivität des Systems und Verhaltensanforderungen sicherstellen und wird unabhängig davon, ob für jede Einzelhandlung natürlich gewachsene Motive oder moralischer Konsens beschafft werden können. (…) Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren – ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht“ (ebd.: 14). Auf der anderen Seite wird nicht organisationskonformes Verhalten seitens der Mitglieder wirksam ausgeschlossen und interne und externe Konflikte werden klar differenziert: „Man darf sich im Dienst nicht an seinen Privatfeinden rächen, darf den Kindern des politischen Gegners keine schlechteren Zensuren erteilen oder umgekehrt dem Lehrer die Auszahlung des Bankkredits verweigern, weil er schlechte Zensuren erteilt hatte“ (ebd.: 21). Auf dieser Basis bilden Hierarchien in Organisationen jene kommunikationsstrukturellen Voraussetzungen, die es braucht, um derlei Motivgeneralisierung und Verhaltensspezifikation umzusetzen. Auch die übliche Kommunikationsform in Organisationen hat einen speziellen Charakter: Über Elemente wie Aktenmäßigkeit, Schriftlichkeit und dadurch gewährleistete Verbindlichkeit, die auch gesicherte Bezugnahmen auf frühere Kommunikationen und Entscheidungen ermöglicht, werden Planbarkeit und Sicherheit gewährleistet. Organisationssysteme können u. a. genau über diese Strukturelemente zur Reduzierung gesellschaftlicher Komplexität und Kontingenz beitragen, welche durch die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft zunächst sprunghaft angestiegen ist. Dies gilt umso mehr mit Blick auf soziale Phänomene wie etwa die Globalisierung und die Ausdifferenzierung einer Weltgesellschaft, welche den Kontingenz- und Komplexitätsgrad des Gesellschaftssystems ihrerseits noch einmal gravierend gesteigert haben. Zugleich ermöglichen speziell im Rahmen der öffentlichen Verwaltung die Verbindlichkeit organisationaler Kommunikation sowie das Vorgehen nach entsprechenden, für jedermann einsehbaren rechtlichen Grundlagen transparente Verfahren, welche auf diese Weise Legitimation gewährleisten (vgl. Luhmann 1969). Auf diese Art und Weise kann die Exekutive bei ihrer Tätigkeit mit breiter Akzeptanz seitens der Allgemeinheit rechnen.

Die drei hier skizzierten sozialen System-Ebenen Gesellschaft, Organisation und Interaktion standen über die Menschheitsgeschichte hinweg in einem sich wandelnden Verhältnis zueinander. Während in archaischen Gesellschaften die drei Systemtypen nur unscharf voneinander abgegrenzt waren und, beispielsweise in einem Stamm, die Gesellschaft mit der Organisation und manchmal gar dem Interaktionssystem deckungsgleich war, haben sich die drei Ebenen mit dem Übergang zur Moderne immer weiter ausdifferenziert und sind heutzutage relativ klar voneinander abgrenzbar (vgl. Luhmann 2005: 15). Das schließt gleichwohl nicht aus, dass es auch heute Verknüpfungen zwischen den Ebenen gibt: So können Organisationssysteme im funktional differenzierten Gesellschaftssystem die Aufgabe einer strukturellen Kopplung von Funktionssystemen bzw. gesellschaftlichen Subsystemen übernehmen. Außerdem können sie – wie Interaktionssysteme auch – gesellschaftlichen Funktionssystemen eindeutig zugeordnet sein, ebenso wie auch innerhalb von Organisationen natürlich fast immer auch weiterhin nicht nur schriftlich und formal kommuniziert, sondern auch interagiert wird – wodurch aber auch „das organisatorisch Vorgesehene (…) unterlaufen, deformiert oder gar absichtlich zum Entgleisen gebracht“ (ebd.: 17) werden kann (weswegen bei derlei inner-organisationalen Interaktionssystemen in der Regel, wie etwa bei Sitzungen der Fall, Protokoll geführt wird, was dann in der Folge wieder eine Verbindlichkeitsherstellung und nachträgliche Formalisierung von Kommunikation im Sinne der oben gemachten Ausführungen bedeutet). Interaktionssysteme selbst können, müssen aber nicht Teil von Organisationssystemen sein, gehören aber, wie Organisationssysteme auch, zwingend einem Gesellschaftssystem an (vgl. ebd.: 22).

Es versteht sich von selbst, dass eine funktional ausdifferenzierte Weltgesellschaft nicht identisch mit einem Interaktionssystem sein kann (ganz abgesehen davon, dass die Weltgesellschaft als Gesamtheit aller Kommunikationen auch nicht lediglich als „Summe aller Interaktionen“ beschrieben werden kann). Jedoch schließt der damit einhergehende Komplexitätsgrad auch aus, dass diese zugleich als Organisationssystem strukturiert werden könnte (vgl. ebd.: 15): Dies gilt allein schon deswegen, „weil der Motivationsmechanismus der Organisation Möglichkeiten des Eintritts und Austritts, also Kontingenz der Mitgliedschaft voraussetzt“ (ebd.: 15). Wo ein Eintritt oder Austritt bzw. Mitgliedschaft oder eben Nicht-Mitgliedschaft möglich sind, wie es bei Organisationssystemen der Fall ist, da ist die soziale System-Ebene der Gesellschaft, die stets die Gesamtheit des Sozialen umfasst, in eindeutiger Weise unterschritten, so dass eine „Weltorganisationsgesellschaft“ unmöglich ist. Nichtsdestotrotz haben wir mit der Frage der „Organisierung der Gesellschaft“, welche auf eine hierarchisierte, funktional zumindest in Teilen entdifferenzierte Organisationsgesellschaft hinausliefe, eine Schlüsselfrage der Politischen Soziologie erreicht. Sie wird an anderer Stelle wieder aufgeworfen und erörtert werden.

Es lässt sich durchaus das Postulat aufstellen, dass mit zunehmender funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch eine zunehmende Differenzierung von Gesellschaftssystem einerseits und Interaktionssystemen andererseits eintritt. Konkret erkennbar wird dies anhand von heutzutage normalen und rundherum erwartbaren Interaktionssituationen, die zu früheren Zeiten in dieser Form und in dieser Normalität und Erwartbarkeit wohl nicht denkbar gewesen wären: „Die Konkurrenz auf dem Markt, die große ideologische Kontroverse, die konterkarierenden Schachzüge in der Mikropolitik der Organisationen schließen nicht aus, daß man gemeinsam zum Essen eingeladen wird oder auf Empfängen nebeneinandersteht“ (ebd.: 20). Was gesellschaftlich oder auch auf organisationaler Ebene geschieht, spielt in der Interaktion keine zwingende Rolle mehr. Fokussiert man dieses Phänomen auf die politische Sphäre, so manifestiert sich hier das, was Carl Schmitt als Entpolitisierung beschrieb (vgl. Schmitt 2015: 63ff.), und das parlamentarisch-demokratische Regierungssystem maßgeblich trägt: Die Transformation des Feindes, den man in jedem sozialen Verhältnis ablehnt, eben weil er der Feind ist, hin zum bloßen Gegner, dessen Positionen man ideologisch bzw. politisch ablehnt, den man aber sonst als Mitbürger oder Mitmenschen akzeptiert, weswegen man mit ihm im parlamentarischen (aber auch medialen) Rahmen diskutiert und debattiert, anstatt ihn zu exkludieren. Funktionale Ausdifferenzierung bedeutet insofern auf der Interaktionsebene auch immer eine gesteigerte Akzeptanzerwartung an Personen hinsichtlich der Komplexität der verschiedenen sozialen Rollen anderer Personen. Umgekehrt hergeleitet lässt sich somit dann auch folgern, dass dort, wo Verfolgung bzw. (versuchte) Exklusion politischer Gegner (die dann demnach als Feinde betrachtet werden) stattfindet, von einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft noch nicht gänzlich die Rede sein kann und hier zumindest entsprechende strukturelle „Defekte“ angenommen werden müssen.

So wie Organisationssysteme auch strukturelle Kopplungen von Funktionssystemen bereitstellen können (s. o.), können Interaktionssysteme jedoch auch Organisationssysteme strukturell und operativ koppeln. Man denke hier etwa an das im politischen System über die letzten Jahrzehnte hinweg immer üblicher gewordene Phänomen des „Runden Tisches“ oder Kommissionen aller Art, die sich diffizilen Themen wie etwa der Ethik widmen und aus Vertretern verschiedener Organisationen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten bestehen. Ein anderes Beispiel wäre etwa die Gerichtsverhandlung im Zivilprozess als Kopplung von zwei Wirtschaftsunternehmen, die sich miteinander im Rechtsstreit befinden. Zwar liegt auch hier wieder eine organisationale Einbettung vor (wie schon die bei Gerichtsverhandlungen übliche Protokollführung aufzeigt), doch birgt das Interaktionssystem nach wie vor gewisse Vorteile in sich, die andere soziale Konstellationen nicht bieten können – wie etwa die durch die notwendige Anwesenheit der Beteiligten möglichen „zwischenmenschlichen“ Beobachtungsmöglichkeiten und die ebenfalls dadurch gesteigerte Kommunikationsgeschwindigkeit. Gesteigerte Differenzierung zwischen verschiedenen sozialen System-Ebenen schließt also auch heutzutage und weiterhin nicht aus, dass zwischen diesen Verknüpfungen und Kopplungen verschiedenster Art eintreten.

Die große Stärke der soziologischen Systemtheorie liegt ohne Zweifel darin, dass sie über die oben skizzierte Unterscheidung in verschiedene soziale System-Ebenen und System-Typen im Rahmen ihrer Konzeption und im Zuge ihres Universalitätsanspruches (vgl. Tyrell 1983: 75) imstande ist, multiperspektivisch zu beobachten und dadurch zu umfassenderen, mehrdimensionalen Erkenntnissen zu kommen – was auch heute im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung nicht die Regel ist, wie das Beispiel der Extremismus- und der Terrorismus-Forschung zeigt (vgl. Sander 2017). Allzu häufig erschöpfen sich bereits in der Soziologie theoretische Ansätze in jeweils makrosoziologischen bzw. gesellschaftstheoretischen, organisationssoziologischen oder mikrosoziologischen bzw. interaktionistischen Perspektiven, unter Ausblendung oder Relativierung der jeweiligen anderen. Diesen Vorwurf muss sich die Systemtheorie nach Luhmann nicht machen lassen, denn „die Behauptung des eigenen Rechts für jede der drei Systemebenen und ihrer Irreduzibilität aufeinander ist zugleich eine Absage an interaktionistische Bemühungen, ‚alles Soziale‘ auf ‚symbolische Interaktion‘ fundieren zu wollen; es ist aber ebenso eine Absage an alle Programme, die die Thematisierung partikulärer Mikrophänomene soziologisch nur insoweit für legitim und sinnvoll erachten, als sich darüber ‚das gesellschaftliche Ganze‘ (kritisch) zum Vorschein bringen läßt“ (Tyrell 1983: 77). Die Anspielung insbesondere auf die marxistische Gesellschaftstheorie im letzten Teil des Zitats dürfte unmissverständlich sein.

Eine konzeptionelle Kritik an der oben dargestellten Dreiteilung von Gesellschaft, Organisation und Interaktion nach Luhmann erklang dafür allerdings aus dem Umfeld der soziologischen Systemtheorie selbst. So plädierte Hartmann Tyrell (1983), inspiriert durch einen entsprechenden Vorschlag von Friedhelm Neidhardt, dafür, der Typologie die Ebene des Gruppensystems hinzuzufügen – als ein System-Typ, der zwischen Interaktion und Organisation angesiedelt ist, in dem die Mitgliederbeziehungen unmittelbar und diffus gestaltet sind und der sich zugleich durch eine relative Dauerhaftigkeit auszeichnet (vgl. ebd.: 77). Tyrell macht geltend, dass der System-Typ der Gruppe neben dem Interaktions- und dem Organisationssystem ein besonders häufig vorzufindender ist, der von der Theorie erfasst werden müsse. Hierzu nennt er beispielhaft „Wohngemeinschaften, Freundschaftsbünde, Literatenzirkel, Gangs, Rockergruppen, Kaffeekränzchen, Kollegencliquen, Stammtische usw.“ (ebd.: 78).

Der Unterschied zur Organisation tritt in dieser Sichtweise primär durch die Unmittelbarkeit der Mitgliederbeziehungen hervor, die sich durch Interaktionsnähe auszeichnet: Um an der Gruppe partizipieren zu können, sollte man regelmäßig – wenn auch nicht zwingend immer und bei jedem Termin des Zusammenkommens – anwesend sein. Während eine unmittelbare Interaktion in einer Organisation nicht zwingend notwendig ist, um diese am Laufen zu halten (s. o.), ist dies in Gruppen langfristig unvermeidbar, um ein für Gruppen konstitutives Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen (vgl. ebd.: 78f.). Das persönliche Element ist in Gruppen stark ausgeprägt; formalisierte Kommunikation, entsprechende, professionalisierte Mitgliedschaftsrollen und Motivgeneralisierung bzw. eine Ausrichtung nach übergeordneten, gar formal-hierarchisch durchgesetzten Programmen gibt es regelmäßig nicht, denn „für Organisationen steht bei Nachfrage im Vordergrund, was sie tun (produzieren, anbieten, erledigen), bei Gruppen, wer dazugehört. (…) Gruppen ‚personalisieren‘, und eine nachgerade beliebige Änderbarkeit des Personals, wie sie für Organisationen normal ist, ist mit diesem ihrem Systemprinzip schlechthin inkompatibel: die Gruppenidentität (…) verkraftet wechselndes Personal nur recht beschränkt“ (ebd.: 80). Hierarchien sind in Gruppen möglicherweise vorhanden; dann aber in informeller, im Zuge sozialpsychologisch erkennbarer Dynamiken herausgebildet worden und daher in der Regel rascher veränderbar und zugleich weniger berechenbar. Zugleich herrscht für Gruppen in deutlich geringerem Maße als für Organisationen „Luft nach oben“, was das eigene Größenpotenzial angeht: „Fragt man nach den quantitativen Obergrenzen, so ergeben sich hier Limitierungen dadurch, daß Gruppen ihre Zusammengehörigkeit interaktiv praktizieren und realisieren müssen“ (ebd.: 84). Anwesenheit ist daher für Gruppensysteme wichtiger als für Organisationssysteme, weswegen Abwesenheiten sich auch gravierender auf ihre Gruppenidentität auswirken können.

Gleichwohl gilt: Eine beständige Anwesenheit, wie sie für Interaktionssysteme konstitutiv ist, braucht es für ein Gruppensystem nicht. Es ist das Element der (relativen) Dauerhaftigkeit, das die Gruppe vom reinen Interaktionssystem abgrenzt: Ein zufälliges Gespräch auf der Straße mit einem Fremden oder einem Nachbarn ist etwas anderes als der wöchentliche Stammtisch. Letzterer bringt das oben bereits benannte Zusammengehörigkeitsgefühl mit sich und begründet eine Gruppenidentität, die dem bloßen Interaktionssystem fehlt, welches sich durch ein höheres Maß an Kontingenz auszeichnet (vgl. ebd.: 81). Die Systemgrenze wird insofern markiert durch das Prinzip der Zugehörigkeit (vgl. ebd.: 82). Diese ist verbindlicher als die reine Anwesenheit, aber unverbindlicher als die (organisationale) Mitgliedschaft: Man muss nichts unterschreiben, um Teil einer Gruppe zu werden.

Es sollte im Zuge der zuletzt dargestellten konzeptionellen Abgrenzungen des Gruppensystems zum Interaktionssystem einerseits und zum Organisationssystem andererseits hinreichend deutlich geworden sein, dass der auf Neidhardt zurückgehende Vorschlag Tyrells ein hohes Maß an Plausibilität mit sich bringt. Das Gruppenphänomen ist mittels des bloßen Interaktionsbegriffes offensichtlich nicht in seinen spezifischen, charakteristischen soziologischen Merkmalen erfassbar, da das reine Interaktionssystem noch keine Gruppenidentität, noch kein Zugehörigkeitsprinzip und auch keine Gruppendynamiken, die sich aus dem zuvor genannten ergeben, kennt. Dass das Theoriemodell des Organisationssystems hierauf erst recht schwerlich anwendbar ist, erklärt sich mit Blick auf die oben dazu gemachten Ausführungen von selbst. Wir begreifen daher an dieser Stelle das Gruppensystem, zusätzlich zum klassischen Dreiklang nach Luhmann, als weitere soziale System-Ebene, welche zwischen Interaktion und Organisation angesiedelt ist.

Tyrell verweist zum Ende seines Aufsatzes richtigerweise auch darauf, dass in nicht seltenen Fällen auch versucht wurde und wird, jene hier dargelegten gruppenspezifischen Charakteristika auf eine höhere soziale Ebene gewissermaßen zu „projizieren“, um auf diesen ein gemeinschaftskonstituierendes Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, das über die simple, unpersönliche und „kalte“ organisationale Motivgeneralisierung etwa durch Bezahlung hinausgeht und eher über die persönlich-emotionale Komponente funktioniert: „Man denke an Stämme, kleinere Ethnien, religiöse Gemeinden, u. U. selbst Betriebe („wir sind alle eine Familie“), Parteien, ja die ‚Volksgemeinschaft‘ (nach 1933), die der interaktionsartig inszenierten kollektiven Zusammenkünfte und Darstellungen (…) schon zur ‚Selbstvergewisserung‘, aber auch zur Motivationsbeschaffung und -mobilisierung mehr oder minder dringlich bedürfen“ (ebd.: 84). In der Tat wurde im Nationalsozialismus die Volksgemeinschaft kultisch inszeniert, indem Massenveranstaltungen nicht nur den Führerkult befeuerten, sondern zugleich auch für die Teilnehmer die Wahrnehmung einer einzigen großen „Quasi-Interaktion“ schufen, die durch die Wechselwirkung von Redner und Publikum und durch politisches Zeremoniell (Lichter, Fackeln, Aufmärsche, Symbole, Musik, Reden) und daraus generiertes „Lebensgefühl“ zustande kam. Wer als Zuhörer oder Zuschauer nicht vor Ort anwesend war, der fühlte sich zumindest anwesend, da das anwesende Publikum, die anwesende Masse gewissermaßen repräsentativ stehen sollte für die Masse des Volkes als Ganzes, welche auch als solche adressiert wurde. Die quasi-interaktionsgenerierende Symbolik wie auch die dazugehörige Rhetorik kreierten ein Gemeinschaftsgefühl und schienen dadurch die deutsche Nationalgesellschaft zur Volksgemeinschaft zu transformieren. Das Beispiel zeigt auf, wie spezifisch die Gruppe bzw. eben auch solche „sozialen Arrangements“, die Eigenheiten von Gruppensystemen für sich übernehmen, eine Art der Motivgeneralisierung und der kollektiven Identität generieren, die zu schaffen ein normales, typisches Organisationssystem allein nicht imstande wäre. Auch dies demonstriert nochmals den methodischen Wert, den eine Integration des Gruppensystems in die Konzeption der Systemtheorie für eben diese hat.


Literatur

Luhmann, Niklas (1969). Legitimation durch Verfahren. Neuwied: Luchterhand.

Luhmann, Niklas (1995). Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 37-54.

Luhmann, Niklas (2005). Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie. In: Ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft (5. Aufl.). Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 9-24.

Sander, Florian (2017). Soziale System-Grenzen und System-Ebenen als Tellerränder? Beobachtung zweiter Ordnung und Interdisziplinarität als (post-)moderne Theorie-Standards. BGHS Working Paper Series No.1. Bielefeld: Bielefeld Graduate School in History and Sociology.

Schmitt, Carl (2015). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 (9., korrigierte Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot. 
 
Tyrell, Hartmann (1983). Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp. In: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. S. 75-87.

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