Sigrid Hunkes Konzept der Verantwortungsdemokratie


Unitarische Ethik für ein modernes Gemeinwesen


Vortrag bei der Herbsttagung des Bundes Deutscher Unitarier am 16.10.2021

Der folgende Vortrag wurde inspiriert durch Sigrid Hunkes Werk „Das nach-kommunistische Manifest“, das erstmals Mitte der 70er Jahre erschien und sich im ersten Teil kritisch am Marxismus im Allgemeinen bzw. der Person Marx im Besonderen abarbeitet, ebenso wie auch an Sigmund Freud. Dem folgt dann, positiv gegenüberstellend, der „dialektische Unitarismus“ und das daraus generierte politische Konzept einer „Verantwortungsdemokratie“.

Ihr Buch ist entstanden unter dem Eindruck der 68er-Studentenrevolte, weswegen es zunächst etwas „in die Jahre gekommen“ wirkt, da Hunke sich vor allem zunächst an deren Schlagworten abarbeitet. Die heutige Linke ist weitaus „subtiler“: Nicht mehr so sehr marxistisch, sondern eher linksliberal, ja neoliberal und alliiert mit einem global agierenden Kapitalismus, besonders gesteuert nicht nur von der seit 2007 krisengeschüttelten Wall Street, sondern auch von Big-Tech-Konzernen, die das Internet und die Medienwelt über die von ihnen gesteuerten sozialen Netzwerke und Märkte beherrschen (Facebook, Instagram, Twitter, YouTube, Google, Amazon…) und dabei sogar US-Präsidenten durch Zensur zum Schweigen bringen können.

Die Gehorsamsethik der Dualisten

Doch trotz dieser Veränderung sind die Grundaussagen des Buches letztlich von beträchtlicher Aktualität! Hunke stellt nämlich der von ihr geforderten unitarischen Verantwortungsethik die sogenannte „Gehorsamsethik“ der Dualisten gegenüber, welche zunächst über die jüdisch-christlichen Glaubenssysteme und danach über Marxismus und Freudianische Psychoanalyse den europäischen Menschen immer wieder fatal geprägt habe.

Der Zwiespalt, der durch den Dualismus von Gut und Böse, Jenseits und Diesseits, Hell und Dunkel, Göttlich und Weltlich immer wieder erzeugt wird (im Marxismus dann als Unterscheidung von Proletariern und Bourgeoisie, mit der Zielrichtung des Klassenkampfes), muss logisch weitergedacht im Absoluten und Totalitären münden: So muss man demnach gänzlich gut sein, um nicht böse zu sein, dem weltlichen Leid gänzlich entkommen, um Eingang ins Paradies und zu Gott zu erlangen, im Klassenkampf den Kapitalisten vernichten, um die Diktatur des Proletariats und schließlich den Kommunismus zu erreichen usw. usf. In all diesen Fallen liegt eine Erlösungsreligion vor, die – im Christentum offen religiös, im Marxismus unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Theorie – über den Dualismus das Heil nach dem Leid verspricht.

Wo dies der Fall ist, hat die Gehorsamsethik, die auf den unmündigen, obrigkeitshörigen Menschen setzt, der sich einem autoritären Gott oder einem autoritären marxistischen System unterwirft, leichtes Spiel: Mit moralischer Erpressung wird der Untertan auf Linie gebracht („Wenn du nicht gehorchst, bist du nicht gut / bist du Sünder / bist du Klassenfeind!“).

Aktualität in Corona-Zeiten

Wer sich diese treffende Diagnose zu Gemüte führt, wird bemerken, dass sie alles andere als veraltet ist – leider! Insbesondere seit Corona, aber letztlich auch schon davor war immer wieder zu beobachten, wie unmündig und unkritisch-obrigkeitshörig der deutsche Staatsbürger auch des 21. Jahrhunderts immer noch ist: Wer sich dem Narrativ, dass die Impfung der Weg zur Erlösung von der Geißel der „Pandemie“ ist, verweigert, gehört als unsolidarisch ausgegrenzt. Zunehmend nimmt dabei auch das seit 1945 doch so lange verpönt gewesene biologistische Vokabular Einzug in den politischen Sprachgebrauch etablierter Parteien und Medien: Plötzlich ist die Rede von „Sozialschädlingen“, von „Superspreadern“, von einer „Pandemie der Ungeimpften“ (eine Formulierung von wirklich diabolischer Doppeldeutigkeit).

Ein Bundestagspräsident erklärt offen und ohne jede Verklausulierung, dass er es richtig findet, sozialen Druck auf Familienmitglieder und Freunde auszuüben. Ausgrenzung wird offen gefordert. Menschen werden an der Teilnahme am gesellschaftlichen und faktisch auch beruflichen oder studentischen Leben gehindert; jungen Menschen wird die Kindheit bzw. die Jugend gestohlen. Mahner und Kritiker werden ausgegrenzt und zum Schweigen gebracht: Ärzte und Beamte mit Berufsverboten, Parteien mit dem Extremismus-Verdacht, Politiker mit gezielter Ignoranz, Nicht-mehr-Vorkommen in den Medien bzw. gleich öffentlich-medialem Verriss etc.

Im Zuge dieser dualistischen Corona-Religion wird das Jammertal des pandemischen Lockdown- und Masken-Diesseits zu einem erforderlichen Leidensweg verklärt, den der gute und solidarische Mensch durchschreiten müsse, bis schließlich die rettende Impfung die lebensrettende Erlösung bringt, der sich dann aber auch alle (!) unterwerfen müssen. Dualismus in Reinform.

Disziplinierung durch Angst

Diesmal allerdings wird das Disziplinierungselement „Moralischer Druck“ noch ergänzt durch eine weitaus wirksamere „Peitsche“: Die Angst. Nichts diszipliniert so sehr und so gut wie die Angst, und sei es die vor einem Phantom. Anderthalb Jahre lang sind die Menschen in Deutschland, in Europa und auf dem Globus zugeballert worden durch Alarmmeldungen schlimmster Art, die quasi nahelegten, der Planet befinde sich seuchenbedingt kurz vor dem Untergang. Und wenn es Corona nicht schafft – dann doch spätestens der Klimawandel!

Gewährleistet wird diese beständige Angstmacherei über eine inzwischen globalisierte Mediengesellschaft: Wir lesen die Nachrichten nicht mehr, wie noch vor einigen Jahrzehnten, am nächsten Tag auf einem (relativ abstrakten, nüchternen) Blatt Papier namens Zeitung. Wir erfahren sie auch nicht mehr nur Stunden später durch das Fernsehen, das in den meisten Fällen erst die „Bilder danach“ einfing. Mittlerweile erfahren wir sie live: Wir sehen sie Sekunden später auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter, sehen, wie sich Leichenberge stapeln, sehen angsterzeugende Live-Bilder, die unser Seelenleben viel mehr prägen als dies früher der Fall war. Die globale Angsterzeugung erfolgt durch den technisch-medialen, sogenannten „Fortschritt“.

Für die Katholische Kirche des Mittelalters, aber auch Karl Marx und die durch ihn inspirierten Diktaturen wäre dies der Traum schlechthin gewesen: Direkte, emotional hochwirksame Angsterzeugung – das beste Kontrollinstrument, das sich eine Inquisition oder ein Politbüro je vorstellen konnte.

Der dialektische Unitarismus

All dem stellt Hunke nun den Unitarismus entgegen, der „dem Zwiespalt ein Ende“ setzt, frei nach einem anderen Werk Hunkes. Ich habe auf meinem Blog kürzlich einen Artikel veröffentlicht über die Parallelen des Unitarismus mit dem chinesischen Taoismus. Hier möge man sich das berühmte Yin-Yang-Symbol vorstellen: Die beiden Seiten, Hell / Männlich (Yang) und Dunkel / Weiblich (Yin), die eigentlich Teil einer Einheit sind, die, wenn sie gleich stark sind, miteinander perfekt harmonieren – was im chinesischen Chi-Konzept dann etwa auch körperliche und psychische Gesundheit bedeutet. Als Unitarier sagen wir: Die beiden Seiten der Unterscheidung gibt es eben immer nur zusammen! Es gibt keine Helligkeit ohne Dunkelheit. Es gibt kein Glück, wenn man nicht auch Unglück kennt. Wir wissen nicht, was Gesundheit ist, wenn wir nicht auch Krankheit kennen. Erst durch beide Seiten der Unterscheidung lernen wir, eine der beiden aufrichtig zu schätzen und die andere als bedrohlich einzustufen oder jedenfalls lieber vermeiden zu wollen.

Dem absolutistischen Dualismus, der auf die Totalvermeidung und -verhinderung abzielt, erteilen wir daher eine Absage. Ein Mensch kann nicht nur „gut“ sein. Stellen wir uns das nur einmal exemplarisch vor, worin das enden würde! Ein Mensch, der keine Aggressionen mehr in sich trüge – ihm würde jeglicher Ehrgeiz fehlen, jede Entschlusskraft, jeder Antrieb. Denn das ist die konstruktive Funktion eines jeden aggressiven Triebs. Die reine Güte würde Lähmung und Passivität bedeuten. Erst die Einheit beider Seiten schafft die Harmonie, schafft die Lebensfähigkeit. Und somit ist auch erst deren Akzeptanz der Weg zur Entdeckung des Göttlichen in sich selbst, bei anderen und in der Natur und Welt.

Wer aber so denkt, der kann dem strengen Dualismus auch des Christen- und des Judentums nur ebenso eine Absage erteilen wie dem des Marxismus. Mit Bezug auf letzteren bedeutet das: Es gilt nicht den Bourgeois, den Kapitalisten, den Großbürger und seine Herrschaft durch die „Diktatur des Proletariats“ zu ersetzen, sondern beide Klassen miteinander zu vereinigen. Bei Hunke läuft dies auf eine starke Verteidigung der sogenannten Sozialpartnerschaft heraus, wie sie in der klassischen sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik jedenfalls ursprünglich angelegt war und zur Zeit der ersten Buchpublikation auch vorlag. Heute ist da allerdings durch den globalisierten Kapitalismus einiges durcheinandergeraten. Ich unterstelle, dass auch Hunke darauf heute einen kritischeren Blick hätte. Aber es soll hier heute nicht so sehr um Ökonomie und Wirtschaftspolitik gehen, sondern um noch Grundsätzlicheres.

Die unitarische Verantwortungsethik

Hunke stellt dieser Form der dualistisch verursachten Gehorsamsethik nun in ihrem oben genannten Buch jedenfalls die Verantwortungsethik gegenüber, welche genau aus diesem gerade skizzierten Bewusstsein geboren ist. Zitat: „Unsere Freiheit ist das Zeichen für die Anwesenheit des Göttlichen in uns. Unsere Freiheit ist der Ort, an dem die göttliche Dimension innerhalb der Welt offen zutage liegt. Sie erlaubt uns, das Unbedingte in unserem Bedingten, d. h.: das Göttliche in uns selbst zu finden – anstatt es außer uns und außerhalb der Welt zu suchen“ (S. 113). Der Unitarismus setzt somit auch immer auf die Willensfreiheit des Menschen.

Hunke: „Keines der Naturwesen kennt Gut und Böse. Erst dem Menschen legt sich das Sein in Gut und Böse auseinander. (…) Sittlichkeit setzt die Freiheit voraus, auch das Böse wählen zu können. Und nur weil es das Böse gibt, kann der Mensch sich für das Gute entscheiden. Ja, ohne das Böse könnte es nicht nur das Gute nicht geben – es gäbe auch keine Freiheit, keine Entscheidung, kein Wachstum, kein Werden Gottes“ (S. 116). Im absolutistischen Dualismus soll es keine solche Entscheidungsfreiheit mehr geben: Der, um jetzt mal eine tagespolitische, aber in diesem Fall erstaunlich treffende Polemik zu verwenden, klassische „Gutmensch“ (!) will sich und allen anderen das absolute Gute aufzwingen, ohne noch die Möglichkeit der Entscheidung zu lassen und damit Freiheit zu ermöglichen. Das ist gewissermaßen die philosophische Definition des Gutmenschentums.

Dem erteilen wir als Unitarier, die an die Willensfreiheit des Menschen und an die Einheit der Gegensätze glauben, eine Absage. Wir sagen: Freiheit gibt es nur dort, wo die Wahlmöglichkeit besteht – und erst da wächst der Mensch an sich selbst, erst da reift er, erst da wird er zu mehr, als er ist, erst da gibt es biologische, psychische und soziale Evolution. Anstatt in einem christlichen oder marxistischen Schlaraffenland nur noch zu vegetieren und sich die gebratenen Tauben in den Mund fliegen zu lassen.

Empathie und Beobachtung zweiter Ordnung

In der konkret gelebten Verantwortungsdemokratie, die Hunke skizziert, wo dann derlei Haltungen in einem sozialen System, in einem politischen bzw. staatlichen und zivilgesellschaftlichen Gemeinwesen aufeinandertreffen, bedeutet dies bestimmte Voraussetzungen für den konstruktiven Umgang miteinander. Wo man sich und anderen Willensfreiheit und Verantwortung zugesteht, da muss gegenseitige Bevormundung und zeigefingerschwenkender Moralismus – etwa verkörpert durch „Political Correctness“ und die allgemeinen Trends des linksgrünen politischen Spektrums – enden!

Wo man nicht nur in sich selbst und in der Natur, sondern auch in seinem Gegenüber das Göttliche erkennt, da ist Respekt vor dessen Selbstverantwortung zwingend. Im konkreten Diskurs kann und sollte sich dies in dem äußern, was der Soziologe Niklas Luhmann als „Beobachtung zweiter Ordnung“ beschrieben hat: Ich beobachte nicht nur einfach den anderen („Beobachtung“ ist hier im weiteren Sinne zu verstehen, also auch als „Zuhören“!), sondern ich beobachte, wie er mich und die Welt beobachtet, versuche mich also auf seine Positions- und Entscheidungsfindung einzulassen, versuche zu verstehen.

Im Alltag beschreiben wir die Fähigkeit, so etwas zu beherrschen, in der Regel als Empathie. Verantwortungsdemokratie bedeutet also auch, mit Blick auf die Sozialisation der Kinder und Jugendlichen, eine Form der Empathie-Erziehung. Verstehen, wie der andere warum „tickt“. Dies aber eben nicht nur, wie bisher, in völlig einseitiger Form, wo immer nur die Mehrheitsgesellschaft für alle möglichen echten und selbsternannten Minderheiten „Verständnis“ und maximale Toleranz aufbringen muss, sondern in beide Richtungen! Das wäre der erste Auftrag an eine Verantwortungsdemokratie der Gegenwart und Zukunft.

Die Überwindung des Zwiespalts

Im unitarischen Sinne würde dies aber eben auch bedeuten, gar nicht mehr so sehr in diesen Kategorien von „Mehrheit“ und „Minderheit“ zu denken. Überhaupt wird diese Form des postmodernen Dualismus ja auch meistens wieder von linken Identitätspolitikern praktiziert, die abstruser und paradoxer Weise zwar das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz streichen wollen, aber dann kurze Zeit später wieder bei Demonstrationen plötzlich „Black Lives Matter!“ rufen oder sich über die „eklige weiße Mehrheitsgesellschaft“ beschweren, also dann plötzlich doch wieder die Existenz von Rassen implizit eingestehen und postulieren. Die meisten Trennlinien werden eher von derlei Gruppen gezogen, zumal diese dann wieder neue Trotzreaktionen auf der Gegenseite hervorrufen, die das moralisierende Zeigefingerwedeln halt schon lange satthat.

Eine Überwindung solcher ständigen Dualismen hingegen würde wahre Toleranz bedeuten. Wer nicht ständig wieder derlei Kategorien bestätigt und in der Kommunikation, im politischen und gesellschaftlichen Diskurs erneuert, der beweist eigentlich das wahre Miteinander – und damit zugleich wahren Respekt und wahre Akzeptanz der göttlichen Unitas, wie sie sich uns täglich darstellt.

Verantwortungsdemokratie bedeutet aber auch die Akzeptanz der eigenen politischen Rolle und eben: Verantwortung für die Gemeinschaft. In der Verantwortungsdemokratie gibt es kein passives und fatalistisches Zurücklehnen! Kernsätze dazu von Hunke: „Denn dies ist (…) seine verpflichtende sittliche Aufgabe: für Menschenwürde und Vernunft, Ordnung und Gesetz in der Welt zu sorgen, durch persönliche Anstrengung für menschenwürdige Existenz und für die sozialen Ordnungsformen der Familie, der Gesellschaft, des Volkes, der Menschheit einzustehen, anstatt sich durch Abladen von Verantwortung auf „die Verantwortlichen“ prinzipiell von jeder Verantwortung zu befreien, an der Entwicklung der Welt, an ihrer sittlichen und geistigen Evolution zu arbeiten und mit jedem Tun (…) Ewiges im Zeitlichen zu verwirklichen“ (S. 122/123).

Weder Liberalismus noch Individualismus

Es ist genau deswegen jedoch auch wichtig, Verantwortungsdemokratie nicht mit schnödem Liberalismus oder dem heute grassierenden Radikal-Individualismus zu verwechseln. Verantwortungsdemokratie bedeutet nicht nur narzisstische „Selbstverwirklichung“, nicht nur „Ich bin mein eigener Herr und mache nur, was ich will“. Eben das wäre eher der Liberalismus und Individualismus nach anglo-amerikanischem Muster, der Bürger nicht mündig, sondern zu Konsumenten macht, die glücklich sind, wenn sie in sozialen Netzwerken wie Instagram schicke Urlaubs- und Essensfotos posten und sich selbst nach eigenem Gutdünken inszenieren können, jedes Geschlecht annehmen dürfen, was ihnen gerade mal gefällt und prinzipiell lieber Rechte einfordern statt von Pflichten zu sprechen.

Das ist die Erscheinung des Postmodernen, die Hunke zur Zeit der Erstveröffentlichung ihres Buches schlicht noch nicht in dieser Ausprägung kennen konnte und gegen die sie sich in ihrem eher gegen die marxistische Linke gerichteten Buch daher auch nicht abgrenzt: Die postmoderne Atomisierung des Gemeinschaftlichen, die der Sieg des (Neo-)Liberalismus nach 1990 mit sich gebracht hat und die sich seitdem immer mehr verstetigt und radikalisiert hat – eine neue Weltgesellschaft bestehend aus Individuen, die ihre absolute Priorität nur noch in der (beispielsweise sexuellen oder optischen) Selbstverwirklichung sehen. Diese Form der Entfremdung hat konkrete psychologische Folgen: Zunahme von psychischen Volkskrankheiten wie Depressionen, Burnout, ADHS, allerlei Persönlichkeitsstörungen von Narzissmus bis Borderline, bis hin zu Amokläufen an Schulen. All dies sind Symptome der neoliberalen, postmodernen Vereinzelung.

Verantwortung für das große Ganze

Dem erteilt aber der Begriff der Verantwortungsdemokratie bereits implizit eine Absage: Es geht eben nicht nur um Verantwortung für sich selbst und für sein eigenes Leben, sondern immer auch für andere, für die Gemeinschaft, für den Staat. Verantwortungsdemokratie bedeutet ein Bewusstsein „für das große Ganze“, das sich in lebendigem Engagement für eben dieses manifestiert – etwa in Form von dem, was man heute „Zivilgesellschaft“ nennt, in Form von Ehrenämtern, Bürgerinitiativen, gemeinnützigen Aktivitäten, oder auch parteipolitischem Engagement. Nicht zu vergessen auch: Ökologisches Verantwortungsbewusstsein – etwas, was in heutigen Zeiten noch dringlicher erscheint als es zu Hunkes Zeiten der Fall war. Sie spricht dabei lieber von „Natur“ als von „Umwelt“, da letzterer Begriff anthropozentrisch ist, anstatt zum Ausdruck zu bringen, dass es die Natur nicht nur wegen ihrer Bedeutung für den Menschen, sondern um ihrer selbst, also auch ihrer Göttlichkeit wegen, zu schützen gilt!

Zugleich bedeutet Verantwortungsdemokratie somit auch immer die Bindung zu Familie und Volk, die natürlich nötig ist, um für eben diese Verantwortung übernehmen zu können und zu wollen. Hunke: „Die Bindung ist der Grund der Freiheit. Dank der Bindung, mit der die Nabelschnur des Menschen an das Sein anschließt, ist er frei und sicher – und fähig, sich selbst zu überschreiten. Durchschneidet der Mensch die Nabelschnur, durch die ihm die Kräfte des Seins zuströmen, dann gerade wird er unfrei, weil haltlos und leer, und geht seiner Identität verlustig: Er entfremdet sich seiner selbst. Es ist die unitas, die Einheit unseres Bedingtseins mit dem Unbedingten, es ist die Beheimatung in der Totalität des Seins, die uns als Freiheit und als innere Kraft bewußt wird und die uns in die universelle Verantwortung ruft“ (S. 234). Genau diese Entfremdung von sich selbst ist leider ebenfalls hochaktuell – Entfremdung vom eigenen Volk, vom eigenen Geschlecht, von der eigenen Herkunft. Da arbeiten wir natürlich klar gegen, und das unterscheidet uns massiv vom liberalen Individualismus, der diesen Entfremdungsprozess eher vorantreibt und dadurch allgemeine Unverantwortlichkeit herbeiführt.

Soziale und psychische Evolution

Hunke sieht jedoch in dieser Verantwortungsethik, ganz optimistisch und erfrischend wenig „kulturpessimistisch“, eine Begabung des dezidiert europäischen Menschen, „wie er in seiner Struktur unverändert Jahrtausende allen Umfunktionierungen zum Trotz überdauert hat (…), weil er (…) seit seinen frühesten Zeugnissen bis heute aus derselben Bewußtseinsstruktur stammt wie die heutige Wissenschaft“ (S. 140).

Hunke sieht die Verantwortungsdemokratie zugleich als einen sozial-evolutionären Schritt an: „Es geht um den zukünftigen Menschen!“ (S. 139). Eine solche Haltung, die wir vom Menschen durchaus offensiv einfordern sollten, fördert seine Entwicklung und macht aus ihm mehr, als er bisher war. Das allerdings geht nur mit einer entsprechenden Verantwortungsethik, und für diese bedarf es der Religion, denn diese ist nach Hunke die Grundlage der Ethik (S. 138).

Ganz klar und ohne Frage: Eine weitere Herausforderung in einer liberal-atheistischen Gesellschaft, aber vielleicht gerade dort umso nötiger, gerade in einer Zeit der größtmöglichen Verunsicherung, in der niemand mehr wissen kann, was „wahr“ ist und was nicht, in der auch „der“ Wissenschaft nicht mehr eins zu eins zu trauen ist, in der die Wissenschaftskrise auf die Glaubenskrise gefolgt ist (in Form einer allgemein spürbaren Vertrauenskrise), gerade dort notwendig und angemessen. Gerade in einer solchen Phase ist die Zeit für eine Religiosität gekommen, die Antworten auf wissenschaftlichem Fundament geben kann, dabei aber zugleich jedem gottlosen Rationalismus ebenso eine Absage erteilt wie dualistisch begründeter, daher absoluter und unkritischer „Wissenschaftshörigkeit“, wie sie sich in der Zeit der Corona-Diktatur präsentiert.

Die Wiederherstellung der Einheit

Hunke: „Die Zeit ist gekommen, diese Einheit – von Moses, Paulus und Augustinus zerrissen, von Marx, Freud und Sartre vermeintlich endgültig getilgt – in uns wiederherzustellen, uns in dieser Tiefe unseres Selbst trotz allem unverlierbaren Einheit wieder zu vergewissern, ja sie immer wieder zu vollziehen und aus ihr die Kräfte zu schöpfen, um immer wieder von neuem verantwortliches – und das heißt: sinnvolles – Leben zu wagen“ (S. 234). 
 
Unitarismus erlaubt durchaus Skeptizismus und Emanzipation, erlaubt Verantwortungsethik und Verantwortungsdemokratie auf der Basis einer kritischen Wissenschaftlichkeit und auf der Basis eines Anerkennens des Göttlichen in uns allen – dadurch aber eben auch unserer Kräfte, unserer Abwehrkräfte (!) und unserer Mündigkeit, die nicht auf 24-Stunden-Vollzeitpflege, -Betreuung und Beglückung durch einen entmündigenden, identitätslosen Linksstaat angewiesen ist, sondern dem Menschen selbst die Entscheidung über das, was für ihn das Beste ist, zutraut. In unserer heutigen Zeit ist eine solche Religiosität nicht weniger als Gold wert.

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