Lob dem Vergessen

 Etwas zu vergessen, wird im Allgemeinen als etwas Negatives gesehen, als ein Defizit, ein Fehler, eine Schwäche. Die extremste Form dessen ist bei der alterstypischen Erkrankung "Demenz" erreicht, die letztlich buchstäblich im Sterben der Persönlichkeit noch vor dem Sterben des Körpers endet. Oftmals sehen wir Vergessen daher als etwas nicht Erstrebenswertes an. Nicht nur wegen seines Superlativs "Demenz", sondern auch wegen der alltagspraktischen Folgen bei kleinen Formen der "Vergesslichkeit". Und sicher: Oft genug ist Vergessen oder Vergesslichkeit (Schusseligkeit, Zerstreutheit, Verplantsein etc.) im Alltag ganz schön hinderlich.

Aber ist es wirklich immer negativ? Wenn man mal genauer darüber reflektiert: Nein, nicht unbedingt. Vergessen ermöglicht Verzeihen. Wo wären wir, wenn wir an alles eine ewige Erinnerung hätten? Wir wären binnen kürzester Zeit extrem neurotisch. Wir könnten niemandem mehr einen Streit, eine falsche Bemerkung oder eine sonstige Verletzung verzeihen, da sie uns in 5, in 10 und in 50 Jahren noch genauso stark im Gedächtnis und daher noch genauso intensiv emotional konnotiert wäre wie in der Sekunde danach. Erst das Vergessen ermöglicht das Verzeihen, das Hintersichlassen, das Verarbeiten, das Heilen.

Gesellschaften wie Individuen müssen vergessen können. Sich an alles immer und für alle Ewigkeiten zu erinnern, führt in die Neurose. So wie ein Rechner nicht ewig Speicherplatz hat, so ist auch die Gehirnkapazität begrenzt. Um Neues speichern und verarbeiten zu können, um aus Neuem lernen zu können, muss das Alte zwar nicht nicht immer vergessen, aber mindestens in den Hintergrund gedrängt werden. Alles andere würde Überfrachtung bedeuten. Vergessen ist produktiv. Vergessen ist konstruktiv. Vergessen kann das Leben vereinfachen, wenn es in einem angemessenen Umfang verläuft.

Vergessen ermöglicht Liebe. Könnten wir nicht vergessen, wäre alles und jeder so in unserer Erinnerung enthalten wie von Anfang an - wir könnten uns niemals neu verlieben, weil die Impressionen der ersten Liebe (das Äußere, der Geruch, die Stimme, der Habitus, die Pheromone und ihre Auswirkungen) noch genauso in uns abgespeichert wären wie zu Beginn, und daher ähnliche Wirkungen entfalten könnten. Ohne Vergessen wären wir nie imstande, über Trennungen hinwegzukommen.

Das System überschreibt alte Kommunikation mit Anschlusskommunikation, würde Soziologe Niklas Luhmann sagen. Die beständige Selbstirritation des Systems, generiert durch gelingende soziale Umweltbeobachtung, treibt die Autopoiesis des Systems voran und generiert es damit beständig neu. Dabei fällt Altes weg, manches Alte bleibt vorhanden und manches Neue kommt hinzu. Das Prinzip der operativen Geschlossenheit greift für jedes psychische System - noch klarer als für soziale Systeme.

Vergessen bedeutet, sich selbst verändern zu können. Es ermöglicht, sich selbst zu irritieren (oder sich selbst irritieren zu lassen - eine Frage, wie konstruktivistisch man denkt) und sich darauf basierend zu verändern, sich auf neue soziale oder natürliche Umweltbedingungen einzustellen. Vergessen bedeutet, alte Gewohnheiten und Muster, die einem geschadet haben, ablegen zu können, sich selbst neu erfinden zu können. Vergessen ist Heilung, Liebe und Veränderung. Vergessen ist gut. Vergessen können ist wichtig.

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