Warten

Wenn man sich einmal fragt, welches die bestimmenden und prägendsten Tätigkeiten oder Zustände des zivilisierten Menschen des 21. Jahrhunderts sind, so würde, wenn man mal genau hinsieht und reflektiert, das Warten hier eigentlich eine sehr herausgehobene Position einnehmen. Wie oft warten wir Menschen auf etwas? Wie oft befinden wir uns in diesem seltsamen Zustand, in dem man gespannt und voller Vorfreude ist, oder voller Angst und Befürchtungen? Oder womöglich beides, mit gemischten Gefühlen?

Lassen wir kurz den Soziologen zu Wort kommen. Niklas Luhmann nannte das, was ich hier gerade versuche zu beschreiben, Kontingenz. Ungewissheit. Die Tatsache, dass eine (psycho-)soziale Situation so oder eben auch so ausgehen und enden kann. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, nicht wahr? Ist nicht das ganze Leben genauso? John Lennon sagte, Leben ist das, was passiert, während man damit beschäftigt ist, Pläne zu machen. Ein Bonmot, das Luhmann wie folgt übersetzen würde: Egal, wie sehr du versuchst, Kontingenz zu reduzieren, also Ungewissheit zu überwinden (und nichts anderes bedeutet „Pläne machen“) – es wird sich an anderer Stelle stets neue ergeben.

Jeder Versuch, Kontingenz und damit auch Komplexität zu reduzieren, wird sie, selbst wenn er erfolgreich ist, an anderer Stelle wieder erhöhen. Jedes neue Wissen schafft auch wieder neues Nichtwissen. Durch jede neue Antwort auf eine Frage ergeben sich wieder neue Fragen. Es ist ein immer währendes, unendliches Spiel des sozialen Lebens, das nie endet. Warten und Ungewissheit sind die roten Fäden der Ewigkeit. Nun, jedenfalls der menschlichen Ewigkeit. Obwohl: Auch der tierischen. Fragen Sie mal einen Hund, der auf sein Herrchen oder Frauchen wartet. Der dürfte den Zustand ebenso spüren wie der Mensch, ja vielleicht sogar noch eindringlicher.

Warten kreiert die zeitlichen Einheiten unseres Lebens. Wir warten auf Noten von schulischen und studentischen Arbeiten, auf Abschlussnoten. Wir warten darauf, dass unser Essen fertig ist. Wir warten auf Busse und Bahnen, auf Taxen und Flugzeuge. Wir warten in ihnen, bis wir dort angelangt sind, wo wir hin wollen. Oh, wir vertreiben uns dabei die Zeit, aber im Grunde ist es ein Warten. Wir warten, bis die Ampel grün wird. Wir warten darauf, dass andere Menschen Entscheidungen für uns treffen. Wir warten darauf, ob eine Bewerbung erfolgreich war. Wir warten auf den Ausgang bürokratischer Verfahren, von Anträgen oder Genehmigungen. Wir warten darauf, dass das Telefon das Eintreffen einer Nachricht oder den Anruf eines geliebten Menschen verkündet. Wir warten darauf, dass ein geliebter Mensch mit einem Schluss macht, oder dass er einem einfach sagt, dass er einen liebt. Wir warten auf Diagnosen. Wir warten darauf, dass uns ein Arzt eine gute oder schlechte Nachricht übermittelt, oder dass wir erfahren, dass er jemand anders eine gute oder schlechte Nachricht übermittelt hat.

An diesem Punkt zeigt sich die empfindlichste, die eindringlichste, die dramatischste und die quälendste Komponente des Wartens. Eine Komponente, eine Art des Wartens, die deutlich macht, dass Warten eine Folter sein kann, die schlimmer ist als physischer Schmerz. Von Krebspatienten weiß man, dass für viele die Zeit des Wartens auf die Diagnose schlimmer war als selbst die Zeit nach einer erfolgten Krebsdiagnose. Kontingenz, Ungewissheit, Unsicherheit ist für viele Menschen sogar unerträglicher als körperliches Leid. Der Mensch möchte wissen, wie es mit ihm weitergeht. Er möchte mehr als nur glauben oder vermuten können. Er möchte wissen. Er möchte Klarheit, Berechenbarkeit und Sicherheit. Freiheit allein – die ebenfalls Kontingenz bedeutet – reicht ihm nicht.

Doch vielleicht müssen wir die Phasen unseres Wartens, was auch immer es nun genau ist, worauf wir warten, einfach neu denken. Vielleicht sollten wir an die erreichten Sicherheiten von gestern und heute denken anstatt an die Unsicherheiten von morgen. Vielleicht sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, dass das Warten auch früher schon vorbeigegangen ist – dass noch jede Zeit des Fingertrommelns irgendwann zu einer Zeit des beruhigten Zurücklehnens geworden ist. Dass sich der geliebte Mensch, auf den man wartet, irgendwann doch noch gemeldet hat. Dass die Ampel irgendwann immer grün wurde. Dass es, egal was eine Diagnose sagt, diese schon irgendwie ihre Funktion für jemandes Leben haben wird. Dass irgendwann einfach alles gut wird. Dass bisher immer alles gut geworden ist, irgendwie.

Vielleicht sollten wir das Warten als Etappen begreifen, als Stufen auf einer Art… Lebenstreppe. Man stelle sich einmal vor, wie es wäre, wenn wir auf nichts mehr warten müssten! Wenn alles immer ganz klar und geklärt wäre. Wenn nichts mehr ungewiss wäre. Wenn alles stagnieren würde. Keine Entwicklung mehr. Keine Überraschungen mehr. Und damit letztlich: Keine Hoffnung mehr. Hoffnung kann es nur geben, wenn ein guter Ausgang nicht sicher ist, nicht wahr? Wenn ein positives Ende jedoch immer sicher wäre - wie könnten wir es dann schätzen? Wie könnte es dann Glück für uns bedeuten?

Die Kontingenz, die Ungewissheit des Wartens sichert uns das Fortbestehen der Hoffnung. Das Warten sorgt dafür, dass wir das Gute nicht als selbstverständlich hinnehmen. Dass wir immer wissen, dass es auch anders ausgehen könnte. Die Qual des Wartens erst ist es, die gewährleistet, dass wir das Ende des Wartens genießen und schätzen können. Erst das Warten lehrt uns, was Glück ist. Betrachten wir es auf diese Weise. Und erkennen wir, dass dadurch sogar das Warten auf die schlimmsten denkbaren Dinge und Möglichkeiten immer auch das Potenzial in sich birgt, am Ende das genaue Gegenteil, das Schöne und das Positive zu bescheren.

Warten wir also weiter. Warten ist Leben!

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