Die linke Marktlücke

Rezension zum Buch „Blick nach links“ von Benedikt Kaiser

Es wurde vom Autor dieser Zeilen vielfach und an mehreren Stellen bereits für einen sozialpatriotischen Wandel der AfD Stellung bezogen (was gewiss, in der einen oder der anderen Form, auch künftig wieder der Fall sein wird). Der Politikwissenschaftler, Verlagslektor und Sezession-Redakteur Benedikt Kaiser kann im rechtsintellektuell-publizistischen Milieu als einer der profiliertesten und engagiertesten Vorkämpfer eines solchen Wandels nicht nur der AfD, sondern der gesamten deutschen Neuen Rechten gelten: Zahlreiche seiner Artikel befassen sich, seit Jahren bereits, mit der sozialen Frage und ihrer vergangenen und aktuellen Bedeutung für Konservative. 2018 leistete er einen Beitrag zum inspirativen, im Jungeuropa-Verlag erschienenen Band „Marx von rechts“, zu dem u. a. auch der französische Vordenker Alain de Benoist beigetragen hatte. 2019 erschien nun, im Verlag Antaios und als Teil von dessen kaplaken-Reihe, sein Buch „Blick nach links“, in dem mehrere programmatische Aufsätze des Autors aus den Zeitschriften Sezession und Neue Ordnung abgedruckt sind.

Polemische Rundumschläge sind Kaisers Sache nicht. Akribisch recherchiert, belesen und mittels eines Schreibstils, den man, kritisch ausgedrückt, als zuweilen komplex-codierend, und, positiv formuliert, als akademisch bezeichnen könnte, zeigt er auf, wie sehr sich die Linke von ihrer einstigen Rolle als Anwältin der arbeitenden Klasse des Volkes entfernt hat, zugunsten einer Hinwendung zum links- und dadurch letztlich neoliberalen, entstaatlichenden, kollektive Identitäten bekämpfenden Globalismus. Der Autor dieser Rezension hat die besagte Entwicklung u. a. 2018 im Rubikon-Aufsatz „Der globalistische Grundkonsens“ dargelegt und hat dieser überaus treffenden, aber deutlich sorgfältiger ausgearbeiteten Diagnose Kaisers nichts hinzuzufügen.

Eine Analyse des Linkspopulismus

Eine besondere Aufmerksamkeit Kaisers gilt dem sogenannten Linkspopulismus einer Chantal Mouffe, der in vielerlei Hinsicht deutliche Parallelen zu seinem rechten Pendant aufweist und viele entsprechende Parteien und Bewegungen Europas und auch Nordamerikas beeinflusst und inspiriert hat: Von Bernie Sanders in den USA über Jeremy Corbin in Großbritannien bis hin zu Jean-Luc Mélenchon in Frankreich vertreten linke Politiker in mehreren westlichen Staaten soziale, aber eben auch patriotische Positionen, und verkörpern damit eine neue linke Opposition, von der man in Deutschland nur träumen kann, wenn man einmal von Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht und ihrer (aber wohl gescheiterten) Sammlungsbewegung #Aufstehen absieht.

Diese je nach Region mal mehr, mal weniger vorhandenen linkspatriotischen Ansätze werden freilich von Kaiser nicht unkritisch bejubelt, sondern durchaus kritisch analysiert. Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei der originär für Rechte spürbare Reibungspunkt, nach dem die Frage, was denn nun genau das „Volk“ sei und was bzw. wer es ausmache, auf linker Seite ungeklärt sei. Dass der Volksbegriff von einer globalistischen Kipping-Linken, Grünen und Sozialdemokraten in Gänze negiert und abgelehnt wird, ist dabei keine natürlich keine Neuigkeit, doch wisse, so Kaiser, auch der pronationale Linkspopulismus einer Chantal Mouffe, der durchaus positiv mit dem Begriff hantiert, nicht, „was ein ‚Volk‘ überhaupt ausmacht“ (S. 65). Die rechte Antwort darauf, die „Volk“ ethnisch und als eine relativ homogene Einheit umfassen würde, dürfte auf linker Seite in der Tat wohl nicht allzu anschlussfähig sein. Der deutsche Linkspopulismus, verkörpert durch Wagenknecht, habe diesbezüglich seinen Standpunkt allerdings noch nicht geklärt (S. 65). Zumindest hat er ihn nicht erklärt.

Betrachtet man nun die Wählerklientel der AfD, so sei die Antwort auf die Frage nach ihrer nötigen programmatischen Ausrichtung Kaiser zufolge klar: Da „die AfD mittlerweile auch die Wahlpartei der unteren und mittleren Schichten, der ‚populären Klassen‘ geworden ist“ (S. 35), muss sie auch die soziale Frage nach vorne stellen und sich, wie es der Front National (FN) vorgemacht hat, „vom herrschenden Ungeist des Neoliberalismus und seiner Ausrichtung auf die ökonomistische Verwertungslogik“ (S. 35 f.) befreien. Von der „Mär einer rechtsgewendeten Union-Minus-Merkel“ (S. 57) solle man sich indes endlich verabschieden. Eine sowohl inhaltlich als auch strategisch wichtige Botschaft, von der man sich wünschen würde, dass sie möglichst viele Entscheidungsträger der Partei rezipieren würden.

Wie weit kann Solidarität reichen?

Einen kritischen Einwand möchte man allerdings dort einwerfen, wo der Autor den Begriff der Solidarität beleuchtet. Dieser setze „immer eine vorhandene (keine konstruierte) Gemeinschaft voraus, die solidarisch – also einander helfend, zusammengehörig fühlend – handeln kann. (…) Theoretische Solidarität kann man mit einer fiktiven Weltgesellschaft üben. Praktische Solidarität gelangt jedoch dann rasch an ihre Grenzen, wenn man schlicht allen Menschen helfen soll“ (S. 36).

Es ist keine Frage, dass der Sozialstaat als zentrale Institution eines organisierten Gemeinwesens nur auf nationaler Ebene – und damit nur mit vorhandenen Grenzen – funktionieren kann, da einerseits seine Kapazitäten (rein ökonomisch-mathematisch ebenso wie sozial und massenpsychologisch) begrenzt sind und andererseits eine organisierte, verbindliche (!) Solidargemeinschaft ihre Identität nur durch Abgrenzung nach außen behalten und stabilisieren kann. Mit anderen Worten: Es muss ein „Hier sind wir und da sind die anderen“ geben, damit Identität die organisierte, d. h. auch mit finanziellen bzw. steuerlichen Verbindlichkeiten operierende Solidargemeinschaft begründen und legitimieren kann. Soweit: Konsens.

Nun ist – auch soweit herrscht Konsens – ebenfalls klar, dass die Annahme einer Weltgesellschaft ein bestenfalls in abstrakten makrosoziologischen Theorien anschlussfähiges linksliberales Konstrukt darstellt, das keine reelle Bindewirkung entfalten kann. Nur: Dies macht internationale Solidarität nicht per se zu einer Unmöglichkeit – und sollte es auch nicht. Wenn ein Volk, wo auch immer auf der Welt, bedingt durch kapitalistische Auswüchse, in Hunger und Elend lebt, oder es gar, in Folge imperialistischer Angriffskriege seitens der Führungs- und Supermacht des Neoliberalismus, in Krieg und Leid versinkt, dann muss und sollte hier internationale Solidarität über das national begrenzte Gemeinwesen hinweg durchaus auch für Rechte kein Fremdwort sein. Nur zeigt sie sich hier, in dieser unserer Auslegung, eben anders: Sicherlich nicht in einer rechtswidrigen Öffnung der Grenzen und sicherlich auch nicht in der globalistischen Befürwortung eines Nationen und Völker entmündigenden Weltstaats, durchaus aber eben in fundamentaler Opposition gegen völkerrechtswidrige Kriege, Imperialismus und Globalisierung als Trägerin einer kapitalistischen Weltwirtschaft. Dies ist eine Form der internationalen (nicht: globalen) Solidarität, die auch von rechts durchaus tragbar sein sollte, und die dennoch über ein einzelnes Volk hinausreicht.

In diesem Punkt läge noch Ausarbeitungspotenzial: Die Außenpolitik, das rechte Verhältnis zur NATO (und nicht nur zur EU), zum Völkerrecht (Schmitt!) – dies sind „Baustellen“, die in Kaisers Buch kaum behandelt werden, aber dennoch in einem direkten Zusammenhang zum von ihm analysierten Thema stehen. Die Notwendigkeit einer neuen, auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker abzielenden deutschen und europäischen Friedenspolitik lässt sich nicht trennen von potenziellen Gemeinsamkeiten und Allianzen von Links und Rechts, von der Erkenntnis einer politischen Marktlücke im linken Spektrum, die von rechts gefüllt werden könnte. Denn auch in diesem Bereich erleben wir eine deutsche Linke, die – siehe SPD und Bündnis 90 / Die Grünen – inzwischen ganz vorne mitmacht, wenn es darum geht, westliche Interventionskriege rhetorisch zu befeuern und mindestens logistisch mitzutragen. Man darf erwarten, dass auch eine „Linkspartei-Minus-Wagenknecht“, um es mit Kaiser zu sagen, nicht mehr lange ausschert; spätestens dann, wenn sie einmal in ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis eingebunden sein sollte.

Habituelle Einflüsse

Doch warum fällt es Konservativen so schwer, sich in bestimmten Politikfeldern für klassisch-linke Positionen zu öffnen? An diesem Punkt wäre es spannend, von Kaiser einmal eine politisch-psychologische Analyse zu lesen. Denn die Antwort auf diese Grundfrage müsste notgedrungen wohl nicht lediglich auf rational-programmatische, sondern auch auf sehr irrational-habituelle Ursachen abstellen. Wer einmal, ganz abseits politikwissenschaftlicher Analysen, das politische Zusammenwirken sowohl linker als eben auch rechter Akteure jeweils untereinander erlebt hat, der wird hier gewichtige Unterschiede feststellen. 

Wenn der klassische Bürgerlich-Konservative – im Berufsleben angekommen, verheiratet, ein bis zwei Kinder, habituell und äußerlich wohlsituiert, sein Gegenüber siezend – auf den klassischen Linken (auch: Linkspopulisten) – Aktivist, Idealist, Akademiker, freiheitsliebend, szenen- und musikaffin, duzend – trifft, dann reicht der sich daraus ergebende, fast automatisch aufkommende Argwohn mitunter tiefer als jeder nüchterne, formale programmatische Positionen-Abgleich. Es dürfte durchaus keine unrealistische Theorie sein, dass auch derlei sozialpsychologische Einflüsse zuweilen die Offenheit verhindern, die eine eigentlich seit langem nötige Allianz dieser Art bräuchte. Möglicherweise ein Thema für Kaisers nächstes Werk?

Lesebefehl!

Doch was auch immer der Autor als nächstes liefern mag: Diese Lieferung ist zweifellos gelungen – eine umfassende, politisch wie auch politikwissenschaftlich interessante, intellektuell anspruchsvolle Bestandsaufnahme eines sich drastisch verändernden politischen Spektrums, verbunden mit daraus abgeleiteten Konklusionen, die eigentlich Pflichtlektüre für jeden bisherigen und künftigen AfD-Funktionär und –Mandatsträger sein sollten. Könnte man Lesebefehle für eben jene erteilen – dies wäre mein erster.

„Blick nach links“ von Benedikt Kaiser erschien 2019 im Verlag Antaios.

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