Die Kinder fraßen ihre Revolution
Die
nationalrevolutionären Wurzeln der 68er – und was davon übrig blieb
Die legendäre 68er
Studentenbewegung hat dieses Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum gefeiert, was in
einer Vielzahl von erinnernden, mal befürwortenden, mal ablehnenden Artikeln
und anderen medialen Beiträgen mündete. Auf Arcadi
hat sich jüngst Justin Cedric Salka in einem differenzierten Artikel
mit dem Widerstand von 1968 auseinandergesetzt. Doch leider ist, so muss man kritisch
konstatieren, längst nicht jede konservative Auseinandersetzung mit den 68ern
so differenziert. Zumeist gilt die Studentenbewegung und deren Folgen, wie vor
allem der vermeintliche „Marsch durch die Institutionen“ seitens der von 1968
geprägten akademischen Eliten, als eine Art Grundübel, welches die heutige Schieflage
eines globalistischen, entgrenzenden und multikulturellen Linksliberalismus
überhaupt erst derart produziert und vor allem als gesellschaftlichen Konsens
etabliert habe.
Doch stimmt diese Diagnose? Bei
genauerer Betrachtung, im Rahmen derer man sich sowohl Erkenntnisse der
Geschichtswissenschaft und der soziologischen Protest- und Bewegungsforschung
als auch Positionierungen der Akteure von damals selbst zu Gemüte führt, wird
man feststellen, dass die Sache so einfach nicht ist. Vielmehr lässt sich
feststellen, dass der „harte Kern“ der Außerparlamentarischen Opposition (APO)
und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), welche die 68er
Bewegung maßgeblich trugen, in weiten Teilen von einem Denken geprägt war, das
mit dem heute grassierenden antinationalen Linksliberalismus nur sehr wenig zu
tun hatte, sondern tatsächlich als „nationalrevolutionär“ im weiteren Sinne
beschrieben werden kann. Dies traf (bzw. trifft) im Besonderen auf den
Studentenführer Rudi Dutschke zu, der 1979 an Spätfolgen des Attentats auf ihn
starb, aber auch auf den „zweiten Mann“ der 68er, den späteren Professor am
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin, Bernd Rabehl, der
heute gar als NPD-naher Hardliner gilt, ebenso wie auf den damaligen Berliner SDS-Landesvorsitzenden
und Politologen Tilman Fichter, später Referent für Schulung und Bildung beim
SPD-Parteivorstand und eher moderat nationalrevolutionär positioniert.
Die 68er und die Konservative Revolution
Der Historiker Manuel
Seitenbecher hat sich in seiner umfangreichen Dissertation „Mahler, Maschke
& Co. Rechtes Denken in der 68er-Bewegung?“ (2013) in durchaus umfassender
Form mit der Materie auseinandergesetzt. Dies erfolgt freilich auch bei ihm
nicht immer in der wissenschaftlich-objektiven Form, die bei Arbeiten dieser
Art gerne suggeriert wird: So dankt der Autor in seinem Vorwort auch
ausdrücklich der Axel-Springer-Stiftung für die Förderung des Drucks seiner
Doktorarbeit (vgl. Seitenbecher 2013: 7). Bedenkt man, in welch flammender
gegenseitiger Abneigung sich die 68er und der neokonservative und neoliberale,
heute klar globalistisch ausgerichtete Springer-Konzern gegenüber standen, so
könnte man schon die berechtigte Frage stellen, ob unter solchen
Voraussetzungen noch eine sachlich-nüchterne Betrachtung des
Forschungsgegenstandes möglich und erwünscht war. Nichtsdestotrotz wartet das
Buch mit interessantem Detailwissen zu den Positionierungen der wichtigsten
Akteure und Vordenker der 68er auf.
So hatte etwa Bernd Rabehl 2002
bekannt, dass in der Bewegung nicht zufällig „die nationalrevolutionären
Schriften von Ernst Niekisch (…) studiert [wurden], um eine Konzeption der
nationalen Wiedergeburt des deutschen Volkes in eine linksrevolutionäre
Tradition zu stellen“ (Rabehl 2002: 428; zitiert nach Seitenbecher 2013: 100). Sicherlich
war eine solche Beschäftigung mit politischen Theoretikern der Konservativen
Revolution in der Bewegung keine selbstverständliche Betätigung und der
Stellenwert von entsprechenden Autoren wie Niekisch nicht mit dem von anti-imperialistischen
Ikonen wie Che Guevara, Fidel Castro, Mao Tse-tung oder Ho Chi Minh
vergleichbar. Und doch war er dem ideologischen Kern der 68er alles andere als
fremd.
Gleiches gilt zudem für den wohl bekanntesten konservativen
Staatsrechtler schlechthin, Carl Schmitt: Bekanntermaßen gab es in der
Studentenbewegung auch linke „Schmittianer“, die sich am Begriff des
Politischen orientierten, den Schmitt bereits 1932 geprägt hatte und demzufolge
das Politische ein Primat erhält, mittels dessen es mindestens im sogenannten
Ausnahmezustand alle anderen gesellschaftlichen Unterscheidungen verdrängen
kann (vgl. Schmitt 2015a). Eine Denkweise, die zum 68er-Credo „Auch das Private
ist politisch“ – welches die Persönlichkeit des Einzelnen stets auch zu politisch-moralischem
Denken und Handeln verpflichtet – sehr gut passt. Kein Wunder, dass auch der
68er und Publizist Günter Maschke später zu einem der wichtigsten
Schmitt-Kommentatoren des rechten Spektrums wurde.
Politische Aktion, Provokation, Negation
Zuweilen sagt auch die
Gegnerschaft gegenüber bestimmten Akteuren und deren Positionen etwas über
letztere aus. So verlief eine besonders hitzige „akademische Front“ von 1968
zwischen Dutschke und Co einerseits und dem Philosophen Jürgen Habermas andererseits.
Habermas, der gern als „Erbe“ der Schöpfer der neomarxistischen Kritischen
Theorie / Frankfurter Schule, Theodor Adorno und Max Horkheimer, rezipiert
wird, kann gut begründet als der
zentrale Vordenker des heutigen, in der Bundesrepublik zum Mainstream
gewordenen globalistisch-linksliberalen Grundkonsens betrachtet werden. Nachdem
er zuvor noch, als es politisch und akademisch „in“ war, den „herrschaftsfreien
Diskurs“ gefordert hatte, war er seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre an
vorderster Front, als es darum ging, infolge des Historikerstreits um den
geschichtspolitischen Umgang mit dem Holocaust konservative Historiker wie
Ernst Nolte in die wissenschaftliche Isolation zu drängen. Der ehemalige
Verfechter des herrschaftsfreien Diskurses wurde zu einem der wichtigsten
Advokaten linksliberaler Political Correctness und damit restriktivster
Verhinderung herrschaftsfreier Diskurse (vgl. dazu Sander 2016: 23 ff.).
Dieser Habermas war es nun auch,
der Dutschke im Rahmen eines Kongresses in Hannover im Jahr 1967 aufgrund der
aktionistischen, nicht rein intellektuell-strategischen Orientierung der
Bewegung „linken Faschismus“ vorwarf (vgl. Seitenbecher 2013: 119). Zwar nahm
er diesen Vorwurf später wieder zurück (vgl. ebd.: 126), jedoch befand er sich
damit letztlich schon damals in einmütiger Übereinstimmung mit heutigen neokonservativen,
oft und gerne polemisierenden Historikern wie Götz Aly, die die 68er Bewegung
wegen der Absolutheit und der Rigorosität ihres politischen Denkens gerne in
eine geistige Nähe zu den Nationalsozialisten rücken (vgl. ebd.: 161), ebenso
wie auch mit allerlei Medien der damaligen Zeit (auch abseits des
Springer-Konzerns), die sich nicht scheuten, ebenfalls entsprechende Vergleiche
zu tätigen (vgl. ebd.: 127). Eine Sichtweise, die in ihrer darin zum Ausdruck
kommenden Skandalisierungsneigung ausblendet, dass letzten Endes jede Form
echten, aufrichtigen, engagierten Protests, in welche Richtung dieser auch
immer gehen und wogegen er sich auch richten mag, von einem lauten Aktionismus und
von Provokation begleitet werden muss, um überhaupt auf sich aufmerksam zu
machen, und um die Energie aufzubringen, die nötig ist, ihn gegen reaktionäre
Widerstände durchzuhalten. Dieser Grundsatz gilt noch heute, mit Blick auf
politische Akteure der Gegenwart.
Positiver sah diese Entwicklungen
der Philosoph Herbert Marcuse, der als direkter Vordenker der 68er galt und
dessen Werk maßgeblich von Intellektuellen inspiriert worden ist, die gemeinhin
dem konservativen und rechten Spektrum zugeordnet werden, nämlich Friedrich
Nietzsche und Martin Heidegger, dessen Assistent Marcuse in den späten 20er
Jahren gewesen war. Marcuse hatte gar im Juli 1967 an der FU Berlin vor
Studenten ein Ende der Utopie und den Aufbruch in eine neue Ordnung verkündet,
mit den revolutionären Studenten als Trägern der Negation des Bestehenden (vgl.
ebd.: 125). Vergleicht man diese Philosophie mit maßgeblichen Botschaften
Nietzsches und Heideggers, so wird man die weltanschaulichen Parallelen schnell
registrieren.
So musste man denn auch nicht
lange warten, um, nicht nur, aber eben auch von linksliberaler Seite, die
Gegner dieser radikalen Positionierungen zu vernehmen: Der
Politikwissenschaftler Richard Löwenthal bezeichnete die „linken Leute von
rechts“, die Akteure der Konservativen Revolution der 20er Jahre, als die
Vorläufer der linken Studentenbewegung, der Politikwissenschaftler Wilhelm
Hennis diagnostizierte eine geistige Nähe der Bewegung zu Ernst Jünger und der
Soziologe Erwin Scheuch beschrieb sie gar als totalitär und rechts (vgl. ebd.:
129 f.).
Parlamentarismus-Kritik
Eine weitere Gemeinsamkeit
zwischen frühen konservativen Revolutionären einerseits und 68ern andererseits
liegt in der Kritik des parlamentarischen Systems, die nicht immer, aber
manchmal gar in direkter Ablehnung dessen mündete. Der Parlamentarismus als ein
zentrales Merkmal liberaler repräsentativer Demokratien galt bei seinen Gegnern
als Institution, die politische Entscheidungsprozesse in endlose Diskussion
transformierte und dabei vor allem dem Zweck diente, im Volk die Illusion
politischer Mitbestimmung zu erwecken. Selbst der oben bereits thematisierte
Jürgen Habermas hatte sich durch Parlamentarismus-Kritik hervorgetan, welche,
so Bernd Rabehl, maßgeblich durch konservative Staatsrechtler wie Carl Schmitt
und Ernst Forsthoff inspiriert worden sei (vgl. ebd.: 156).
Und in der Tat vertraten auch
Dutschke und Rabehl, ebenso wie weite Teile der APO und des SDS als Ganzes,
demokratietheoretische Vorstellungen, nach denen die repräsentative Demokratie
durch eine Rätedemokratie ersetzt werden müsse. Dies setzte nach
sozialistischen Vorstellungen aber auch die Herausbildung eines Neuen Menschen
voraus, der hinreichend emanzipiert ist (und gewissermaßen auch das Politische
seiner privaten Existenz akzeptiert und anerkannt hat), und dadurch imstande
ist, seiner neuen demokratischen Verantwortung nachzukommen. Hierin zeigte
sich, zumindest indirekt, der Geist der bekannten Liberalismus-Kritik Carl
Schmitts (vgl. dazu Schmitt 2015b), im Zuge dessen die kollektive politische
Verantwortung eine größere Relevanz hat oder jedenfalls haben kann als die
absolute Selbstbestimmung des Einzelnen, welche der Liberalismus als absoluten
Wert setzt.
Ablehnung von Amerikanisierung und US-Imperialismus
Nicht nur die deutsche 68er
Bewegung, sondern auch ihr amerikanisches Pendant in der Popkultur, die
Hippie-Bewegung, zeigen auf, worin weitere Gemeinsamkeiten zu konservativem
Denken liegen: Im Unbehagen gegenüber Technisierung und der alles
überdeckenden, jegliche Tiefe eliminierenden Unterhaltungsindustrie, gegenüber
der „McDonaldisierung“ unserer Kultur, die in einem maßgeblichen Zusammenhang
zu Amerikanisierung und US-amerikanischem Kulturimperialismus (vgl. dazu
Feldmann 2000: 324) stehen. Um 1968 offenbarte sich nicht nur in Deutschland,
sondern quer durch Europa und in den USA eine Generation, die zu einer Art
neuen, aber zugleich eben auch alten Tiefe zurückfinden wollte, zurück zur
Natur („Flower Power“) und zum Ursprünglichen. Hieraus spricht erneut der Geist
der Konservativen Revolution, wie ihn Intellektuelle wie Oswald Spengler, Ernst
Niekisch und andere artikuliert haben. Seitenbecher zitiert an dieser Stelle
Rudi Dutschke: „Heute hält uns nicht eine abstrakte Theorie der Geschichte
zusammen, sondern der existentielle Ekel vor einer Gesellschaft, die von
Freiheit schwätzt und die unmittelbare Interessen und Bedürfnisse der
Individuen und der um ihre sozial-ökonomische Emanzipation kämpfenden Völker
subtil und brutal unterdrückt.“ (vgl. Seitenbecher 2013: 165).
Der Studentenführer Dutschke
sprach also ohne Gewissensbisse von „Völkern“ und ihren Interessen – Sätze, für
die er heute nicht nur von der Antifa zumindest metaphorisch gevierteilt würde,
sondern die auch deutlich machen, dass der klassische linke Internationalismus
sich eben doch grundlegend vom heutigen neoliberalen Globalismus, der
kollektive Identitäten wie Völker und Nationen bekämpft anstatt Solidarität
zwischen ihnen bewirken zu wollen, unterscheidet (vgl. Sander 2018).
Zugleich wird hier auch der
primäre rote Faden der 68er-Denkweise deutlich: Anti-Imperialismus. Man
positionierte sich energisch gegen den Vietnamkrieg der USA, gegen weltweite
Ausbeutung durch jene Kräfte, die noch heute weltweit Ökonomisierung,
Freihandel und Globalisierung vorantreiben. Dahinter standen soziale
Überzeugungen; dahinter standen aber durchaus auch immer die Grundprinzipien
des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie sie auch von Konservativen
hochgehalten werden und die mit dem Grundsatz nationaler Souveränität
harmonieren.
Befürwortung der Nation
Konsequenterweise „traten auch
die deutschen 68er damit für (…) explizit nationale
Befreiungsbewegungen“ (Seitenbecher 2013: 170) ein. Man ergriff dezidiert
Partei für einen nationalen und sozialen Befreiungskampf der südvietnamesischen
Bevölkerung; Dutschke setzte für die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt
nationales Bewusstsein voraus (vgl. Seitenbecher 2013: 171). Rabehl fasste
zusammen, seine und Dutschkes Vision sei die nationale Befreiung gewesen (vgl.
ebd.: 173).
Und dies gilt nicht nur
international, sondern auch mit Blick auf gesamtdeutsche Fragen: Weder Rabehl
und Dutschke noch Fichter waren Anhänger des „Realsozialismus“ der DDR und des
sowjetisch dominierten Ostblocks. Stattdessen sprach man sich für einen
gesamtdeutschen Sozialismus in einem wiedervereinigten, blockfreien Deutschland
aus, welches gerade auch Dutschke stetig forderte (vgl. ebd.: 176). Und dies in
den 70er Jahren noch mehr als zuvor (vgl. Dutschke 1978; Seitenbecher 2013: 188
f.), da ihm die Thematik gerade auch zu Zeiten der neuen Ostpolitik bzw. der
Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt, im Zuge
derer die BRD die DDR als Staat anerkannte und man beiderseitig den Anspruch
der Wiedervereinigung zu einer gesamtdeutschen Nation aufgab, zunehmend
bewusster wurde.
Folgerichtig forderte Dutschke
dann auch Ende der 70er Jahre, kurze Zeit vor seinem Tod, den Abzug
ausländischer Besatzungstruppen aus Deutschland (Wir selbst 1979: 16). Tilman
Fichter wiederum schrieb 1978 in der Zeitschrift Langer Marsch: „Wenn es uns nicht gelingt, die soziale und
nationale Frage mittelfristig positiv zu verkoppeln, bleibt der Sozialismus in
der politischen Landschaft der Bundesrepublik ein interessantes Randphänomen.“
(Fichter 1978; zitiert nach Brandt / Ammon 1981: 354). Fichter veröffentlichte
darüber hinaus 1993 das Buch „Die SPD und die Nation“, in dem er seiner Partei
vorwarf, das Konzept der Nation aufgegeben zu haben (vgl. Fichter 1993).
In eine ähnliche Stoßrichtung
wandte sich bereits während der Hochzeit der Studentenbewegung um 1968 herum
die „Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“ (AUD), die zuweilen eine
wichtige Rolle in den Diskursen innerhalb des SDS spielte, Kontakte zu Ernst
Niekisch und Otto Strasser hielt und später in der Partei Die Grünen aufging,
in der ihre Mitglieder aber bekanntlich schnell an Einfluss verloren. Auch die
Zeitschrift Neue Politik des
Nationalrevolutionärs Wolf Schenke, der während des Zweiten Weltkrieges als
Korrespondent des Völkischen Beobachters
in China tätig gewesen war und der in der Folge eine Faszination für den
maoistischen Sozialismus der jungen Volksrepublik entwickelt hatte, begleitete
die Studentenbewegung wohlwollend (vgl. Seitenbecher 2013: 209 ff.). Gleiches
galt auch für den Nationalrevolutionär, Publizisten und späteren Professor für
Sport- und Kultursoziologie an der Universität von Süddänemark, Henning
Eichberg (vgl. ebd.: 219 ff.).
Spätkapitalistische Kulturindustrie
Doch wenn im Rahmen der 68er
Bewegung eine solche pro-nationale, mit konservativen Grundsätzen harmonierende
Ausrichtung vorlag – woraus ergab sich dann jene Veränderung, die oft
(fälschlich?) mit den 68ern verknüpft wird, hin zu Liberalisierung,
Globalismus, Befürwortung von Multikulturalismus und zum Dogma politischer Korrektheit?
Wie konnten so derart fundamental-alternative, radikal-oppositionelle
Positionen zu einem neo- und linksliberalen Grundkonsens mutieren, der heute
für die maximale Angepasstheit, die selbstzufriedene Bildungsbürgerlichkeit und
die Abgehobenheit einer politisch-massenmedialen Klasse steht und mit
kritischem Denken nicht mehr viel am Hut hat? Wollten das die 68er wirklich?
Die Antwort auf diese Fragen
liefert – ironischerweise – ein soziologischer Klassiker, der die 68er Bewegung
maßgeblich beeinflusst hat. In ihrem Essay „Kulturindustrie – Aufklärung als
Massenbetrug“ von 1944, veröffentlicht im legendären Werk „Dialektik der
Aufklärung“, thematisieren die beiden Köpfe der Kritischen Theorie, Theodor
Adorno und Max Horkheimer, treffend die tragende Rolle der Kulturindustrie als
Trägerin spätkapitalistischer Strukturen: Kunst verkommt demnach im
Spätkapitalismus zur Ware, die ihre Relevanz und ihren Wert über Verwertbarkeit zugesprochen bekommt
anstatt über ihre Ästhetik, wie es im eigentlichen, künstlerischen Sinne der
Definition nach richtig wäre. Aus „Kultur“ wird „Kulturindustrie“, die ihre
Konsumenten (also nicht mehr: ihr Publikum) mit trivialen Oberflächlichkeiten
bespaßt. Hand in Hand geht diese Entwicklung mit dem Verhältnis von Arbeit und
Freizeit: Letztere herrscht dann, wenn man nicht arbeitet, hat sich also dem
Primat der Arbeit unterzuordnen. In der Folge ist die Freizeit kein
Lebensbereich, dem man sich voller Elan und Konzentration widmet, sondern eine
Art Rest-Zeit, in der man nur noch – erschöpft und ausgelaugt – nach möglichst
anspruchslosen Betätigungen sucht (vgl. Adorno / Horkheimer 2006).
Wer Belege dafür zu sehen wünscht,
wie zutreffend diese – eigentlich ja sehr konservative! – messerscharfe
Diagnose erst recht heutzutage ist, möge sich die Feierabendbeschäftigungen
eines nicht geringen Teils der heutigen westlichen Bevölkerungen anschauen: Die
Einschaltquoten der Sendungen des Privatfernsehens, aber auch die Qualität und
Tiefe vieler Hollywood-Produktionen und Ergüsse der amerikanisierten Popmusik
geben hierzu reichhaltig Auskunft. Und zugleich gibt die besagte Diagnose auch
Auskunft darüber, wie und warum die ursprünglichen 68er-Ideen so derart
liberalismustauglich transformiert werden konnten.
Die linksliberale Transformation
Die 68er Generation ist als
Nachkriegsgeneration bereits selbst in einer Weise sozialisiert worden, im
Rahmen derer sie die von der spätkapitalistischen Kulturindustrie geschaffenen
psychischen Bedürfnisse frühzeitig verinnerlichen konnte und musste. Wer 1968
zur Studentenbewegung in der BRD gehörte, hat, sofern er nicht, wie Dutschke
und Rabehl, „Abhauer“ aus der DDR war, seine Jugend in der Zeit des
Wirtschaftswunders verlebt, in der, so kann man wohl sagen, unpolitischsten
Phase der bundesrepublikanischen Geschichte, in einer Phase hemmungslosen,
genießenden Konsums, des Auskostens des Wohlstands nach einer Phase der Armut
und des Elends. Diese tief verinnerlichte kapitalistische Triebstruktur* hielt
sich selbst in Zuständen, in denen die Ratio, der Kopf, das Über-Ich die
Falschheit und die Oberflächlichkeit dieser wohlstandsgesellschaftlichen
Bedürfnisse erkannt hatte und die betreffenden Personen zur Rebellion im Rahmen
der Studentenbewegung antrieb.
Doch als die Hochzeit der 68er
langsam abflachte, als sich die ersten Schattenseiten der revolutionären
Bestrebungen zeigten (in Deutschland vor allem die Rote-Armee-Fraktion; in den
USA waren es Drogentote, das in Gewaltexzesse ausufernde Altamont-Festival und
die Manson-Morde, die den Hippies den Heiligenschein und den Frieden von
Woodstock nahmen) und – nicht zuletzt – als der neu gewählte Bundeskanzler
Willy Brandt unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ ab 1969 scheinbar (und allenfalls
oberflächlich) manche Ideale von 1968 aufgriff, war schließlich die Luft raus.
Die revolutionäre Energie war verpufft; ja, allenfalls noch bei denen
vorhanden, die sie in blutiger Gewalt kanalisierten (RAF). Was die
SPD/FDP-Koalition unter Brandt gegenüber DDR und Ostblock gelang, gelang ihr
auch im Innern gegenüber der 68er Generation: Im Zuge einer vor gutem Willen triefenden,
aus westlicher Sicht strategisch klugen Entspannungspolitik wurde der Gegner so
fest und so reformistisch-sozialdemokratisch umarmt, dass er schließlich keine
revolutionär-sozialistische Luft mehr zum Atmen hatte.
Was blieb von den Idealen von
1968, war schließlich eben das, was kulturindustriell verwertbar war:
Emanzipation der Frau (kein Kapitalist hat etwas gegen Frauen einzuwenden, die
arbeiten gehen, solange sie nicht schwanger werden – aber für den letzteren
Fall hatte man ja dann, man verzeihe die Polemik, die ebenfalls befürwortete
Abtreibung), massive sexuelle Liberalisierung (Miniröcke und nackte Brüste in
Film und Fernsehen erhöhen die Einschaltquoten und die Anzahl der
Kinobesuche!), Veränderungen in Bezug auf Mode – konservative Moral bringt eben
keinen ökonomischen Gewinn. Die vorher allgemein anerkannte Vorstellung einer
autoritären Erziehung wurde ersetzt durch das antiautoritäre Erziehungsideal,
verwirklicht vor allem in der Reformpädagogik und in später entstandenen neuen
Schulformen wie etwa der Gesamtschule. Doch auch dies vertrug sich bequem vor
allem mit dem Liberalismus, in dem der Einzelne im Mittelpunkt steht anstatt
des Kollektivs: Das Kind sollte sich eben „frei entfalten“ können.
Auch spätere linksliberale
Vorstellungen, wie sie auch noch den heutigen bundesrepublikanischen Mainstream
prägen – Befürwortung von multikultureller Gesellschaft und Globalisierung, von
„Diversity“ etc. – sind eben genau jene für Dutschke & Co eigentlich
mindestens sekundären bis schlicht abzulehnenden Inhalte, die weniger aus den
Idealen von 1968 heraus geboren sind als vielmehr aus der sozialliberalen
„Kompromisspolitik“ danach, im Rahmen derer man von politischer Seite einfach
immer jene progressiven Reformvorstellungen zuließ oder förderte, die sich gut
mit dem Liberalismus und kapitalistischen Erfordernissen vertrugen. Von den
Kernidealen der eigentlichen Studentenbewegung – Frieden,
Befreiungsnationalismus, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Anti-Imperialismus,
Sozialismus – blieb so gut wie nichts übrig.
Konklusion
Entspannungspolitik und
kapitalistische Kulturindustrie haben in zuverlässigster Form genau jenen
manipulativen „Job“ verrichtet, für den sie sich auszeichnen. Die eigentlichen 68er
haben keinen „Marsch durch die Institutionen“ vollendet und danach das Land
verändert. Die eigentlichen 68er wurden betrogen. Sie haben gekämpft,
protestiert, Druck gemacht, agitiert; waren so lange stark, wie die alte,
reaktionär regierte BRD offensiv gegen sie vorging, sekundiert von Springer. Ab
1969 jedoch, ab Willy Brandt war die neue politische Klasse der BRD am Zuge,
die sie – wie auch den Ostblock – allmählich kleingekriegt hat, durch
Kompromiss, durch Umarmung, durch Entspannung, durch (vordergründiges) Lächeln.
Das Lächeln eines listigen Autoverkäufers, der dem Kunden nach dem
erfolgreichen Verkauf eines Schrottautos an ihn jovial auf die Schulter klopft,
während er insgeheim schon die Scheinchen zählt. In Abwandlung des Georg-Büchner-Bonmots
„Die Revolution frisst ihre Kinder“ muss man hier formulieren: Die Kinder
fraßen ihre Revolution – bequem geworden, dekadent, korrupt, erfolgreich
bestochen durch die listigen Autoverkäufer des neuen linksliberalen
Establishments. Eine frühe bundesrepublikanische – und zugleich
spätkapitalistische – Tragödie.
Anmerkung
*Diese Formulierung verdanke ich
einem klugen Kopf, getätigt im Rahmen eines privaten „Kolloquiums“ zu diesem
Artikel. An dieser Stelle vielen Dank dafür!
Literatur
Adorno, Theodor W. / Horkheimer,
Max (2006). Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug. In: Ders., Dialektik
der Aufklärung. Philosophische Fragmente (16. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer.
Brandt, Peter / Ammon, Herbert
(Hrsg.) (1981). Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen
Einheit seit 1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Dutschke, Rudi (1978). Zur
nationalen Frage. In: das da-Avanti Nr. 10, 10/1978.
Feldmann, Klaus (2000).
Soziologie kompakt. Eine Einführung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Fichter, Tilman (1993). Die SPD
und die Nation. Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler
Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit. Berlin / Frankfurt a. M.: Ullstein.
Sander, Florian (2016). Zum
Verhältnis von Gesellschaft und Volksgemeinschaft. Ist auch die Volksgemeinschaft soziologisch fassbar?
Working Paper, Universität Bielefeld.
Sander, Florian (2018). Der
globalistische Grundkonsens. Der liberale Kampf gegen kollektive Identitäten
und die Herausforderung einer gesellschaftlichen Antwort. In: Rubikon,
09.02.2018. https://www.rubikon.news/artikel/der-globalistische-grundkonsens
(letzter Zugriff: 31.12.2018)
Schmitt, Carl (2015a). Der Begriff des
Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien (9. Aufl.).
Berlin: Duncker & Humblot.
Schmitt, Carl (2015b). Politische
Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (10. Aufl.). Berlin:
Duncker & Humblot.
Seitenbecher, Manuel (2013).
Mahler, Maschke & Co. Rechtes Denken in der 68er-Bewegung? Paderborn:
Schöningh.
Wir selbst (1979). Nationale
Frage – kein Tabu mehr? In: Wir selbst – Zeitschrift für nationale Identität,
Nr. 1, 12/1979.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Anonyme Kommentare werden nicht veröffentlicht. Bitte geben Sie bei einem Kommentar Ihren richtigen Namen an. Dazu wählen Sie die Option "Name / URL". Die Angabe einer URL ist dafür nicht zwingend erforderlich. Verzichten Sie bitte auf Pauschalisierungen und bleiben Sie sachlich. Vielen Dank.