Abschied von der Systemtheorie

Wer sich einmal das systemische bzw. systemtheoretische Denken angeeignet hat, legt es nur schwer wieder ab. Die soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann, mit der der Autor dieser Zeilen akademisch sozialisiert wurde, ist ein hochkomplexes Gedankengebäude, das sich, bedingt dadurch, dass seine Schaffung und Ausarbeitung primär auf einen einzelnen, ohne Übertreibung als genial zu bezeichnenden Soziologen zurückgeht, darüber hinaus als konsistent und in sich geschlossen darstellt. Umso schwieriger scheint es zu sein, sich davon zu lösen: Wer diese Art der sozialen Umweltbeobachtung einmal in sich aufgesogen hat, der kann irgendwann kaum noch anders, als eben diese soziale Umwelt aus der systemischen Brille zu beobachten – selbst wenn es ihm in wesentlichen Punkten (z. B. und vor allem in politischen Fragen) als nicht genügend und auch als unbefriedigend erscheint.

Irgendwann ist das Denken in derlei systemischen Kategorien kein bewusster, willentlicher Akt mehr, sondern buchstäblich ein kognitiver Reflex, eine unbewusste Einordnung, eine Katalogisierung, eine Idealtypenbildung im Sinne Max Webers. So wie man sein menschliches Gegenüber im Alltag als Entität „Mensch“ wahrnimmt und nicht bloß als einen durch Haut abgegrenzten Beutel, der hauptsächlich aus Wasser besteht, so nimmt der systemisch denkende Beobachter seine Umwelt immer auch als Mixtur aus biologischen, psychischen und sozialen Systemen wahr und analysiert sie fast reflexhaft von dieser Prämisse aus. Er ist buchstäblich konditioniert auf systemisches Denken.

Die obige Darstellung läuft bereits auf eine erste Folgefrage hinaus: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer „systemtheoretischen“ und einer „systemischen“ Herangehensweise? Es gibt – in erster Linie im akademischen Betrieb – „Systemtheoretiker“ und es gibt „Systemische Berater“, „Systemische Therapeuten“, „Systemische Coaches“, „Systemische Supervisoren“ usw. usf. Ist jeder Vertreter der vier letztgenannten Gruppen auch Systemtheoretiker? Sicherlich nicht.

Systemtheoretiker schauen nicht selten mit einer gewissen Geringschätzung auf die vier letztgenannten Gruppen, da diese sich nicht dogmatisch einer soziologischen Theorie zuordnen, sondern sich aus einem großen Topf systemischen Denkens bedienen, der Konzepte vieler Köpfe beinhaltet, und das „Systemische“ eher als praktisches Verfahren denn als Theorie begreift. Für Systemtheoretiker ist das „Systemisch“ allzu oft eher ein hippes Label, das in vielen Fällen recht unreflektiert verwendet wird, weil es unter psychosozial tätigen Berufsgruppen irgendwie „in“ ist und eine weitere fachliche Spezialisierung eben immer gut ankommt. Ein Vorwurf, der nicht unbedingt unberechtigt ist, wenn man einmal wahrnimmt, wie verhältnismäßig schnell und einfach Leute an das Recht kommen können, die Bezeichnung „Systemischer Berater“ zu führen.

Wie auch immer: Wir können schon einmal festhalten, dass es einen Unterschied gibt zwischen „systemisch“ auf der einen und „systemtheoretisch“ auf der anderen Seite. Und dieser zeigt sich in noch ganz anderen Dimensionen. So wird man etwa feststellen können, dass die soziologische Systemtheorie nach Luhmann sich auf die Makro-, die Meso- und die Mikro-Ebene und damit auf alle drei Ebenen des Sozialen bezieht (symbolisiert durch Luhmanns Unterscheidung von Gesellschaft, Organisation und Interaktion, zu der Hartmann Tyrell in den 80er Jahren noch die Ebene der Gruppe hinzugefügt hat), während systemische Verfahren sich im Grunde nur auf die Mikro-Ebene beziehen, da sie naturgemäß im Kontext von Beratung, Therapie, Coaching und Supervision und damit in den Feldern der Psychologie, der Pädagogik und der Mikrosoziologie, nicht aber der Makrosoziologie Anwendung finden.

Während die (aus der Familientherapie heraus entstandene) systemische Herangehensweise erst einmal nur – sehr „bescheiden“ (in einem nicht wertenden Sinne), aber zurecht – den Einfluss sozialer Systeme auf die menschliche Psyche attestiert und daraus richtiger- und konsequenterweise folgert, dass der professionelle Umgang mit der Psyche im Rahmen der o. g. Felder daher eben auch immer deren sozialen Systeme einschließen muss, erhebt die soziologische Systemtheorie den Anspruch, die Gesellschaft zu beschreiben und zu erklären. Und nicht nur das: Auch wenn sich ihre Vertreter regelmäßig wieder gegen die folgende Vorhaltung wehren, so erklärt sie eben nicht nur, sondern setzt auch ein normatives Ideal, beschreibt einen Wunschzustand, sagt nicht nur, wie Gesellschaft ist, sondern auch, wie sie sein soll.

Der einzige Unterschied zu anderen Gesellschaftstheorien wie etwa dem Marxismus ist, dass sie dies nicht mittels einer politischen, revolutionären Semantik tut, sondern – typisch postmodern – in „kühlem“ Duktus, unter Verweis auf vermeintliche Effizienz und mit betont nüchternen Bezugnahmen auf das, was einer Gesellschaft angeblich „möglich“ ist und was nicht. Anders ausgedrückt: Wo der Marxist sagt, die Gesellschaft solle nicht so oder so sein, äußert der Systemtheoretiker, sie könne so nicht funktionieren, postuliert aber zugleich, diese seine Ansicht sei keine politische Meinung, sondern eine nüchterne Beschreibung und Erklärung der Lage. Die Systemtheorie tarnt sich dadurch als unpolitisch, obwohl sie letztlich nicht weniger politische Aussagen macht als etwa der Marxismus.

Diese Beobachtung wie auch die folgende vertiefte Betrachtung machen deutlich, in welch beträchtlicher Nähe zum (Neo-)Liberalismus die soziologische Systemtheorie Luhmannscher Prägung agiert. So postuliert sie für die Moderne die funktional differenzierte Gesellschaft, von der sie, die von einer auch gesellschaftlichen Evolution ausgeht, annimmt, dass sie – über die mit ihr verbundene Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Funktionssystemen – der effizienteste soziale Modus ist, um mit der durch Fortschritt, Globalisierung etc. gestiegenen Komplexität und Kontingenz umzugehen. Anders gesagt: Da, wo sich eine globale, hochkomplexe und unübersichtliche Weltgesellschaft herausbildet, da kann diese nicht mehr über eine übergeordnete politische Steuerung funktionieren, sondern müsse sich dezentral in autonom operierende Teilsysteme ausdifferenzieren (analog zur Arbeitsteilung als Folge der Industrialisierung), um mit den neuen Herausforderungen fertig werden zu können.

Die neoliberale Prämisse wird deutlich: Auch etwa das (Welt-)Wirtschaftssystem ist damit – wie auch alle anderen nicht-politischen Teilsysteme der Gesellschaft – zu komplex konstituiert, um adäquat politisch gesteuert werden zu können, weswegen es notgedrungen autonom operieren muss. Dies ist, aus Sicht der soziologischen Systemtheorie, keine Frage des politischen „Richtig oder falsch“, sondern buchstäblich nicht anders möglich, wenn das politische System nicht unter der Last der Steuerungsansprüche zusammenbrechen will. Der Schein des Unpolitischen, der von der Systemtheorie ausgeht, manifestiert sich in eben jener auf Effizienz und Effektivität rekurrierenden Argumentation, und verdeckt raffiniert die dahinterstehende, durch und durch politische Prämisse: Dass die politische Steuerung und das Organisieren der Gesellschaft durch die Politik etwas „unmodernes“ und „ineffektives“ sei, das in Zukunft tunlichst vermieden werden müsse.

Zwar auch differenzierungstheoretisch, aber in Konkurrenz zu dieser oben beschriebenen Sichtweise argumentiert die Staats- und de facto auch Gesellschaftstheorie Carl Schmitts, wie sie von diesem insbesondere in dessen Werken „Politische Theologie“ und „Der Begriff des Politischen“ dargelegt worden ist. So geht zwar auch Schmitt (der nicht von „Systemen“ spricht) von gesellschaftlichen Teilbereichen wie dem Politischen, dem Ökonomischen, dem Ästhetischen etc. aus, jedoch ist für ihn das Politische den übrigen klar übergeordnet, da dessen Leitunterscheidung (bei Luhmann: Codierung) in Freund / Feind (bei Luhmann: Macht / Ohnmacht bzw. Regierung / Opposition) mindestens das Potenzial hat, im Rahmen des sogenannten Ausnahmezustands sämtliche anderen Leitunterscheidungen der Gesellschaft zu überlagern. Plastischer und exemplarisch gesprochen: Wenn Krieg herrscht und / oder es um Leben und Tod – also existenziell politische Fragen – geht, ist die Frage, ob ein Kunstwerk schön ist oder nicht, zweitrangig. Das Politische kann – und muss – sich nach Schmitt im Zweifel über alle anderen gesellschaftlichen Sphären erheben und deren Leitunterscheidungen in den Hintergrund drängen, wenn es notwendig wird, also der Ausnahmezustand herrscht.

Wer politisch gestalten will, wer sich mit der „Autonomie“ etwa der Ökonomie und deren weltumspannenden Möglichkeiten, die Schicksale von Menschen zugunsten des Vorteils einiger weniger (negativ) zu beeinflussen, wer sich mit den bestehenden – von der Systemtheorie z. T. durchaus zutreffend, aber eben mit den falschen Schlussfolgerungen erklärten – gesellschaftlichen Verhältnissen nicht abfinden will, der kann, um etwas zu ändern, nicht auf die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns zurückgreifen, welche sich in einem entweder fatalistischen oder aber ganz einfach neoliberalen Steuerungspessimismus erschöpft. Die Theorie Carl Schmitts eröffnet dagegen die Möglichkeit, basierend auf treffender Liberalismus-Kritik, von einem Primat des Politischen ausgehend auf jenen gesellschaftlichen Idealzustand hinzuwirken, den man als erstrebenswert ansieht.

All dies negiert im Übrigen nicht die Entscheidung, im Bereich der Mikrosoziologie, dem der Pädagogik und dem der Psychologie weiterhin eine systemische Perspektive – im Sinne eines Verfahrens anstatt einer Theorie – zu präferieren. Abseits davon, dass es (s. o.) ohnehin kaum möglich ist, diese wieder einfach so abzulegen, nachdem man sie sich einmal – richtigerweise! – erarbeitet hat, bietet diese einem doch auch einen immer wieder verblüffenden und beeindruckenden Einblick in zwischenmenschliche Vorgänge, der etwa auch für beratende und psycho- bzw. gerade familientherapeutische Prozesse unerlässlich ist und der im Zuge einer Beschränkung etwa auf rein tiefenpsychologische Perspektiven niemals zu erreichen wäre.

Im Politischen jedoch liegt der Fall aus den oben beschriebenen Gründen anders. So sehr ein solcher Abschied von der Systemtheorie – übrigens auch den Autor dieser Zeilen – intuitiv schmerzen mag: Die rein emotionale Bindung an lieb gewordene Denkrichtungen mag ein wohlig-sicheres Gefühl der Vertrautheit schaffen – es ist jedoch, aufgrund der o. g. politischen Implikationen, trügerisch. In ganz ähnlicher Form übrigens wie die Überbleibsel der Bonner Republik, an denen viele Deutsche – man könnte behaupten, einfach aus einem Bauchgefühl heraus – so hängen: Die „gute alte“, behäbige CDU, Partei des Wirtschaftswunders, früher repräsentiert durch den guten alten, behäbigen, beleibten und väterlichen Kanzler Kohl, heute repräsentiert durch die ruhige, Sicherheit ausstrahlende „Mutti“ Merkel, wird’s schon richten. Das wohlige Bauchgefühl vermag die Tatsache zu vernebeln, dass all diese scheinbar Sicherheit gebietenden Akteure auch jene Faktoren darstellten, denen Eurokrise und Flüchtlingskrise zu verdanken sind, die beharrlich jegliche Bedenken dazu kleingeredet haben, die sich von einer kriegerischen Supermacht in immer neue globale Auseinandersetzungen hineinziehen lassen. 

Das wohlige Bauchgefühl ist eben leider oft trügerisch – sowohl in Bezug auf sozialwissenschaftliche Theorien als auch in Bezug auf politische Akteure. Es führt eben kein Weg daran vorbei, den Verstand ein- und hinzuzuschalten – weder in der Wissenschaft noch in der Politik.

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