Kurt Schumacher – Sozialist und Patriot

„Es gibt nicht einmal ein einheitliches Deutsches Reich, sondern nur die Hoffnung auf sein zukünftiges Erstehen.“

„Die Demokratie drückt sich national aus in dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.“

„Wir tun unsere Pflicht der nationalen Selbstbehauptung auf jedem Gebiet gegenüber jedermann.“

Hätten Sie die drei Zitate zuordnen können? Drei Sätze, die dem, der sie geäußert hat, heutzutage vermutlich binnen weniger Stunden zumindest einen Rechtspopulismus-Vorwurf bis hin (je nach Partei) zu einem vorläufigen Ende der politischen Karriere einbringen würden.

Stammen tun die zitierten Aussagen von Kurt Schumacher – 1930 bis 1933 Reichstagsabgeordneter der SPD, zu Zeiten des Dritten Reiches inhaftiert in mehreren Konzentrationslagern, ab 1946 bis zu seinem Tod im Jahre 1952 Parteivorsitzender der SPD. Das erste Zitat entstammt seinem Text „Konsequenzen deutscher Politik“ vom Juli 1945; die anderen beiden einer Rede vor Mitgliedern der FDJ in West-Berlin am 17. August 1951 (vgl. Brandt / Ammon 1981: 65; 100).

In seinem Buch „Die SPD und die Nation“ zeigte der Politikwissenschaftler und Soziologe Tilman Fichter (früheres SDS-Mitglied und später Referent für Bildung und Schulung beim Parteivorstand der SPD) präzise auf, wie sich die Haltung der Sozialdemokratischen Partei zum Themenkomplex Nation und Wiedervereinigung über den Wandel der Politikergenerationen hinweg veränderte. Während ein Kurt Schumacher und seine Generation noch wie selbstverständlich von der Nation als primärem politischen Handlungsrahmen ausging und daher unbedingte Priorität in der deutschen Wiedervereinigung sah, verloren die nachfolgenden Politikergenerationen der SPD zunehmend die Verbundenheit zu dieser Frage. So konnte zwar ein Willy Brandt als vorausschauernder Altkanzler gerade noch so verhindern, dass die SPD zum Zeitpunkt der tatsächlichen Wiedervereinigung als daran komplett desinteressiert wahrgenommen wurde („Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“). Doch schon Helmut Schmidt und Egon Bahr haben auffallendes Desinteresse am Thema Wiedervereinigung gezeigt und legten die Priorität auf Stabilität und realpolitisches Arrangement mit der DDR (vgl. Fichter 1993).

Und nach 1990 wurde es nicht besser: Nachfolgende Politikergenerationen der SPD sahen die Zukunft Deutschlands primär in der „europäischen Einigung“ – will heißen, letztendlich in einem europäischen Bundesstaat, zu dem die EU als Staatenverbund die Vorstufe bilden soll (was aber bislang noch aus wahltaktischen Gründen mit Formulierungen wie der genannten verklausuliert werden muss). Auf ein Bekenntnis zur deutschen Nationalstaatlichkeit wird man insbesondere bei der heutigen Politikergeneration (nicht nur) der SPD lange warten können. Dass die Mehrheit der europäischen Völker dieses supranationale Projekt ablehnt, wird weiterhin geflissentlich ignoriert; die auch daraus resultierenden europaweiten Wahlerfolge rechter Parteien werden – allenfalls begleitet von Betroffenheitsbekundungen und Wählerbeschimpfungen – in Kauf genommen.

Kurt Schumacher wusste es schon im Juli 1945 besser. In seiner bereits oben genannten Schrift zitiert er einen Satz Talleyrands aus dem Jahre 1815: „Europa ist ein System von Staaten, welche unter sich in einer gewissen Gleichgewichtsbestimmung leben müssen. Aber diese Staaten sind lebendige Wesen. Das Gleichgewicht zwischen diesen lebendigen Wesen kann nicht von außen mit Gewalt aufgezwungen werden, es muß den Lebensnotwendigkeiten aller Staaten entsprechen“ (vgl. Brandt / Ammon 1981: 67). Ein Zitat, das in seiner Aktualität weder seit 1815 noch seit 1945 nur einen Deut eingebüßt hat: Die Resultate eines aufgezwungenen (Schein-)Gleichgewichts zeigen sich an den Folgen der EU-Politik in Griechenland und anderswo in Europa, und sie zeigten sich im Rahmen der Tragik der jahrzehntelang aufgezwungenen Teilung der deutschen Nation, die Schumacher aus gutem Grund so vehement bekämpft hatte. Die Wahlentscheidung der Griechen im Jahre 2015 steht somit letztlich in einer emanzipatorischen Reihe mit dem Aufbegehren der Deutschen im Jahre 1989.

Doch das Beispiel Kurt Schumachers ist nicht nur mit Blick auf das Thema EU und die daraus resultierende Souveränitätseinschränkung Deutschlands und anderer Mitgliedsstaaten lehrreich, sondern auch in Bezug auf „subtilere“ Einschränkungen nationaler Selbstbestimmung etwa im Verhältnis gegenüber der Supermacht USA. Fragt man historisch informierte Menschen nach dem Namen Kurt Schumacher, so dürfte den meisten wohl als erstes dessen legendäre Rolle als erster Gegenspieler Konrad Adenauers in Erinnerung treten, im Zuge derer Schumacher dem ersten Bundeskanzler der BRD im Bundestag entgegengeschleudert hatte, er sei der „Bundeskanzler der Alliierten“.

Schumacher hatte damit – letztlich nicht nur in Bezug auf Konrad Adenauer – den Nagel auf den Kopf getroffen. Er hatte richtig erkannt, worauf Adenauers Politik der Westbindung hinauslaufen musste: Nicht nur auf die Zementierung der deutschen Teilung, sondern eben auch in eine beständige Atomkriegsgefahr und einen De-Facto-Souveränitätsverlust, der im politischen Prozedere der Bundesrepublik – obwohl diese formal längst als souverän gilt; Einschränkungen durch die EU ausgenommen – bis heute spürbar sind, wenn man etwa an den mehr als peinlichen Umgang der Bundesregierung mit der NSA-Affäre oder an die Vernachlässigung deutscher Interessen im Rahmen der Politik gegenüber Russland denkt, bei der man sich zum europäischen Instrument der USA gemacht hat. Es dürfte gewiss keine unbegründete Spekulation sein, wenn man annimmt, dass der Umgang einer „Regierung Schumacher“ mit derlei Fragen anders ausgesehen hätte.

Fichter zitiert in seinem Buch dazu den Sozialwissenschaftler Theo Pirker: „In Wirklichkeit war für Schumacher der neue Bundeskanzler – eben weil er die Interessen eines egoistischen westdeutschen Bürgertums vertrat, weil er die Gruppeninteressen über die nationalen Interessen stellte, eben weil er sich anschickte, zusammen mit dem egoistischen Bürgertum Westeuropas und Amerikas ein kapitalistisches Europa zu bauen – ein Politiker des nationalen Verrats. In der ehernen Konzeption der Einheit von Demokratie, Klasse und Sozialismus war und blieb Adenauer nur ein Werkzeug der Alliierten, die ihre nationalen Interessen über die Interessen der Demokratie stellten“ (Pirker 1965: 124 ff.; zitiert nach Fichter 1993: 110 f.).

Dies gilt umso mehr, als dass Schumacher trotz seiner scharfen und konsequenten Ablehnung des Sowjetkommunismus und der sowjethörigen KPD für eine klar erkennbar sozialistische Programmatik eintrat: „Schumacher war überzeugt, daß Deutschland nur „sozialistisch“ wiederaufgebaut werden könne und daß die deutsche Demokratie sozialistisch fundiert sein müsse, um Bestand zu haben – dazu gehörte die Sozialisierung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien sowie der Großbanken“ (Brandt / Ammon 1981: 36 f.).

Die letzte große Wegmarke der Schumacher-SPD datiert sich auf den 10. März 1952: An diesem Tag bot die Regierung der Sowjetunion in einer Note an die Westmächte an, „mit einem wiedervereinigten, bündnislosen und begrenzt bewaffneten Deutschland einen Friedensvertrag abzuschließen“ (Fichter 1993: 115) – die berühmte Stalin-Note, im Rahmen derer ein geeintes, aber neutrales Deutschland als „Puffer“ zwischen beiden Blöcken fungiert hätte. Sie sah umfassende Zugeständnisse vor: „Dem deutschen Volk müßten die „demokratischen Rechte“ gewährt und den „demokratischen Parteien und Organisationen“ eine „freie Betätigung“ zugestanden werden. Allen ehemaligen Angehörigen der Deutschen Wehrmacht, einschließlich der Offiziere und Generäle, allen „ehemaligen Nationalsozialisten“, mit Ausnahme derer, die für von ihnen begangene Verbrechen rechtskräftig verurteilt waren, sollten die „gleichen bürgerlichen und politischen Rechte“ wie allen anderen deutschen Bürgern zuerkannt werden“ (ebd.: 115). Die Neutralität sollte als Gegenleistung Deutschlands hierfür fungieren.

Die Adenauer-Regierung und die bürgerlichen Parteien der BRD reagierten binnen kürzester Zeit ablehnend auf das Angebot, ohne eine Diskussion dessen ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Für die Schumacher-SPD begründete indes der damalige Vorsitzende des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, in einer Rede am 3. April 1952 im Bundestag die Position der SPD, die Stalin-Note und ihr Angebot offen zu prüfen: „Man kann doch nicht – das ist aber leider so geschehen!, weil zum Beispiel bei den Westmächten keine Neigung besteht, den Deutschen eine nationale Armee zu konzedieren – erklären: „Das kommt nicht in Frage, das gehört der Vergangenheit an; wir wollen nur eine Europaarmee!“. Das gilt dann immer nur für die Deutschen; die anderen würden sich so etwas nicht sagen lassen. Aber ich will damit sagen: es sollte doch nicht dem vorgegriffen werden, was bei einer sachlichen Prüfung – die man ja nicht im Studierzimmer allein, sondern am Verhandlungstisch vornehmen kann – herauskommen kann. (…) – Sie wissen das ja schon sehr gut. Sie sagen: „Njet.“ Aber lassen Sie es doch einmal darauf ankommen!“ (vgl. Brandt / Ammon 1981: 107).

Abseits der bezeichnenden Randnotiz, dass Wehner mit seiner Bemerkung zur Europaarmee unwillkürlich prophetisch argumentiert hat – auch heute wollen ein derartiges Ausmaß an europäischer Integration im Grunde nur die komplexbeladen-identitätsverlorenen Deutschen – so zeigt sich hier doch abermals, welche Chancen sich für eine frühe Beendigung der deutschen Teilung und eine frühe Wiedervereinigung wie auch für ein wirklich souveränes Deutschland bereits damals geboten haben – und wie sehr eine echte Alternative mit der Schumacher-SPD zur damaligen Zeit noch greifbar war.

Dies gilt umso mehr, als dass die beiden Historiker Peter Brandt und Herbert Ammon konstatieren, dass definitiv nicht ausgeschlossen werden könne, dass dieses und die folgenden Angebote der UdSSR ernst gemeint waren (vgl. Brandt / Ammon 1981: 43) und somit zu fragen ist, „ob wir 1952 eine Gelegenheit, die deutsche Einheit wiederherzustellen, versäumt haben“ (Fichter 1991: 119). Wie anders, ja wie viel freier und souveräner nach außen, und, daraus hervorgehend, wie viel sozialer nach außen und nach innen könnte Deutschland heute womöglich Politik machen, hätte damals die SPD von Kurt Schumacher die politische Mehrheit im Bundestag gehabt?

Die Frage bleibt zutiefst hypothetisch – es kam alles ganz anders. Die SPD verabschiedete sich im Jahre 1959 mit der Beschließung des Godesberger Programms von der deutschlandpolitischen Linie Kurt Schumachers, akzeptierte Westbindung und Marktwirtschaft, wurde von einer Klassen- zu einer Volkspartei, mutierte schließlich unter Schröder und mit der Agenda 2010 zu einer neoliberalen Partei und fristet heute bekanntermaßen ein trauriges Dasein als Anhängsel der Union mit ein wenig sozialer Rhetorik. Schwer vorstellbar, dass ein Kurt Schumacher jemals Vorsitzender dieser Partei hat sein können.

Doch so hypothetisch die obige Frage auch ist, so klar ist doch die politische Vorbildwirkung, die das Beispiel Kurt Schumachers heute noch immer – oder wieder – entfalten könnte und sollte. Souverän und selbstbestimmt nach außen, geeint und sozial im Innern – das war die politische Botschaft Kurt Schumachers. Es kann nicht schaden, sich ihrer im Zeitalter einer neoliberalen Globalisierung wieder zu erinnern.


Literatur:

Brandt, Peter / Ammon, Herbert (Hrsg.) (1981). Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Fichter, Tilman (1993). Die SPD und die Nation. Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit. Frankfurt a. M.: Ullstein.

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