Ein postmoderner Morgen

Schon das Klingeln des Weckers war das Resultat einer Entscheidung. Zwischen wie vielen Melodien hatte Leon-Alexander doch wählen können, als er sich vor dem Schlafengehen den Handywecker gestellt hatte, der ihn nun, um 6.30 Uhr mit einer beliebigen, nicht näher umrissenen Chart-Melodie (halb) wach klingelte. Zum Glück hatte er den Schlummermodus eingestellt. Er drehte sich nochmal um und döste. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei. Vier. Fünf… es klingelte.

Im Bad die nächste Lebensentscheidung. Gut, das Duschen war noch recht alternativlos. Obwohl, wenn er da an das vielfältige Duschgel-Angebot im Supermarkt dachte, dessen Duftpalette die exotische Flora eines ganzen Urwalds abdeckte… egal. Rasieren. Rasieren? Stopp. Nicht so schnell. Er wollte doch einen Bart. So einen, wie ihn der Jan Marvin aus dem Mathe- und dem Sowi-Kurs jetzt hatte. Wenn er nur endlich wachsen würde!

Dieser intellektuelle Touch, der Jan Marvin umgibt, seit er diesen Vollbart trägt, war nicht nur ihm aufgefallen. Selbst der Mathelehrer hatte ihn seitdem nicht mehr an die Tafel geholt. Immer, wenn dessen Blick auf Jan Marvin fiel, strich sich dieser betont nachdenklich über den munter sprießenden Vollbart… und der Blick schweifte weiter. Die Tatsache, dass Jan Marvin trotzdem keine Ahnung hatte, wurde buchstäblich von Haaren verdeckt.

Leon-Alexander legte den Rasierer wieder weg. Stattdessen nun Gel in die Haare. Akkurater Seitenscheitel. Wenn man ihn nun so sah, wirkte er fast wie dieser Typ von der Jungen Union, der aus dem Sowi-Kurs. Gut, dass er noch nicht fertig war mit seinem ausgiebigen Styling! Er setzte sich seine Brille auf. Die mit dem dicken schwarzen Rand. Er sah sich prüfend im Spiegel an.

Er war natürlich kein Hipster. Er würde sich nie einer Subkultur zuordnen. Feste Bindungen waren nichts für Leon-Alexander. Das hatte immer so diesen Aspekt der Verantwortung. Etwas, wo man nicht wieder raus kann. Und vor allem etwas, das andere auch waren. Er war aber nicht wie die anderen. Er war eine ganz eigene Persönlichkeit, etwas ganz besonders! Jawohl, etwas ganz besonderes. Und das sollte in seinem Äußeren zum Ausdruck kommen.

Gut, Lena-Sophie – die Hübsche aus dem Sowi-Kurs – hatte ihn neulich „Hipster“ genannt. Und ihre Freundin auch. Und irgendwer hatte es ihm neulich auf der Straße hinterher gerufen. Das war aber bestimmt nur wegen der Hose. All die Leute konnten ja nicht wissen, dass er eigentlich etwas ganz besonderes war. Wie sollten sie auch, sie kannten ihn ja alle kaum. Sie wussten ja nicht, wie anders und individuell er wirklich war. Er machte sein Ding. Scheiß auf die anderen, lebe deine Träume! Jawohl.

Aber die anderen sollten schon wissen, dass er seine Träume lebt. Ein Hauch von Unmut stieg in ihm auf. Hielten die ihn etwa für einen Mitläufer? So einen, der nur einem Trend folgt?! So einer war er schließlich nicht. Der Jan Marvin, der war so einer. Neulich hatte er auf Facebook auch sowas mit „lebe deine Träume“ oder so gepostet. Haha. Dieser Mitläufer! Nur weil er jetzt Bart trägt, meint er, er wär‘s. Gut, dass er, Leon-Alexander, da so ganz anders war. Sich seine eigene Gedanken über die Welt macht. Und so.

Zum Beispiel zur Politik. Erst neulich hatte er im Sowi-Kurs gesagt, wie kritisch er die Rechtspopulisten sehe, die inzwischen überall sind. Dass man dagegen aktiv Zivilcourage zeigen müsse. Zusammen mit Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und Verbänden. Für eine bunte Gesellschaft!

Die Lena-Sophie hatte ihn dabei ganz bewundernd angeschaut. Da hatte er sich einfach mal über den Bartansatz gestrichen, so nachdenklich, wie der Jan-Marvin immer. Ja, er machte sich ganz eigene Gedanken über unsere Gesellschaft. Nicht so wie die ganzen Mitläufer drum herum.

Heute würde er sich wieder so über den Bartansatz streichen, nahm er sich vor, als er vorm Spiegel stand. Und vielleicht dabei einmal die schwarz umrandete Brille abnehmen, am Bügel kauen und wieder aufsetzen. Die Lena-Sophie fand das bestimmt toll, ihn so nachdenklich zu sehen. So wie ja kein anderer war. Den anderen geht’s ja immer nur darum, wie sie auf andere wirken. Sowas fand er ja wieder typisch. Gut, dass er da anders war. Was ganz besonderes!

Er wollte frühstücken, spürte jedoch, dass ihm der Hunger fehlte. Außerdem konnte er sich nicht entscheiden, was er hätte essen sollen. Die Auswahl im Kühlschrank war wieder so groß.

Er machte sich auf den Weg zu seinem Gymnasium. Als er den Haupteingang passiert hatte, kam Tim-Lucas aus dem Deutsch-LK an ihm vorbei und grüßte. Er trug jetzt Vollbart. Eine dick schwarz umrandete Brille hatte er schon länger. Jetzt war noch ein „FCK AFD“-Shirt dazu gekommen. Dieser Heuchler! Hatte er doch nur an, um bei Lena-Sophie zu landen. Gut, dass er nicht so war. Er, Leon-Alexander, war authentisch. Er machte sein Ding. Scheiß drauf, was die anderen denken. Heuchlerische Gesellschaft. Er nahm einen Schluck aus seiner Cola-Flasche. Zum wach werden.

Eigentlich sollte er davon nicht zu viel trinken. Hatte ihm jedenfalls seine Mutter immer wieder gesagt. Wegen seiner Ritalin-Dosis, die er immer bekam. Zum Konzentrieren. Er verdrängte die Gedanken. Nicht weil es ihm peinlich war. Die Lena-Sophie und der Tim-Lucas müssen wohl auch immer Ritalin nehmen. Sie gehen damit ganz offen um. Warum auch nicht? Scheiß auf die anderen, mach‘ dein Ding. Egal was die Leute denken. Er war eben was ganz besonderes und das sollte auch jeder wissen!

Nein, die Überlegungen verdrängte er, weil er eh schon mit dem Gedanken gespielt hatte, künftig seine Ernährung umzustellen. Vegan wollte er werden. Es gab da ja jetzt auch ganz viele Angebote im Supermarkt für Veganer. Außerdem lebte die Lena-Sophie auch vegan. Das würde ihr gefallen. Es war ja auch wichtig. Wegen der Tiere und so. Gut, dass wenigstens er die Dinge so kritisch sah. Er postete auch regelmäßig Artikel zum Klimawandel auf Facebook. Er fand, dass es wichtig ist, sich zu engagieren. Gerade auch gegen Rassismus. Und Sexismus! Und Chauvinismus. Und Homophobie. Und Islamophobie. Und Antisemitismus. Er strich sich nachdenklich über den Bartansatz. Er sah sich als aktiven Teil der Zivilgesellschaft. Im steten Kampf für das Gute, gegen das Böse.

Sein Sowi-Lehrer hatte ihn und die anderen neulich gefragt, ob sie sich nicht in irgendeiner Partei engagieren wollten. Da hatte Leon-Alexander zögernd den Kopf geschüttelt. Nee, also die AfD war natürlich scheiße. Aber die Linken waren ihm da auch irgendwie zu dogmatisch. Und die anderen alle so angepasst und alt. Oder halt rechts, noch schlimmer. Und er wollte ja auch seine Freiheit. So Hierarchien in Organisationen und sowas, das war nix für ihn. Lieber erstmal so sein Ding machen. Scheiß auf die Leute. Lebe deinen Traum!

Zum Beispiel eine Weltreise. Er sah sich ja eh eher so als Weltbürger, als Kosmopolit. Alle zusammen und so. Son bisschen rumreisen nach dem Abi. Seine Eltern hatten sich bereit erklärt, ihm dafür einen Zuschuss zu geben. Sein Vater war Rechtsanwalt. Gut, dass er jetzt diesen neuen Mandanten hatte, diesen Aufsichtsratstypen. Dadurch lief die Kanzlei gut und seine Eltern wurden etwas großzügiger.

Die Sowi-Stunde begann. Thema war die Situation in Nahost. Schlimm, was da abgeht. Auch mit dem IS und Assad. Komplexe Sache. Was sollte man tun? Waffen liefern (wenn ja, an wen?), eingreifen, raushalten, bombardieren, Bodentruppen? Der Lehrer fragte in die Runde. Man muss hier natürlich beide Seiten bedenken, dachte Leon-Alexander, während er am Bügel seiner schwarz umrandeten Brille kaute. Da gibt es nicht die eine Lösung. Man muss das aber auf jeden Fall kritisch sehen, irgendwie.

Er nahm einen Schluck aus seiner Cola-Flasche, räusperte sich und setzte an, seine Gedanken laut auszusprechen. Da bemerkte er, dass Jan-Marvin schon dran genommen worden war. Er sähe das Ganze ja alles sehr kritisch, sagte der. Dabei strich er sich nachdenklich über den Vollbart. Lena-Sophie schaute ihm mit bewunderndem Blick zu.

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