Wider die Über-Reflexion!

Ein insbesondere von Patienten oft beklagtes Problem der Psychotherapie ist die alte Frage: Welche braucht der Betroffene eigentlich? Verhaltenstherapie, Psychoanalyse? Welche Stellung sollte die medikamentöse Behandlung einnehmen? Wie umgehen mit Traumata? Trotz des hohen Professionalisierungsgrades bringt der zentrale Charakter der Psychotherapie als „Verwaltung der vagen Dinge“ (Peter Fuchs) es mit sich, dass die Antworten auf diese Fragen selten so klar und rationalisiert anschlussfähig begründet sein können wie es etwa in der Medizin der Fall ist, was mitunter dazu führt, dass Patienten lange suchen müssen, um eine für ihren Fall angemessene und hilfreiche Therapie zu finden – oder sich gar in Therapien begeben, die ihr Leiden eher verschlimmern als lindern (gerade im Falle von Traumata eine realistische Gefahr). Befragt man Psychotherapie-Patienten nach ihren Erfahrungen, so bekommt man nicht selten Berichte über langwierige Suchen und kräftezehrendes Ausprobieren verschiedener Therapieformen zu hören.

Hier birgt eine systemtheoretisch inspirierte Psychiatrische Soziologie das Potenzial, als Klinische Soziologie zu wirken, Antworten zu geben, die den oben beschriebenen Problemen und Gefahren entgegen wirken könnten und dabei auch eine klar differenzierte diagnostische Kategorisierung zur Verfügung zu stellen. Eine Kategorisierung, die sich nicht mit für die psychische Gesundung mitunter recht unerheblichen physiologischen Fragen oder unterkomplexen „Leicht-bis-schwer“-Skalen aufhält, sondern den Geschlossenheitsgrad des psychischen Systems in den Blick nimmt, um daraus hervorgehend zu Schlussfolgerungen über die Gesundheit des betreffenden psychischen Systems zu kommen. Die Einstufung des Geschlossenheitsgrades des Systems nämlich gibt Aufschluss darüber, wie hoch sein Reflexionsbedarf eigentlich noch ist – und damit, was es zur Heilung (oder für einen Zustand, der dieser nahe kommt) noch braucht oder eher nicht braucht.

Gehen wir von folgender theoretischer Prämisse aus: Ein psychisches System, das über einen mittleren Geschlossenheitsgrad verfügt, ist gesund. Er steht somit gewissermaßen für den Normalzustand, in dem allenfalls noch Beratung, aber keine Therapie erforderlich ist. Abseits von diesem Zustand herrschen nicht ein, sondern zwei mögliche Zustände von psychischer Erkrankung: Zu niedrige Geschlossenheit auf der einen Seite sowie zu hohe Geschlossenheit des Systems auf der anderen Seite. Wir weichen hier also vom klassischen Dualismus „krank vs. gesund“ ab und ersetzen ihn durch einen Dreiklang, in dem der gesunde Normalzustand (mittlerer Geschlossenheitsgrad) in der Mitte der Skala steht, niedrige Geschlossenheit am einen Ende und hohe Geschlossenheit am anderen Ende.

Was bedeutet dieses theoretische Konzept nun übersetzt?

In der soziologischen Systemtheorie stellen autonome soziale Systeme den „funktionierenden“ Normalfall eines Systems dar. Sie sind operativ geschlossen, d. h. sie sind gegenüber potenziellen Interventionsversuchen aus ihrer Umwelt geschützt, auf höheren Systemebenen durch einen bestimmten binären Code, der die Identität des Systems prägt (bspw. die Unterscheidung von Gewinn und Verlust als identitätsprägendes Element des Wirtschaftssystems). Alle Operationen des betreffenden Systems funktionieren nach dieser Maßgabe. Versuche, dem System via Intervention andere Leitunterscheidungen einzupflanzen, müssen scheitern, da sie die Identität des Systems und damit das System selbst zerstören würden. Auf psychischer Ebene verdeutlicht sich diese operative Geschlossenheit am plastischsten durch die Unfähigkeit zur Telepathie: Man weiß nicht, was der andere denkt und kann es auch nicht bestimmen. Auch das psychische System ist somit operativ geschlossen.

Zugleich jedoch sind Systeme nicht blind und taub, sondern beobachten stetig ihre Umwelt. Dieser Vorgang gewährleistet die „Autopoiesis“ des Systems, d. h. er sorgt dafür, dass die Kommunikation, die das (in diesem Fall soziale) System ausmacht, fortgesetzt wird und dadurch das System erhalten bleibt. Die Beobachtung der Umwelt führt zur fortlaufenden Irritation des Systems, durch die es lernt, sich an äußere Umstände anpasst, sich selbst stetig weiterentwickelt, weiter kommuniziert und mit alldem sein eigenes Bestehen schützt. Auf sozialer Systemebene geschieht dies über sog. strukturelle Kopplungen zu anderen Systemen, die eine Art spiegelnde Brille darstellen, die die beobachtete Umwelt nochmal nach der Maßgabe des eigenen Codes rekonstruieren – womit sich das System letztlich immer nur selbst irritiert und nicht in dem Sinne irritiert wird (Beispiel: die Politik beobachtet die Wissenschaft über die strukturelle Kopplung der wiss. Politikberatung).

Auch ein gesundes psychisches System funktioniert auf diese Weise (auch wenn es im Gegensatz zum sozialen Funktionssystem mit seiner Umwelt zu kommunizieren vermag, also zu etwas mehr imstande ist): Der Prozess der Sozialisation, ja das soziale Leben einer Person selbst bedeutet nichts anderes als fortlaufendes Beobachten und Sich-Irritieren-Lassen von der Umwelt, was sodann, im Zuge einer Vielzahl von sozialen Rollen, die eigene Identität und Persönlichkeit prägt und weiterentwickelt. Zugleich ermöglicht es dem sozialen wie auch dem psychischen System, seine Grenzen zu erkennen. Beobachten und Irritieren-Lassen geschieht spätestens ab der Geburt; operative Geschlossenheit und Identitätsbildung des Systems erfolgt daraufhin, indem das System lernt, sich von seiner Umwelt (über Name, Verhalten, Kommunikation) abzugrenzen – wer man ist, erfährt man, indem man lernt, wer man nicht ist. Die operativen Grenzen wie auch die Beobachtungs- und Irritationsfähigkeit eines gesunden psychischen Systems sind damit zwei Seiten einer Medaille, die einander bedingen.

Damit ist im Groben umschrieben, was mit dem mittleren Geschlossenheitsgrad eines gesunden psychischen Systems gemeint ist: Ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen diesen beiden Eigenschaften – operativer Geschlossenheit einerseits und vorhandener Beobachtungs- und Irritationsfähigkeit andererseits.

Wenn nun eine dieser beiden wichtigen, dem Yin-und-Yang-Konzept nicht unähnlichen Komponenten des Systemaufbaus nicht gegeben bzw. somit die jeweils andere im Übermaß vorhanden ist, steigt das Risiko dessen, was wir sozial als „psychische Erkrankung“ konstruieren und dann ggf. diagnostizieren. So birgt etwa ein Zuwenig an Beobachtungsfähigkeit und ein Zuviel an Geschlossenheit das Risiko der Isolation des Systems (hoher Geschlossenheitsgrad), welche sich in vielerlei Formen äußern kann.

Assoziativ am ehesten naheliegend ist hierbei das Phänomen des Autismus (abgestuft: des „Soziopathen“), im Zuge dessen sich psychische Systeme selbst bei hohem Intelligenzgrad so weit von der Umwelt abkapseln, dass sie sie nicht mehr adäquat beobachten bzw. sich von ihr irritieren lassen können und dadurch nicht fähig sind, sich selbstständig zu versorgen oder zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Aber auch andere Erscheinungsformen dieser Kategorie sind denkbar: So kann etwa ein Überschuss an Emotionalität wie bspw. verstärkte Neigung zu Aggressivität und Gewalt und / oder ein Suchtproblem ähnliche Folgen hervorrufen, da beides die Fähigkeit zur Selbst- und Umweltbeobachtung (Reflexion des eigenen Handels sowie die Fragestellung: Wie nehmen andere mich wahr?) mitunter massiv einschränkt und das System so über alle Maßen nach außen und vor sich selbst abschließt. Ähnliche Folgen sind denkbar, wenn eine andere psychische Erkrankung (wie etwa Depression) mit einem niedrigen emotionalen Intelligenzquotienten einhergeht, im Zuge derer der Patient nicht zu reflektieren imstande ist, was ihm fehlt. In derlei Fällen ist mitunter schon eine Verhaltenstherapie geeignet, Abhilfe zu schaffen; auch eine psychoanalytisch gewährleistete Reflexionshilfe kann zur Besserung beitragen.

Es sind jedoch auch ganz andere Systemzustände denkbar, die sich in ihrer Symptomatik womöglich zunächst ähnlich darstellen, de facto aber am anderen Ende der hier vorgeschlagenen Skala rangieren. Stichwort: Niedriger Geschlossenheitsgrad.

Je offener ein System gegenüber der Umwelt ist, desto stärker ist seine Fähigkeit zur Beobachtung dieser. Je mehr Beobachtung möglich ist, desto größer die Kontingenz, sprich desto größer die Entwicklungsmöglichkeiten des Systems, aber desto größer auch die Komplexität der Informationen, mit denen es sich auseinandersetzen muss. Wer besonders viele Informationen aufnimmt, der muss logischerweise auch mehr Zeit und Ressourcen dafür aufwenden, um diese zu ordnen, zu sortieren und nutzend zu verarbeiten, sprich: eine Selektion vorzunehmen.

Besonders häufig ist diese Problematik bei Menschen von überdurchschnittlicher Intelligenz, insbesondere emotionaler Intelligenz, vorzufinden. Wer empathisch ist, wer sowohl seine Umwelt als auch somit aber sein eigenes Handeln beständig reflektiert, also regelmäßig auch in zweiter Ordnung beobachtet, der ist, wie gemeinhin bekannt, eher in Gefahr, zum „Grübler“ zu werden und, alltagssprachlich ausgedrückt, sich „Dinge zu Herzen zu nehmen“.

Letztlich sind diese Eigenschaften Symptome eines zu niedrigen Geschlossenheitsgrades des psychischen Systems, mit dem die o. g. Problematiken einhergehen. Diese (zu) niedrige Geschlossenheit ergibt sich nicht selten aus einem – im mikrosoziologischen und sozialpsychologischen, nicht im entwicklungspsychologischen Sinne – Identitätsfindungsproblem des Systems.

Dem System fehlt es an Leitdifferenzen, die seine Grenzen stabil aufrechterhalten und im richtigen Moment für das adäquate Ausmaß an operativer Geschlossenheit sorgen. Damit fehlt es der Beobachtung der Umwelt an einem Fokus, einem Filter, einer Maßgabe in Bezug darauf, wofür und unter welchen Gesichtspunkten Informationen überhaupt aufgenommen werden sollten. Dies führt im Ergebnis zu einer Informationsüberfrachtung, in deren Folge das System die äußeren Eindrücke für sich nicht adäquat sortieren kann und kein Schema besitzt, welches ihm aufzeigt, wozu sie eigentlich dienlich sind.

Die daraus folgende Über-Irritation sorgt für Verwirrung, Konfusion und kognitive Dissonanzen, daraus hervorgehend zu Identitäts- und Sinnkrisen („wozu gibt es mich überhaupt?“) und somit schließlich zu einer das System lähmenden Depression, die das selbstständige Auflösen entstandener kognitiver Dissonanzen endgültig unmöglich macht. Ist schließlich jegliche, als eine Art Sinnkonstruktionsmuster wirkende Leitdifferenz abhandengekommen, ergibt sich das Risiko der Suizidalität, welche wir allgemeinhin als krank ansehen, die für ein System ohne funktionierende Leitdifferenz (d. h. also: Sinnkonstruktionsmuster, Grenzziehung des Systems und Identitätsstiftung) aber letztendlich nur logisch und folgerichtig ist.

Neben dem Phänomen auch oder zusätzlich denkbar: Zwangsstörungen, die dadurch ausgelöst werden, dass es an einer eine Maßgabe schaffenden Leitdifferenz fehlt, was in der Konsequenz dazu führt, dass keine abschließenden Entscheidungen herbeigeführt und stattdessen bestimmte Operationen immer und immer wiederholt werden müssen, da das System unfähig ist, sie abschließend zu bewerten und für sich eine erfolgreiche Vollendung festzustellen. Das System traut sich selbst und seinen Urteilen nicht mehr, da es an einem Kriterium (Leitdifferenz!) fehlt, nach welchem bewertet und eine Selektion vorgenommen werden kann. Somit entsteht schließlich der Zwang, eine Systemoperation immer und immer durchzuführen, ohne dass sie zu einem Abschluss gelangt.

Befindet sich ein psychisches System in einem solchen Zustand, so werden verhaltenstherapeutische und psychoanalytische Ansätze, die im Grunde nur eine Fortsetzung dieses (mindestens im Falle von Depression) potenziell tödlichen (Selbst-)Reflexions-Wettlaufs vorantreiben, womöglich einen kontraproduktiven Effekt haben, da sie die Suche nach einer sinn- und identitätsstiftenden Leitdifferenz, die die Geschlossenheit und damit die Gesundheit des psychischen Systems gewährleistet, ausklammert. Die beständige, dann therapeutisch sogar noch vorangetriebene Über-Reflexion führt dann zum genauen Gegenteil, da sie nicht erkennt, dass der pure emotionale Intellekt ohne Codierung so nur in einem Teufelskreis versinkt, anstatt ihn zu verlassen.

An diesen Punkten braucht es komplexitätsreduzierten Affekt statt Intellekt. Es braucht ein therapeutisches Verständnis für die Folgen, die übermäßige Kontingenz und übermäßige Komplexität auf ein psychisches System haben können. Wie dies in der Folge genau auszusehen vermag, kann an dieser Stelle noch nicht geklärt werden, da es den Rahmen des Artikels sprengen würde. Es bleibt aber eine Aufgabe, sich dieser Frage in der Zukunft auch in diesem Rahmen wieder anzunähern.

Deutlich werden sollte hier vor allem eines: Nötig ist eine systemische Diagnostik, die auf die beschriebenen, simplifizierenden „Krank vs. gesund“-Dualismen verzichtet und stattdessen auf einen Dreiklang zurückgreift, der verdeutlicht, dass psychische Gesundheit ein Systemzustand ist, der in der Mitte einer Skala anzusiedeln ist und nicht an ihrem Ende. Psychische Erkrankung kann sich in zwei komplett verschiedenen Dimensionen entfalten.

Dies zu erkennen bedeutet, Patienten mitunter jahrelange therapeutische Experimente und (gar das Problem verschlimmernde) Leidenswege zu ersparen, indem man sich darüber klar wird, in welcher Dimension der Skala (hohe vs. niedrige Geschlossenheit des Systems) sich ihre Problematik abspielt. Es wäre erfreulich, wenn eine systemtheoretisch inspirierte Psychiatrische Soziologie als Klinische Soziologie hierzu einen Beitrag leisten könnte.

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