Zur Evolution psychischer Systeme

Im Rahmen der soziologischen Systemtheorie wird die Position vertreten, mit dem Wandel von sogenannten segmentär differenzierten (Stammes-)Gesellschaften über die stratifizierte (Stände-) Gesellschaft hin zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaftsform habe sich eine Form der „Evolution des Sozialen“ vollzogen, im Zuge derer die Gesellschaft Strukturen herausgebildet habe, die es ihr ermöglichen, im Laufe der Weltgeschichte auf die mit technologischer Entwicklung etc. steigende Komplexität zu reagieren. Eine Position, die nicht unumstritten ist und zu der im makrosoziologischen Rahmen viel zu sagen ist und zu der auch bereits viel gesagt wurde.

Jedoch auch eine Position, die überleitet zu einer Fragestellung anderer Art: Geht mit einer wie auch immer gearteten sozialen Evolution und einer – und dies ist wohl die allgemein am ehesten akzeptierte Evolutionstheorie – biologischen Evolution nicht auch eine Evolution unseres psychischen Systems einher? Dieser Frage soll an dieser Stelle aus einer mikrosoziologischen und sozialpsychologischen Perspektive nachgegangen werden.

Eine Einschränkung gilt bei dieser ehrgeizigen Aufgabe, der in diesem Rahmen nur in Form einer sehr groben, feuilletonistischen Skizze nachgekommen werden kann, jedoch: Es kann hier nicht darum gehen, eine „Henne-oder-Ei“-Diskussion in Bezug auf Evolutionsformen aufzumachen. Jede These und jede Disziplin, die versucht uns weiszumachen, dass etwa die soziale Evolution ursächlich sei für die psychische oder andersrum, wäre eine zutiefst unterkomplexe Vereinfachung einer sozialen Dynamik, die nicht in einseitige Kausalketten gepresst werden kann. Agent-Struktur-Debatten bergen keine klaren Antworten. Hier ist es stets am vielversprechendsten, von einer gegenseitigen Beeinflussung verschiedener evolutionärer Prozessdimensionen auszugehen.

Spannender und sinniger dürfte es sein zu fragen, was eine Evolution unseres psychischen Systems ausmacht und worin diese sich zeigt. Doch zunächst eine Vorbemerkung zu der hiesigen Terminologie. Aus der Perspektive einer soziologisch inspirierten Sozialpsychologie folge ich hier einem eher ungewöhnlichen Gedankengang und übertrage die vom Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann entworfene Unterscheidung von System und Umwelt, die sich in dessen Systemtheorie traditionell auf die Ebenen von Gesellschaft, Organisation und Interaktion bezieht, auf die Ebene der Psyche.

Der Begriff des „psychischen Systems“ ist also in diesem Sinne zu verstehen: Er ist somit eine mikrosoziologische „Übersetzung“ des Terminus‘ der „Psyche“. Damit ist er explizit nicht mit dem auf den Psychologen Kurt Lewin zurückgehenden Begriff des „psychischen Spannungssystems“ gleichzusetzen, welcher, wollte man ihn in mikrosoziologische Terminologie übersetzen, eher für das (Spannungs-)Verhältnis zwischen psychischem System und sozialer Umwelt steht als für die Psyche selbst. Diese Hinweise gilt es im Vorhinein zu beachten, um potenzielle Missverständnisse zu vermeiden.

Nun zur zentralen Fragestellung: Was könnte eine Evolution psychischer Systeme ausmachen?

Die moderne Sozialpsychologie differenziert bei der Untersuchung und Ergründung menschlichen Verhaltens zwischen Dispositions- und Situationshypothese (die klinische Psychologie unternimmt diese Differenzierung speziell bei der Ursachenforschung zu psychischen Erkrankungen). Die Dispositionshypothese besagt, dass die Ursachen für mögliches (Fehl-)Verhalten in den persönlichen Eigenschaften und charakterlichen Merkmalen (sog. Persönlichkeitsdispositionen) des Betreffenden zugrunde liegen. Dieser These hat die Sozialpsychologie die Situationshypothese gegenüber gestellt, die (Fehl-)Verhalten als durch Dynamiken einer bestimmten sozialen Situation verursacht ansieht.

Ein beliebtes Beispiel zur plastischen Erläuterung dieser Unterscheidung ist die Hannah-Arendt-These von der „Banalität des Bösen“, die sie als Beobachterin des israelischen Prozesses gegen den NS-Funktionär Adolf Eichmann entwickelt hat und die davon ausgeht, dass Massenmörder nicht zwingend abartige, sadistische Bestien sind, sondern mitunter völlig normale Menschen mit teilweise zutiefst biederem Naturell. Bis heute jedoch spricht die allgemein übliche Alltagszurechnung eine andere Sprache: Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise verhalten – sei es aus allgemeiner Sicht falsch, sei es richtig – werden stetig mit der Zurechnung von dementsprechend positiven oder negativen Persönlichkeitsdispositionen konfrontiert. Wer sich in einem bestimmten Kontext richtig verhält, der gilt bspw. als großzügig, mutig oder moralisch gut, wer dies nicht tut, etwa als kalt, sadistisch oder moralisch böse.

Sowohl in Alltagssituationen als aber auch etwa in politischen Zusammenhängen führt dies mitunter allzu schnell zu einer Art laienhaftem „Psychologisieren“, das in der Unterstellung von allen möglichen positiven oder negativen Bewusstseinszuständen und am Ende womöglich gar in moralischen Urteilen mündet. Oftmals sind es diese Urteile, die in der Folge einen Konflikt erst provozieren oder aufleben lassen: Auf Kritik an politischem Handeln wird mit Hass-Unterstellungen und laienhaftem Psychologisieren geantwortet, was die Grundlage für Emotionalisierung und ähnlich geartete Reaktionen schafft und dadurch Aggression und Konflikt unvermeidlich werden lässt.

Interaktionsbeziehungen und Kommunikationen, in denen dies nicht geschieht, sind oftmals von Sachlichkeit, Verständnis und differenziertem Denken geprägt. Doch was heißt das eigentlich übersetzt in unsere hiesige, vertiefende Terminologie?

An diesem Punkt kommt nun das Einbeziehen der Situationshypothese im Alltagsdenken ins Spiel, was gewährleistet wird durch das, was man als Soziologe als Beobachtung zweiter Ordnung oder in eher psychologischer Terminologie als Empathie bezeichnen würde. Die Situationshypothese postuliert die Annahme, dass Verhalten durch den mittelbaren oder unmittelbaren situativen Kontext beeinflusst werden kann: Dazu zählen etwa soziale Rollen, kulturelle Institutionen, allgemein gültige Normen oder auch mehr oder weniger zufällige Gegebenheiten in kurzfristigen, vielleicht gar spontanen Interaktionen.

Die Situationshypothese – als präferierte Grundannahme von Sozialpsychologen – „entmoralisiert“ dadurch zugleich die von uns vorgenommenen Zurechnungen. Personen werden nicht mehr automatisch aufgrund ihres Verhaltens in moralische, gute oder böse Kategorien gepresst, sondern es wird einkalkuliert, dass ihr Handeln determiniert sein mag durch andere, dem Beobachter womöglich unbekannte Faktoren, deren Ergründung nicht automatisch möglich ist. Die Vorweg-Annahme eines solchen spezifischen Nichtwissens verhindert dadurch pauschale Vorverurteilung (oder auch pauschale Vorschusslorbeeren!) und ermöglicht dadurch eine sachliche, unvoreingenommene Herangehensweise.

Eine solche Herangehensweise von der professionellen Ebene der Soziologie bzw. der Sozialpsychologie auf unser Alltagshandeln zu übertragen, ist nicht einfach, aber erstrebenswert. Empathie bzw. Beobachtung zweiter Ordnung ist hierfür die Grundbedingung. Die im Volksmund gebräuchliche, damit in direktem Zusammenhang stehende Formulierung des „sich in jemanden Hineinversetzens“ ist dabei missverständlich, da sie in der wortwörtlichen Interpretation notwendige telepathische Fähigkeiten suggeriert. Doch so viel braucht es nicht. Vielmehr geht es um die Fähigkeit des „Beobachtens, wie andere beobachten“, also das Erkennen und Einbeziehen der Tatsache, dass es soziale Bedingungen gibt, die einen anderen zu einem bestimmten Handeln veranlassen könnten. Und, nicht zuletzt, dies auch immer einhergehend mit dem „Beobachten, wie man selbst beobachtet“, mit anderen Worten: Selbstreflexion. Selbstreflexion und Empathie sind vor diesem Hintergrund lediglich zwei Seiten einer Medaille, die Beobachtung zweiter Ordnung heißt. Diese Medaille ist es, die differenziertes Denken und dadurch auch Konfliktfähigkeit und soziale Integrationsfähigkeit gewährleistet.

Und diese Medaille ist es zugleich, die das auszumachen vermag, was ich an dieser Stelle als „Evolution des psychischen Systems“ verstanden wissen möchte. Die Evolution der Psyche kommt in der Projizierung der sozialpsychologischen Situationshypothese auf den Prozess unserer sozialen Alltagszurechnungen zum Ausdruck: Beobachtung zweiter Ordnung – die Fähigkeit zu Selbstreflexion (innere Dimension) und Empathie (äußere Dimension) – und im Übrigen auch das erstmalige analytische Erfassen dieses Vorgangs durch die Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert sind das primäre Indiz für das Auftreten psychischer Evolution.

Ein Vorgang, der im positiven Sinne – wie paradox! – zu einer Entmoralisierung unseres Denkens führen muss, welches gerade durch das Ende automatisch zugerechneter Persönlichkeitsdispositionen zu einem Ende des unterkomplexen, durch einen primitiven Gut-Böse-Dualismus geprägten Schwarz-Weiß-Denkens führen muss. Hierdurch wird zugleich – und dies ist das wahrhaft evolutionäre Element einer solchen Entwicklung – die Fähigkeit des psychischen Systems geschärft, mit sozialen Situationen, die Konfliktpotenzial bergen, so umzugehen, dass es Schaden vermeidet, sowohl für sich selbst als auch dadurch mittelbar für die soziale Umwelt. Eigene und äußere Komplexität wird anerkannt, akzeptiert und nicht mehr zwingend reduziert.

Inwieweit das Vermitteln eines solchen, psychisch-evolutionär fortgeschrittenen Bewusstseins gewissermaßen „kybernetisch“ möglich, also auf der Makro-Ebene politisch und auf der Mikro-Ebene therapeutisch steuerbar möglich ist, vermag an dieser Stelle (noch) nicht zufriedenstellend beantwortet zu werden. In jedem Fall birgt sein Erkennen jedoch die Motivation, diesen Prozessen aufgeschlossen weiter nachzugehen – und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung zu erforschen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die plötzlich Verhärmte

„Christliches“ Abendland?

Zwischen Distanzeritis und Dämonisierung